Von jung bis steinalt – mit eigenen Zähnen
Mit 3 500 Zahnärztinnen und Zahnärzten war der diesjährige Wissenschaftskongress, der ein Teil des Deutschen Zahnärztetages ist, sehr gut besucht. Alle Vorträge beleuchteten das Generalthema „Altersgemäße Therapiekonzepte“ aus den verschiedenen Fachrichtungen – ein zahnmedizinisch interdisziplinärer Überblick. Denn die demografische Entwicklung der kommenden Jahre fordert dem Behandler eine völlig neue Therapiestrategie ab: die individualisierte interdisziplinäre Behandlungsplanung.
In den einzelnen Sektionen der unterschiedlichen Fachgebiete der Zahnmedizin wurde immer ein Thema unter dem Blickwinkel der individuellen Altersentwicklung und der damit verbundenen an sie angepassten Therapieform beleuchtet.
Der Kongress begann mit einem dramaturgischen Highlight: einem Film, einer Zeitreise über die Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems seit 1972 und prospektiv bis 2030. Im Zuge der Zeit haben sich rund 30 Reformen ergeben, aber die demografische Entwicklung der Bevölkerung wird diese nicht weiter mitmachen. So endet die Zeitreise letztendlich in einem „Aufstand der Alten“.
Vor diesem Einstieg diskutierte Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender, Bayreuth, die wirtschaftliche Vertretbarkeit von medizinischen Leistungen unter der Berücksichtigung aller gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Er forderte die Privatisierung der Krankenkassen und wünschte sich, dass die Kassen dem Kartellrecht unterstellt würden. Der Wirtschaftsexperte und Gesundheitsökonom prognostizierte „Die Finanzierung des Gesundheitsmarkts ist gefährdet, aber nicht aussichtslos!“, forderte die Zahnärzte auf „Nutzen Sie die Chancen, warten Sie nicht auf Lösungen aus der Politik, lösen Sie sich von der derzeitigen Zwangsjacke und machen Sie Ihre Visionen zur Realität“ und setzte obendrauf: „Raus aus der Gesetzlichen Krankenkasse!“. Nach diesem Einstieg, der nicht von allen Zuhörern im Saal mit Applaus begrüßt wurde, starteten die wissenschaftlichen Beiträge, die hier auszugsweise wiedergegeben werden.
Prof. Dr. Petra Ratka-Krüger, Freiburg, berichtete dass sich bereits im Kindesalter unterschiedliche Formen parodontaler Erkrankungen manifestieren können. Häufig beschränken sich diese Veränderungen auf die Gingiva und sind bei adäquater Therapie durchaus reversibel. Aber bei einer kleinen Gruppe dieser jungen Patienten ist der Zahnhalteapparat großflächig betroffen, und es ist bereits ein bindegewebiger Attachmentverlust eingetreten. Nicht selten sieht man im Röntgenbild einen Rückgang des Alveolarknochens. Die Referentin stellte Fälle vor, in denen durch einen Zufallsbefund noch vor dem Schulabschluss eine aggressive Parodontitis diagnostiziert werden konnte. Sie sprach die typische Symptomatik der lokalisierten aggressiven Parodontitis an, die vor allem an den ersten Molaren und mittleren Inzisivi auftritt sowie an mindestens zwei bleibenden Zähnen. Einer davon ist ein erster Molar, an all diesen Zähnen ist ein approximaler Attachmentverlust nachweisbar. Sie erinnerte im Gegensatz hierzu an die generalisierte aggressive Parodontitis, die durch einen generalisierten approximalen Attachmentverlust gekennzeichnet ist, und bei der mindestens drei Zähne (keine ersten Molaren oder mittleren Inzisivi) zusätzlich betroffen sind. Die Erkrankung verläuft schubweise.
Diabetes und Parodont
Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen, Bonn, präsentierte neueste Forschungserkenntnisse bezüglich der Assoziation zwischen Parodontitis und Diabetes und betonte, dass bezüglich des bidirektionalen Zusammenhangs beider Erkrankungen eine hohe Evidenz vorliegt.
Aufgrund der demografischen Altersentwicklung, der ansteigenden Prävalenz von Übergewicht und Adipositas sowie weiterer Risikofaktoren nimmt die Häufigkeit von zm 103, Nr. 23 A, 1.12.2013, (2894) Diabetes weiterhin zu. So prognostiziert die WHO, dass im Jahr 2030 weltweit 439 Millionen Menschen erkrankt sein werden [WHO, 2011].
Da wissenschaftliche Forschungen belegen können, dass ein gut eingestellter Diabetespatient weniger Parodontitis-gefährdet ist, und dass ein paro-sanierter Patient eine geringere Prävalenz für eine Diabeteserkrankung zeigt, ergeben sich eine ganze Reihe von Konsequenzen für die zahnärztliche Praxis. Jepsen forderte eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizinern und Internisten beziehungsweise Diabetologen. Erste Anfänge sind bereits gemacht, denn das Thema Parodontitis wird immer häufiger Gegenstand von Diabetes-Tagungen der internistischen Fachdisziplin.
