Online ohne Ende
E-Mails schreiben, Fotos teilen, eine Wohnung suchen, einen Flug buchen – das Internet hat vieles in unserem Alltagsleben erleichtert. Für die meisten ist das World Wide Web ein nützliches Werkzeug, sei es beruflich oder privat. Doch manche Menschen verlagern ihre komplette Existenz in den virtuellen Raum. Sie erfahren dort die Kontakte und Anerkennung, die sie im realen Leben nicht finden – sei es in Chatrooms oder Online-Rollenspielen wie „World Of Warcraft“.
„Neben allen Vorteilen, die das Internet für unsere Arbeitswelt und Freizeit bietet, birgt es auch Risiken“, sagte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans (FDP), auf ihrer Jahrestagung. Insgesamt 560 000 Menschen in Deutschland gelten als onlineabhängig, weitere 2,5 Millionen nutzen das Internet auf problematische Weise.
Männlich, arbeitslos, ledig, mit Migrationshintergrund – treffen all diese Merkmale auf eine Person zu, ist sie nach Expertenmeinung besonders anfällig für eine Internet- beziehungsweise Online-Computerspielsucht. Laut der repräsentativen Pinta-Studie sind Männer mehr als doppelt so häufig abhängig wie Frauen. Als Lediger oder Arbeitsloser ist das Risiko für eine Sucht fast verdreifacht, als Migrant sogar vervierfacht.
Unter Fachleuten war allerdings lange Zeit umstritten, ob ein übermäßiger Internetgebrauch beziehungsweise exzessives Online-Gaming überhaupt als Abhängigkeit zu bezeichnen ist. Auf der Jahrestagung der Drogenbeauftragten sprachen sich die anwesenden Experten jedoch für eine Anerkennung der Onlinesucht aus – nicht zuletzt, um den Betroffenen bessere Hilfsangebote machen zu können. Die Drogenbeauftragte sieht für ein offizielle Anerkennung der Onlinesucht als Krankheitsbild die Ärzteschaft in der Pflicht. „Damit eine spezifische Behandlung erfolgen kann, muss diese Frage von den zuständigen medizinischen Fachgesellschaften geklärt werden“, sagte Dyckmans.
Vor allem Jugendliche im Pubertätsalter sind anfällig dafür, sich komplett in virtuelle Welten zu flüchten, heißt es im aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung. Allerdings nutzen sie je nach Geschlecht das Netz unterschiedlich. Während Jungen hauptsächlich bei Online-Games hängen bleiben, nutzen Mädchen vor allem Chats und soziale Netzwerke wie „Facebook“.
Die Kontrolle verloren
Nicht jeder, der längere Zeit vor dem Bildschirm verbringt, wird gleich abhängig. Problematisch wird es erst, wenn das Verhalten nicht mehr kontrolliert werden kann und wichtige Lebensbereiche unter den Onlineaktivitäten leiden. Internet- und Computerspielesüchtige verlieren laut des österreichischen Drogenkoordinators Dr. Franz Pietsch oft das Interesse an sozialen Kontakten, setzen ihren Arbeitsplatz aufs Spiel und riskieren den Verlust ihres Partners. Onlinesucht geht häufig mit anderen psychischen Erkrankungen einher. Nach Angaben des Suchtmediziners Dr. Bert te Wildt von der Universitätsklinik Bochum sind Depressionen und soziophobe Störungen die häufigsten Komorbiditäten. Über diese Erkrankungen werden die Betroffenen wegen der fehlenden Anerkennung des Krankheitsbildes Onlinesucht in der Regel auch psychiatrisch und medizinisch versorgt.
Pietsch weist zudem auf körperliche Schäden in Folge der Onlinesucht hin. Rücken- und Kopfschmerzen durch zu viel Sitzen oder häufig irreparable Sehschwächen seien hier Beispiele. Zudem sei die Abhängigkeit eng verknüpft mit chronischen Krankheiten wie Adipositas. Auch der Missbrauch von legalen Drogen wie Alkohol oder Nikotin kommt vor.
Im Vergleich zu anderen Süchten löse Online-Sucht nicht so schnell einen physischen oder finanziellen Schaden aus, sie könne aber trotzdem in der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen, wie etwa in der sozialen Isolierung, enden, sagte Pietsch.
Regierung will mehr helfen
Laut des Drogenberichts verzeichnen Suchtberatungsstellen eine steigende Nachfrage, diese Störung zu behandeln. Deshalb will die Bundesregierung die Medienkompetenz von Kindern stärken. In der Nationalen Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik wird die Fortbildung und Qualifizierung von Lehrern als Maßnahme genannt. Zudem sollen die Hilfsangebote für Internet- und Computerspielabhängige ausgebaut werden. „Präventionsmaßnahmen und Behandlungsangebote müssen verstärkt werden und sich auf die Gruppen ausrichten, die von einer exzessiven Internetnutzung besonders betroffen sind“, sagte die Drogenbeauftragte.
Als Vorbild könnte das Bundesmodellprojekt „ESCapade“ dienen, das es bisher in fünf Städten (Berlin, Köln, Freising, Lörrach, Schwerin) gibt und auf der Tagung vorgestellt wurde. In dem familienorientierten Programm sollen die Internet-Nutzungszeit der Jugendlichen, die Probleme mit Familie, Freunden, in Schule und Ausbildung, aber auch die gesundheitlichen Belastungen reduziert werden. Erfolge konnte das Projekt, das auf intensiven Einzel- und Familiengesprächen beruht, vor allem in zwei Bereichen verzeichnen. Die Teilnehmer berichteten nach den Gesprächen von weniger Problemen mit Familie und Freunden und einem verbesserten Gesundheitszustand. „Die Ergebnisse von „ESCapade“ bestätigen, dass Familien, insbesondere Eltern eine große Bedeutung haben und erfolgreich Einfluss nehmen können, damit eine Abhängigkeit gar nicht erst entsteht“, sagte Dyckmans. „Eltern haben die Verantwortung, hinzuzulernen und sich mit dem Internet zu beschäftigen, um dessen Gefahren realistisch einschätzen zu können. Aber auch die Anbieter von Computerspielen oder sozialen Netzwerken sind in der Pflicht, indem sie ihre Nutzer über die Risiken aufklären.“eb
INFO
Informationen und Tipps insbesondere für Eltern finden sich auf folgenden Webseiten:
•www.aktiv-gegen-mediensucht.de•www.klicksafe.de•www.fragFINN.de•www.schau-hin.info
INFO
Im Jahr 2010 entwickelte der Suchtmediziner Ran Tao von der Universität Peking zusammen mit Kollegen acht Kriterien, an denen sich eine Internetsucht erkennen lässt. Diese dienen als Grundlage für die Überarbeitung der fünften Ausgabe des Katalogs für psychische Störungen (DSM-5), der im Mai 2013 erscheinen soll:
• fast ausschließliche Beschäftigung mit Internetaktivitäten• Entzugserscheinungen ohne Internet• Toleranzentwicklung• gescheiterte Versuche der Konsumeinschränkung• Weiternutzung trotz Wissen um die negativen Folgen• Verlust von anderen Interessen• Nutzung zum Ausgleich von negativen Gefühlen• Täuschung von Freunden und Familie