Aneurysmatische Knochenzyste
Vinay V. Kumar, Peer Kämmerer, Christian Walter
Ein zwölfjähriger Patient stellte sich mit einer seit sechs Monaten bestehenden, progredienten Schwellung der Wange rechts in einer mund-, kiefer- und gesichtschirur- gischen Abteilung in Indien vor, in der er auch behandelt wurde (Abbildungen 1 und 2). Der Patient klagte über dumpfe Schmerzen, eine Verlegung des rechten Nasenloches und eine Lockerung der Zähne im ersten Quadranten.
In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine etwa 5 cm x 5 cm messende Raum- forderung, die neben der Verlegung der rechten Nasenhaupthöhle auch den Orbita-boden angehoben hatte. Doppelbildsehen hatte es nicht induziert. Intraoral imponierte eine Schwellung im Bereich des Gaumens, die zum einen über die Mittellinie hinausschritt und zum anderen sich über den Alveolarkamm nach vestibulär ausbreitete (Abbildung 3).
In der Computertomografie (Abbildung 4) war eine mit Weichgewebe und Flüssigkeit gefüllte Raumforderung im Bereich der rechten Kieferhöhle zu erkennen, die diese komplett ausfüllte. Nach medial war die knöcherne Begrenzung der Kieferhöhle partiell aufgelöst und die Raumforderung hatte Kontakt zum Nasenseptum. Nach lateral war die Kieferhöhlenwandung durch den Befund verdrängt, nach kaudal war der Alveolarkamm mit affektiert und nach cranial, wie klinisch vermutet, der Orbitaboden angehoben.
Nach Punktion ließ sich blutige Flüssigkeit aspirieren. Eine Probebiopsie ergab eine hämorrhagische fibrovaskuläre Zystenwand mit Trabekeln reaktiven Osteoids mit reichlich hämosiderin beladenen Makrophagen und multinukleären Riesenzellen, entsprechend den Merkmalen einer aneurysmatischen Knochenzyste (Abbildung 5).
Therapeutisch wurde aufgrund der Größe eine Hemimaxillektomie durchgeführt und der entstandene Defekt (Abbildung 6) primär mit einem mikrovaskulärem Beckenkammtransplantat (Abbildung 7) versorgt.
Der kleine Patient ist seit einem Jahr im Recall, ohne dass erneut Beschwerden aufgetreten seien. Einen Anhalt für ein Rezidiv gibt es nicht (Abbildung 8).
Diskussion
Die aneurysmatische Knochenzyste gehört zu den sogenannten Pseudozysten, das heißt zu den Zysten, die keine epitheliale Auskleidung besitzen. Nach der WHO wird die aneurysmatische Knochenzyste definiert als expansiv wachsende, osteolytische, häufig multilokuläre, blutgefüllte Läsion, die durch lockeres Bindegewebe septiert wird. Histologisch fällt neben zahlreiche Riesenzellen des Osteoklastentyps reaktiv neu gebildeter Faserknochen auf [Barnes L; Eveson JW; Reichart P; Sidransky D, 2005]. Die aneurysmatische Knochenzyste hat insgesamt eine Inzidenz von 0,14 auf eine Million [Leithner A; Windhager R; Lang S; Haas OA; Kainberger F; Kotz R, 1999], aber nur ein bis drei Prozent der Fälle liegen im Bereich der Kiefer, wobei der Unterkiefer deutlich häufiger betroffen ist als der Oberkiefer und hier wiederum die posterioren Areale [Barnes L; Eveson JW; Reichart P; Sidransky D, 2005]. Die meisten aneurysmatischen Knochenzysten werden in der zweiten Lebensdekade diagnostiziert, ein Auftreten der Erkrankung nach dem 30. Lebensjahr ist selten [Reichart P, Philipsen HP, 2004]. Eine Geschlechtsbevorzugung scheint nicht vorzuliegen.
