Physiologie des Alterns
Der Alterungsprozess des Menschen ist mit Veränderungen auf unterschiedlichen Organ- und Zellebenen verbunden. Das Zusammenspiel dieser Veränderungen begünstigt die Entstehung verschiedener parallel auftretender Erkrankungen. Die Akkumulation dieser unterschiedlichen Erkrankungen im Rahmen der Multimorbidität begünstigt wiederum den funktionellen Abbau und die sekundäre Entwicklung von Behinderungen bei den Betroffenen.
Dies bedeutet auch, dass im Umgang mit älteren, multimorbiden Patienten bei den behandelnden Ärzten das Bewusstsein für die geringen Adaptationsmöglichkeiten des alternden Organismus und die damit verbundene Vulnerabilität, auch gegenüber kleinen Veränderungen, immer im Zentrum ärztlicher Entscheidungen stehen sollte.
Alterungstheorien
Unzählige Alterungstheorien sind bis heute in der Fachliteratur publiziert. Insgesamt spiegeln alle diese Theorien eine komplexe multifaktorielle Genese der Alterungsprozesse wieder. Alle vorliegenden Arbeiten beleuchten Einzelteile eines Gesamtprozesses. Es handelt sich bei den bisher vorliegenden Hypothesen um folgende Modelle: „Programmhypothesen“, „FehlerTheorien“ oder Kombinationen aus beiden [Semsei I., 2000]. Alle Modelle gehen aber davon aus, dass ein uniformer Auslöser oder eine uniforme Programmierung für den Alterungsprozess bei allen Individuen in vergleichbarer Weise verantwortlich sein muss. Tatsächlich scheinen alle Individuen in der Natur nach ähnlichen Mechanismen zu altern, obwohl sie letztendlich aufgrund unterschiedlicher Ursachen versterben. Innerhalb eines bestimmten Organismus altern nicht alle Körper- oder Geweberegionen gleichmäßig. Erreichen manche Teile den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit, können andere Regionen bereits vom Alterungsprozess betroffen sein [Vinsze J., 1977]. Sowohl intrinsische wie auch extrinsische Faktoren können zu einer Modulation von Alterungsprozessen führen. Prinzipiell können intrinsische Faktoren nach der Lokalisation von Einflussfaktoren im Zellsystem geordnet werden. Sie können sich auf der Membranebene, im intrazellulären Medium, in den Organellen oder in der genetischen Verankerung befinden und durch die Beeinflussung elementarer Schaltmechanismen zu beschleunigten Alterungsvorgängen führen [Johnson FB., Sinclair DA., Guarente L., 1999].
Bei extrinsischen Faktoren können unterschiedliche Gruppen von Auslösern für den individuellen Alterungsprozess unterschieden werden:
• Auf der Mikroebene sind es die Gravitation und externe Bestrahlungen,
• auf der Makroebene vor allem verschiedene Umweltfaktoren, wie anorganische und organische Substanzen, die unser Leben und unsere Existenz prägen.
Verbrauchstoffe wie Eiweiß, Vitamine, Wasser, Luft, aber auch nicht verwertbare Stoffe wie toxische Materialien, Mikroorganismen und Isotope ergänzen dieses Spektrum.
Die wichtigsten biologischen Faktoren, die mit der Lebenserwartung korrelieren, sind die individuellen Fähigkeiten, sich vor aggressiven Stoffwechselprodukten wie zum Beispiel freien Sauerstoffradikalen zu schützen und damit den genetischen Code stabil zu halten, Fehler in der Codierung zu erkennen und zu reparieren, aber auch toxische oder beschädigte Bestandteile zu reparieren oder zu entfernen [Semsei I., 2000]. Auf den Punkt gebracht: Das Altern ist die Balance zwischen dem Zelltod und verschiedenen Regenerationsprozessen von Zellen.