ECC früher diagnostizieren
Das Erkrankungsbild der frühkindlichen Karies (early childhood caries, ECC) mit den sogenannten „white spots“, also kreidig weißen Entkalkungen, ausgehend von den Glattflächen, wird häufig von den Eltern nicht erkannt oder zu spät wahrgenommen, so dass eine zahnärztliche Konsultation erst im fortgeschrittenen Stadium erfolgt. Prof. Dr. Anahita Jablonski-Momeni, Marburg, forderte daher eine sehr frühzeitige zahnärztliche Untersuchung und therapeutische Begleitung, da der Pädiater oft nur die Sekundärfolgen der Gebissstörung wahrnimmt, nämlich eine Appetitlosigkeit, damit verbunden eine erhöhte Flüssigkeitsaufnahme und die daraus resultierende häufige Nierenfunktionsstörung.
Rechtliche Aspekte bei der Therapie Minderjähriger
Grundsätzlich bestehen bei ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungen bei Minderjährigen die gleichen rechtlichen Anforderungen und Implikationen wie bei der Behandlung erwachsener Patienten, so Prof. Dr. Dr. Dr. Luitger Figgener, Münster, in seinem Vortrag. Die in haftungsrechtlicher Hinsicht bedeutsamen Kardinalpflichten aus dem Behandlungsvertrag lassen sich fokussieren auf die Sorgfaltspflicht, die Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten, die Dokumentationspflicht bezüglich aller wichtigen, mit der Behandlung zusammenhängenden Fakten und die Schweigepflicht. Sie gelten gleichermaßen bei der Erwachsenen- wie bei der Minderjährigen-Behandlung. Figgener machte den Zuhörern deutlich, dass sich jedoch Besonderheiten bei der Minderjährigen-Behandlung ergeben bezüglich des Abschlusses des Behandlungsvertrags, nämlich aus der fehlenden oder beschränkten Geschäftsfähigkeit des Minderjährigen sowie bei der Aufklärung und Einwilligung. Daher riet er, immer die Eltern oder den Vormund in eine Therapieentscheidungsfindung mit einzubeziehen.
Senioren und Adhäsive
Bei der restaurativen Zahnheilkunde sind Adhäsive seit Jahren etabliert und in vielen Studien auf ihre Unbedenklichkeit hin auch geprüft. Nur gibt es kaum Untersuchungen an polymorbiden Senioren, wie Prof. Dr. Roland Frankenberger, Erlangen, erläuterte. Er präsentierte viele Untersuchungen von Adhäsiven an Probanden der sogenannten middle-ages, die zeigen konnten, dass in der modernen Adhäsivtechnik heute international durchaus ein guter Standard erreicht ist. Er zeigte dies am Beispiel von Komposit- und Keramik-Verbindungen und machte deutlich, dass heute die zahnfarbene restaurative Therapie als durchaus sicher gelte. In den meisten Studien jedoch sind die Patienten jünger als 65, für den Senior liegen keine umfangreichen Daten vor. Daher stellte sich der Referent die Frage, ob man die veröffentlichten Daten und Erfahrungen auch auf Senioren übertragen könne. Er forderte, dass in groß angelegten Untersuchungen durchaus zwischen den sogenannten best agern und Senioren mit multiplen Krankheitsbildern unterschieden werden muss.
Parodontitis in grauer Frühzeit
Die Zusammenhänge zwischen den die Menschen besiedelnden Keimen und der menschlichen Gesundheit sind offensichtlich, obwohl wir noch wenig über die Bakterien wissen. Erkrankungen der Mundhöhle zeigen, dass der Übergang zur neolithischen Landwirtschaft (10 000 v. Chr.) und die Einführung von industriell verarbeiteten Kohlenhydraten (1 800 n. Chr.) einen großen Einfluss auf die oralen Mikrobiome hatten, referierte der Zahnarzt und Archäologe Prof. Dr. Kurt Alt, Mainz.
Er berichtete von seinen Untersuchungen der bakteriellen DNA aus Zahnstein von späten Jägern und Sammlern sowie zu Beginn der Jungsteinzeit (5 500 v. Chr.) bis zum Mittelalter (1 550 n. Chr.) und in die Gegenwart. Es wurden moderne und alte Proben von Europäern sequenziert, um die Veränderungen in der menschlichen oralen Keimflora im Laufe der Zeit zu identifizieren. Obwohl die orale bakterielle Zusammensetzung relativ gleich blieb zwischen Jungsteinzeit und Mittelalter, wurden mehrere Bakterienarten mit Parodontitis assoziiert, was im Einklang steht mit Anzeichen einer erhöhten Parodontitis während des Übergangs zur Landwirtschaft. Im Gegensatz dazu war die orale Mikroflora moderner Europäer deutlich weniger vielfältig und dominiert von kariogenen Bakterien, was auf eine deutliche Verschiebung in der Mundflora während der industriellen Revolution hinweist. Die Daten deuten darauf hin, dass Veränderungen in der Ernährung und Landwirtschaft die Zusammensetzung der oralen Mikrofauna formen und zu ihrer heutigen Bedeutung als Verursacher der Zivilisationskrankheiten Karies und Parodontitis beigetragen haben.Zahnstein bietet eine einzigartige Gelegenheit um die Evolutionsgeschichte des menschlichen oralen Mikrobioms und die bakterielle Pathogenität zu rekonstruieren.
