Dialog der Generationen
Ziel des Europäischen Jahres ist es, den Weg hin zu einer „Kultur des aktiven Alterns“ in Europa zu ebnen. Grundlage dafür soll eine durch alle Altersgruppen geprägte Gesellschaft sein. Die EU-Mitgliedstaaten, ihre regionalen und lokalen Behörden, die Sozialpartner, die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft sind angehalten, ein aktives Altern zu fördern und mehr zu unternehmen, um das Potenzial der – rasch wachsenden – Bevölkerungsgruppe der Menschen im Alter von Ende 50 und älter zu mobilisieren.
Unter Federführung des Bundesfamilienministeriums wurde in Deutschland ein nationales Arbeitsprogramm zur Umsetzung des Europäischen Jahres in Deutschland aufgesetzt. Zur organisatorischen Unterstützung der nationalen Koordinierungsstelle ist eine Geschäftsstelle eingerichtet worden, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) und der Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V. getragen wird. Bundesweit werden 45 Projekte gefördert – darunter die Bertelsmann Stiftung, der Deutsche Leichtathletik-Verband, das Diakonische Werk oder die Gesundheitsstadt Berlin GmbH. Insgesamt wurden mehr als 300 Projektanträge eingereicht.
Auf der Auftaktveranstaltung zum Themenjahr sagte Prof. Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, in Berlin. „Wenn der Mensch zu der Überzeugung gelangt, dass er sein Leben nicht mehr selbst gestalten kann, dass er mit Blick auf seine Lebensführung nicht mehr schöpferisch sein kann, dann besteht auch die Gefahr, dass die selbstbestimmte Aktivität – und dies im Sinne des aktiven Alterns – mehr und mehr zurückgeht.“ Er hob auch auf die Frage der Generativität ab – verstanden als das Handeln in Beziehungen zu den nachfolgenden Generationen. Dafür müssten allerdings die entsprechenden Gelegenheitsstrukturen gegeben sein, „damit Menschen das Motiv der Generativität verwirklichen können“. Die Verwirklichung und die Weiterentwicklung solcher Gelegenheitsstrukturen sieht er als einen großen gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag. Kruse: „Dies [...] gefällt mir übrigens so gut an der BAGSO, die mit Blick auf gesellschaftliches und politisches Handeln diesen Zusammenhang so klar herausarbeitet.“ Gerade diese Überlegung bilde auch den „cantus firmus“, also das Leitmotiv der Altenberichte, vor allem des Fünften und des Sechsten Altenberichts, die die Selbstgestaltung des Individuums – als Ausdruck der Selbstsorge – und die Mitverantwortung des Individuums grundsätzlich im Kontext entsprechender gesellschaftlicher und kultureller Strukturen betrachten würden.
Inwieweit es Solidarität innerhalb und zwischen den Generationen gibt, beleuchtete Prof. Pasqualina Perrig-Chiello von der Universität Bern. „Familiäre Solidarität hat Grenzen“, lautete ihre These. Wenig Geburten und Langlebigkeit führten zu mehr „Bohnenstangen-Familien“. Damit laste die informelle Pflege zunehmend auf einem Kind – dieses sei jedoch zunehmend beruflich eingespannt. Zudem steige der Anteil an alten Personen ohne Nachkommen. Daher würde inter- und intragenerationelle Solidarität jenseits der Familie immer wichtiger, denn familiale Beziehungen würden mittelfristig durch außerfamiliale Beziehungen (Freundschaften, Nachbarschaften) ergänzt. Wahlverwandtschaften und intragenerationelle Hilfe nach dem Prinzip „Senioren helfen Senioren“ werden aus Sicht der Wissenschaftlerin eine größer werdende Rolle spielen. Der Ausbau der Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Freiwillige sei aber nur dann realistisch, wenn parallel dazu auch die professionellen Angebote auf die Bedürfnisse adaptiert und ausgebaut würden. Trotz des viel beschworenen Generationenkriegs bestehe sehr wohl eine Bereitschaft zur Solidarität – insbesondere im familialen Verbund – jedoch mit Abweichungen von der Norm. Perrig-Chiello: „Nicht alle familialen Beziehungen sind von Solidarität geprägt. Die Differenzen sind vor allem in den unterschiedlichen Ressourcen zu suchen. Empirische Befunde weisen auf ein Matthäus-Prinzip hin: Wer hat, dem wird gegeben.“ Ressourcenstarke Familien (finanziell, sozial, psychisch, physisch, kognitiv) hätten nachweislich die besseren Voraussetzungen.
Fazit: Im Sinne einer Gesellschaft für alle Generationen sei es zielführend, bei der Konzeption von Projekten folgende Aspekte zu berücksichtigen:
• Generationendifferenzen und -identitäten thematisieren und respektieren
• Generationenvielfalt nutzen
• Mitbestimmung aller beteiligten Generationen
• Ungleiche Ressourcen thematisieren statt die Altersunterschiede
• Generativität leben
Das ganze Jahr über finden bundesweit Veranstaltungen zum Themenjahr statt, die in einem Kalender beziehungsweise in einer Projektübersicht aufwww.ej2012.deabgerufen werden können. Interessierte Träger haben die Möglichkeit, dort ihr Projekt einzustellen. Ein kostenloser Newsletter kann abonniert werden. Für Dezember diesen Jahres ist eine resümierende Abschlussveranstaltung angekündigt. sf
Geschäftsstelle Europäisches Jahr 2012c/o BAGSO e.V.Bonngasse 1053111 Bonninfo@ej2012.de
INFO
Generativität
Der Begriff Generativität geht zurück auf den deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik H. Erikson und sein Modell der psychosozialen Ich-Entwicklung. Danach ist jedes Alter geprägt durch eine diesen Lebensabschnitt bestimmende Entwicklungsstufe. Für reife Erwachsene (Menschen von ~30 bis 60 Jahren) geht es um die Frage, ob man sich künftigen Generationen öffnet, indem man fürsorglich sein Wissen und seine Erfahrungen weitergibt, oder ob man auf sich selbst fixiert bleibt. Die Wertevermittlung an die eigenen Kinder, aber auch allgemeiner über soziales Engagement oder auch im Unterricht nennt Erikson Generativität.