Alterung einzelner Organsysteme
Die augenscheinlichsten Veränderungen, die mit dem Alterungsprozess einhergehen, betreffen die Körperzusammensetzung. Mit fortschreitendem Lebensalter kommt es zu einer relativen Zunahme an Körperfett und einer prozentuellen Abnahme an Körpereiweiß [Doherty TJ., 2003]. Dabei reduziert sich die Gesamteiweißmasse um fast 35 Prozent. Die Abnahme betrifft sowohl die Muskulatur wie auch die Organe. Das Gesamtkörperwasser reduziert sich um 28 Prozent, die Fettmasse nimmt um 35 Prozent zu. Auch das Bindegewebe unterliegt strukturellen Veränderungen. Die Größe wie auch die Anzahl der Kollagenfasern und ihre Quervernetzungen im Bindegewebe nehmen zu. Damit wird das Gewebe rigider und weniger flexibel. Gelenksknorpel verlieren Wasser und damit an Elastizität. Darüberhinaus neigen diese Strukturen zu Verkalkungen.
Durchschnittlich nimmt die Knochensubstanz jährlich um etwa 0,5 bis 1,0 Prozent ab [Pietschmann P., Rauner M., Sipos W., Kerschan-Schindl K., 2009]. Die Veränderungen am Knochen zeigen deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Insgesamtkann man sagen, dass der Verlust an Kalzium im Knochen bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Erreichen Frauen die Menopause, beschleunigt sich dieser Prozess drastisch im Vergleich zu Männern. Bei Männern beginnt dieser Umbau um das 50. Lebensjahr, bei Frauen mit Eintritt der Menopause. Dieser Prozess ist einerseits auf Veränderungen bei den zirkulierenden Spiegeln von Vitamin D zurückzuführen, andererseits ist er Ausdruck einer generell erhöhten Entzündungsreaktion, die mit fortschreitendem Lebensalter in Gang kommt(„Inflamm-Aging“). Dieses Phänomen basiert auf der klinischen Beobachtung, dass periphere mononukleare Blutzellen alternder Menschen mehr an proinflammatorischen Zytokinen exprimieren, als dies bei jungen Menschen der Fall ist [Fagiolo U., Cossarizza A., Scala E., Fanales-Belasio E., Ortolani C., Cozzi E., Monti D., Franceschi C., Paganelli R., 1993]. Ausgehend von dieser Situation gibt es heute unzählige Studien und Daten, die einen Zusammenhang zwischen dem klinischen Alterungsprozess und dieser generalisierten Immunantwort von Menschen belegen [Beenakker KG., Ling CH., Meskers CG., de Craen AJ., Stijnen T., Westendorp RG., Maier AB, 2010]. Neben dem Nachweis der systemisch erhöhten Entzündungskomponente gelang es auch, deren genetische Verankerung nachzuweisen [Yao X., Li H., Leng SX., 2011]. Die Steuerung der Zytokinfreisetzung aus Makrophagen erfolgt durch Östrogene [Kramer PR., Kramer SF., Guan G., 2011]. Auch Testosteron spielt im Aktivierungsprozess eine wesentliche Rolle. Der Release von Zytokinen führt über eine Hemmung des NF-B-Systems, verbunden mit einer Aktivierung des Ubiquitin-Proteasesystems, zu einem Verlust an Knochensubstanz, an Muskelmasse [Glotzer M., Murray AW., Kirschner MW., 1991] und insgesamt zu einer Schwächung des Immunsystems [Tracy RP, 2003]. In weiterer Folge kommt es über eine Knochenmarksdepression zu einer Anämie [Stenvinkel P., Heimbürger O., Lindholm B., Kaysen GA, Bergström J, 2000].
Hormonwirkungen
Geschlechtsspezifische Unterschiede in diesem Prozess ergeben sich durch den Einfluss unterschiedlicher Hormone auf die beschriebenen Veränderungen. Die Östrogenspiegel sinken mit der Menopause ab. Ebenso verhält es sich mit Wachstumshormonen, dem Testosteron und dem Dehydroepiandrosteronsulfat (DHEA).