Das Alter diktiert die Wahl der Lokalanästhesie
Schmerzen bei einer Zahnbehandlung zu haben, ist heute in der Regel nicht mehr notwendig. Es gibt durchaus eine Reihe von sehr gut verträglichen und vor allem gut wirkenden Lokalanästhetika und Analgetika,die in der Lage sind, Schmerzen gezielt auszuschalten. Eine Übersicht über die Pharmakologie der gängigen Pharmaka. Ihre Metaboliten und vor allem ihre möglicherweise eintretenden Nebenwirkungen, gab die Mainzer Schmerzforscherin Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer in ihrem Vortrag. Sie ging auf die physiologischen und auf die pharmakokinetischen Veränderungen ein, die durch den Alterungsprozess des Menschen auftreten. Sie wirken sich in der Regel nicht klinisch relevant auf die Wirkweise, die Verteilung und die Metabolisierung der Lokalanästhetika im zahnmedizinischen Bereich aus, denn die Dosierung der Medikamente ist in der Regel recht gering und die Applikation erfolgt ja meist nur lokal.
Aber die Gewebedurchblutung und das Verhältnis von Fett- und Wasseranteil des Körpers bestimmen das Verteilungsvolumen und somit auch den Metabolismus und sind damit altersabhängig. Denn der alte Mensch verfügt über weitaus weniger Muskelmasse , dafür aber oft über einen höheren Fettanteil im Körper. Generell gilt aber die Regel bei älteren Patienten, dass die Dosierung der Medikamente reduziert werden sollte.
Zu beachten ist unbedingt, dass mit dem zunehmenden Alter auch die Zahl der pathophysiologischen Veränderungen, Allgemeinerkrankungen und Medikamenteneinnahmen zunimmt. Dies wirkt sich insbesondere auf die Verwendung und Dosierung des Vasokonstriktors aus. Adrenalin gilt zwar als der Goldstandard, aber auch Octapressin führt zu kardiovaskulären Effekten und möglicherweise auch zu Komplikationen bei Anwendung einer Lokalanästhesie.
Die Referentin erwähnte auch, dass unbedingt die vom Patienten eingenommenen Medikamente berücksichtigt werden müssten. Dies sollte immer bei der Verordnung von Antibiotika und Analgetika bedacht werden. Ihr Tipp: So oft Adrenalin wie möglich einsetzen, aber so wenig wie möglich! Das gilt für die Kinder- sowie für die Seniorenbehandlung. Ganz wichtig ist: „Keine Lösungen mit 1:100 000 für Routinebehandlungen nehmen“!
Teamtraining
Der Wissenschaftskongress im Messezentrum wurde durch ein umfangreiches Fortbildungsprogramm für Praxisteams flankiert. Diese Veranstaltung fand an den Hauptkongresstagen im Seminarzentrum der Fortbildungsakademie Zahnmedizin Hessen GmbH (FAZH) im Haus der Landeszahnärztekammer Hessen in Frankfurt-Niederrad statt. Das Angebot deckte eine Vielzahl der praxisrelevanten Themenfelder ab: Neben dem Dauerbrenner Kommunikation wurde besonders der Umgang mit kleinen und großen Patienten trainiert. Ebenso standen die vielen Facetten der Praxisabrechnung auf dem Programm. Weitere Schwerpunkte bildeten die Teamarbeit, das Qualitätsmanagement sowie etwas, was nie genug repetiert werden kann, nämlich die Versorgung medizinischer Notfälle in der Zahnarztpraxis.
Kongressabschluss mit Pfiff
Auf rund 20-jährige Patientenkarrieren zurückblicken kann Dr. Guiseppe Allais aus Turin zusammen mit seiner Klientel. Er stellte Fallsituationen vor, die die Patienten über einen außergewöhnlich langen Lebensweg begleiteten. Er zeigte anhand aller dokumentierten Fälle, dass die Maxime gilt „Weniger ist mehr“. Denn je minimalinvasiver er vor vielen Jahren behandelt hat, desto langfristiger und vor allem auch ästhetischer ist das Ergebnis heute, nach rund zwei Jahrzehnten. Sein Credo: „Wir schleifen zu viel und wir setzen zu früh viel zu viele Implantate!“
Mit einem letzten Gruß verabschiedete sich Prof. Dr. Dr. Henning Schliephake aus seinem Amt als Präsident der DGZMK und übergab den Staffelstab der Hamburger Kieferorthopädin Prof. Dr. Bärbel Kahl-Nieke.