Die genaue Ätiologie der aneurys-matischen Knochenzyste ist bis jetzt nicht bekannt. Diskutiert werden eine primäre als auch eine sekundäre Entstehung, das heißt eine Entwicklung aus vorbestehenden Veränderungen des Knochens, wie zum Beispiel einer fibrösen Dysplasie. Genetische Veränderungen an Chromosom 17 wurden bis jetzt nur in den Fällen beschrieben, in denen sich die aneurysma- tischen Knochenzysten nicht aus vorbestehenden Veränderungen entwickelt haben, so dass zwei verschiedene Varianten, eine neoplastische und eine nicht neoplastische bestehen könnten [Freyschmidt J; Ostertag H; Jundt G, 2010].
Klinisch liegt meist eine symptomlose Schwellung vor. Weitere Symptome können sein eine Malokklusion, Zahnverschiebungen und -lockerungen, ohne dass diese ihre Vitalität verlieren. Wurzelresorptionen können vorkommen. Im Fall des Vorliegens im Oberkiefer können ein Exopthalmus und Doppelbildsehen hinzukommen. Obstruktion des Nasenhaupt-ganges und Epistaxis sind selten [Barnes L; Eveson JW; Reichart P; Sidransky D, 2005].
Radiologisch liegt eine uni- oder häufiger multilokuläre Läsion vor, die seifenblasen- artig imponiert. Die meist radioluzente Läsion kann in zehn Prozent der Fälle auch ein gemischt radioluzent-radioopaques Muster annehmen [Barnes L, Eveson JW, Reichart P, Sidransky D, 2005]. Die Grenzen sind meist scharf umschrieben und können zu massiven Auftreibungen des Knochens führen, so dass die periphere Begrenzung besonders in der dreidimensionalen Dia-gnostik nur noch eine extrem dünne Neokortikalis aufweist.
Therapeutisch wird in der Regel eine sorg-fältige Kürettage beschrieben, auch Embolisationen wurden erfolgreich durchgeführt [Kumar VV, Malik NA, Kumar DB, 2009]. Rezidivraten werden durch dieses Vorgehen im Bereich von unter 20 Prozent angegeben, wobei die meisten Rezidive innerhalb des ersten Jahres auftreten, woraus sich die Notwendigkeit einer sorgfältigen Nachkontrolle erklärt [Freyschmidt J, Ostertag H, Jundt G, 2010; Reichart P, Philipsen HP, 2004]. In ausgedehnten Fällen werden auch Resektionen durchgeführt mit meist primärer Rekonstruktion.
Die Diagnose kann nur histologisch gestellt werden. Typische Differenzialdiagnosen sind das zentrale Riesenzellgranulom, aber auch maligne Tumore, wie das maligne fibröse Histiozytom oder ein matrixarmes Osteosarkom.
Unter Betrachtung des klinischen und des radiologischen Befunds gelingt in der Regel die richtige Diagnosestellung, wie auch in diesem Fall.
Dr. Vinay V. KumarM.R. Ambedkar Dental College and Hospital, Bangalore, Indien undKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieJohannes Gutenberg-Universität Mainz
Dr. Dr. Peer W. KämmererVisiting Assistant Professor, Harvard Medical School, Boston, USA undM.R. Ambedkar Dental College and Hospital,Bangalore, Indien und Klinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieJohannes Gutenberg-Universität Mainzpeer.krammerer@unimedizin-mainz.de
PD Dr. Dr. Christian WalterKlinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische OperationenUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität MainzAugustusplatz 255131 MainzWalter@mkg.klinik.uni-mainz.de
Tipps für die Praxis
• Die aneurysmatische Knochenzyste stellt sich als osteolytische Läsion dar, aus der sich bei Eröffnung meistens Blut entleert.
• Typisches Manifestationsalter für die aneurysmatische Knochenzyste ist die zweite Lebensdekade.
• Zur Abgrenzung gegenüber anderen Erkrankungen bedarf es der histologischen Sicherung der Diagnose.