Die Auswirkung dieser Veränderungen auf einzelne Organsysteme ist nachgewiesen. Östrogenmangel führt zu einer Hautatrophie und Faltenbildung, zu arteriosklerotischen Veränderungen, beziehungsweise begünstigt die Entstehung einer Osteoporose und beschleunigt den kognitiven Abbau. Wachstumshormone, Testosteron und DHEA scheinen einen wesentlichen Einfluss auf die Hauttextur, die Veränderungen der Muskelmasse, aber auch auf die Knochendichte zu haben [Johnson FB., Sinclair DA., Guarente L., 1999]. Inwieweit diese Regulationsmechanismen Einfluss auf den zellulären Alterungsmechanismus haben, ist derzeit Gegenstand intensiver Forschungen.
Es bestehen Hinweise dafür, dass hormonelle Veränderungen auch Trigger für Altersveränderungen an Organsystemen darstellen.
Die Niere
Ein zentrales Organ im Alterungsprozess ist die Niere [Roller-Wirnsberger R., 2008]. Ab dem 40. Lebensjahr nimmt der renale Blutfluss kontinuierlich ab (von 1 200 ml/Minute auf 600 ml/Minute), ohne dass es zu einer Änderung der gemessenen Nierenfunktionsparameter wie Kreatinin und Harnstoff im Serum kommt. Die Basis dieser Veränderung ist eine kontinuierliche Abnahme des renovaskulären Gefäßbetts, die vor allem in der Nierenrinde in Form einer Glomerulosklerose nachweisbar ist. Im hohen Alter hat die menschliche Niere bereits ein Viertel ihrer Masse verloren. Die Zahl der sklerosierten Glomeruli nimmt zu, die funktionstüchtigen Glomeruli weisen oftmals eine Verdickung der Basalmembran, eine Vermehrung der mesangialen Matrix und eine Verschmelzung der Podozytenfortsätze auf. Konsekutiv nimmt infolge einer (reversiblen) Inaktivitätsatrophie die Anzahl der funktionstüchtigen Tubuli ab, wobei das umgebende Interstitium sekundär fibrosiert. An den großen Nierengefäßen erscheint die Intima verdickt, es kommt zu einem Schwund der Tunica media. Die wichtigste funktionelle Folge dieser morphologischen Veränderungen ist, infolge des insgesamt erhöhten peripheren Gefäßwiderstands, ein herabgesetzter renaler Plasmafluss. Im Bevölkerungsdurchschnitt beobachtet man mit zunehmendem Alter eine Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR), die allerdings nur bei zwei Dritteln aller alten Menschen nachgewiesen werden kann. Die alternde Niere ist auch nicht mehr in der Lage, den Urin zu konzentrieren sowie entsprechende Mengen von Ammonium Ionen für die tubuläre H+-Ionensekretion zu bilden. Das bedingt eine Tendenz zur Entwicklung einer metabolischen Azidose. Diese physiologischen Prozesse sind bei jeder pharmakologischen Therapie bei älteren Patienten unbedingt zu beachten. Insbesondere bei Mehrfachverordnungen kann die eingeschränkte renale Reserve zu einer Akkumulation von Medikamenten und unerwünschten Nebenwirkungen führen. Bei einer bereits bestehenden Herzinsuffizienz ist mit einer weiter zunehmenden Einschränkung der Nierenfunktion zu rechnen. So kann in dieser klinischen Konstellation die Fähigkeit der Nieren zur Harnkonzentration und zur tubulären Sekretion um weitere 50 Prozent reduziert sein.
Das Herz
Das Herz selbst unterliegt ebenfalls altersassoziierten Veränderungen, die klar von pathologischen Veränderungen abgegrenzt werden können. Der Kollagengehalt nimmt auch im Herzmuskelgewebe, vor allem epikardial und endokardial, mit fortschreitendem Lebensalter zu. Damit kommt es zu einer Verdickung der Herzwand, die steifer und damit weniger anpassungsfähig gegenüber veränderten Volumen- und Druckverhältnissen wird. Damit steigen auch die Zeiten für die Kontraktion und die Entspannung der Herzmuskulatur, die Zeit für die diastolische Füllung verlängert sich. Ebenso verzögert sich die Reizleitung am Herzmuskel, die Reizauslösung am Sinusknoten wird langsamer. Dies macht das Herz insgesamt weniger anpassungsfähig gegenüber kurzfristigen Bedarfsänderungen. Man kann annehmen, dass die Herzleistung zwischen dem 20. und dem 80 Lebensjahr um 0,5 bis 1 Prozent pro Lebensjahr abnimmt. Die Gefäßwände versteifen sich nach einem ähnlichen Prinzip wie an allen bisher beschriebenen Strukturen. Die Folge ist ein kontinuierlicher Anstieg des systolischen und des diastolischen Blutdrucks. Insgesamt sinkt die Anpassungsfähigkeit des kardiovaskulären Systems in Stresssituationen. Veränderungen des systemischen Blutdrucks ist ärztlicherseits besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Vor allem ausgeprägt niedrige diastolische Blutdruckwerte signalisieren eine herabgesetzte „quo ad vitam Prognose“ der Betroffenen. Hohe systolische Blutdruckwerte erhöhen während Behandlungen das Nachblutungsrisiko.
Zusammenfassung
Obwohl viele der genannten Veränderungen letztendlich genetisch vorprogrammiert und damit nicht verhinderbar sind, können eine gute medizinische Betreuung sowie ein gesunder Lebensstil wesentlich zu einem Altern mit guter Lebensqualität beitragen. Insbesondere dem Verlust an Muskelmasse kann effektiv entgegengewirkt werden. Eine ausgewogene Ernährung, mit Erhöhung des Anteils an Proteinen für betagte Patienten, kann in Verbindung mit Widerstands-, aber auch Ausdauertraining nachweislich dem Abbau von Muskulatur entgegenwirken [Scott D., Blizzard L., Fell J., Jones G., 2011].
Die optimierte Betreuung multimorbider Patienten mit einem holistischen Management der chronischen Erkrankungen ist Kernpunkt der Aufrechterhaltung von Funktionalität, Autonomie und Selbstbestimmung der Betroffenen. In der zahnärztlichen Praxis sollte den angeführten physiologischen Altersveränderungen am Knochen wie an den Nieren und der Fähigkeit, eine Homöostase im Körper aufrechtzuhalten, Rechnung getragen werden. Dies betrifft nicht nur die durchgeführten zahnärztlichen Eingriffe per se, sondern auch alle pharmakologischen Interventionen bei dieser Patientenklientel. Informationen darüber sollten jedenfalls immer an den Hausarzt weitergegeben werden. Die eingeschränkte Reservekapazität der Betroffenen und damit die Anfälligkeit gegen unerwünschte Reaktionen nach Interventionen erfordert eine Kontinuität in der Betreuung und das Schließen von Nahtstellen in unserem Gesundheitssystem.
Prof. Dr. Regina Roller-Wirnsberger
Professur für Geriatrie und kompetenzbasierte Curriculumsentwicklung
Universitätsklinik für Innere Medizin
Auenbruggerplatz 15
8036 Graz
Regina.Roller-Wirnsberger@medunigraz.at
Prof. Dr. Regina Roller-Wirnsberger
Fachärztin für Innere Medizin, Fachärztin für Angiologie, Fachärztin für Geriatrie, „Master of Medical Education“ der Universität Heidelberg
Lehrerfahrung: Leitung und Lehrbeauftragte im Fachbereich Geriatrie an der Medizinischen Universität Graz, Leitung im Bereich der Curriculumsentwicklung Humanmedizin in Graz, Betreuerin des Lehrgangs „Master of Medical Education“ in Heidelberg, Stellvertretende Leitung und Dozentin des Lehrgangs „Master for Applied Nutrition Sciences” in Graz
Forschungsgebiete: Strukturplanung und Versorgungsforschung inklusive Gender-Aspekte, Frailty und Sarkopenie, Polypharmazie, Lehrforschung (Curriculumsentwicklung, Prüfungsmethodik)