Gastkommentar

Unterschätzter Patient

Krankenkassen beklagen zu Unrecht, dass Patienten für Zahnersatz und IGeL-Leistungen tief in die eigene Tasche greifen, meint Dr. Dorothea Siems, Wirtschaftskorrespondentin der Welt, Berlin.

Den Krankenkassen ist der wachsende Markt der sogenannten IGeL-Leistungen ein Ärgernis. Schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro bezahlen die Patienten jährlich für die individuellen Zusatzleistungen, die ihnen in den Praxen angeboten werden. Die Palette reicht von Akupunktur über Impfungen für Fernreisende bis zur professionellen Zahnreinigung. Ebenso wie die Kassen meinen auch viele Politiker, dass die Versicherten nicht in Lage seien, zu beurteilen, ob die Angebote sinnvoll sind oder nicht. Die Sozialdemokraten wollen deshalb per Gesetz die IGeL-Leistungen massiv zurückdrängen, „um die Patienten zu schützen“, wie SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagt.

Um den Schutz der Patienten geht es erklärtermaßen auch der Barmer Ersatzkasse, die jüngst den „Zahnreport 2013“ präsentiert hat. Danach gibt es einen Trend zu steigenden Privatkosten beim Zahnersatz, was die Kassenfunktionäre für einen sozialen Skandal halten. Beklagt wird, dass sich immer mehr Patienten für teure Varianten entscheiden. Auch hier rufen die Kassen nach dem Gesetzgeber, denn sie wollen mehr Kontrolle über die privatärztlichen Leistungen.

Der Ruf nach schärferen Regulierungen und Einschränkung der Wahlfreiheit zeigt, dass AOK Co. noch immer das Bild des unmündigen Patienten hochhalten. Und auch in der Politik ist die Neigung groß, für die Versicherten zu entscheiden, was vermeintlich das Beste für sie ist. Dabei sind die Menschen in den heutigen Zeiten des Internets besser denn je in der Lage, sich über das ganze Spektrum medizinischer Angebote zu informieren. Nicht alle Bürger tun dies. Viele vertrauen ihrem Arzt. Und kaum ein Mediziner wird riskieren, dass er scharenweise Patienten an seine Kollegen verliert, weil er ihnen überteuerte Leistungen aufschwatzt.

Sicher ist der Gesundheitsbereich kein Markt wie jeder andere. Doch geht es weder beim Zahnersatz noch bei den Zusatzleistungen um Leben und Tod. Dass immer Menschen bereit sind, beim Zahnersatz lieber tiefer in die Tasche zu greifen, als eine Minimallösung zu akzeptieren, spiegelt das gestiegene Wohlstandsniveau wider. Die ästhetischen Ansprüche der Bürger sind heute entsprechend höher, als dies früher der Fall war.

Wenn es um die Gesundheit geht, ist die Grenze zwischen medizinisch sinnvollen Leistungen und unnützen Angeboten mitunter fließend. So schwören zahlreiche Ärzte auf alternative Heilmethoden und schätzen beispielsweise die Homöopathie, während andere darauf hinweisen, dass der Nutzen nicht erwiesen ist und dass die Kassen deshalb solche Arzneimittel nur in Ausnahmen bezahlen. Viele Patienten wollen dennoch nicht auf diese Medizin verzichten und tragen die Kosten selbst. Auch viele andere rezeptfreie Medikamente werden von den Krankenversicherten klaglos aus eigenen Mitteln finanziert. Anders als bei den Ärzten wird den Apothekern jedoch nicht permanent unterstellt, sie zögen ihre Kunden über den Tisch. Denn Krankenkassen und Politiker waren sich 2003 einig, dass es richtig sei, die rezeptfreien Medikamente aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu streichen, weil Patienten derartige Ausgaben durchaus verkraften könnten. Was bei Erkältungsmitteln oder Pillen gegen Sodbrennen richtig ist, kann bei Zahnersatz oder IGeL-Leistungen nicht verkehrt sein.

Gerade dann, wenn der Versicherte die Kosten ganz oder zum großen Teil selbst bezahlt, wird er die Angebote besonders kritisch unter die Lupe nehmen. Krankenkassen und Gesundheitspolitiker sind gut beraten, die Patienten nicht länger zu unterschätzen, sondern endlich als mündige Bürger zu akzeptieren, die froh sind, wenn sie – wie dies beim Zahnersatz mit dem System der Festzuschüsse der Fall ist – eine möglichst große Palette an Wahlmöglichkeiten haben. Statt diese Freiheit einzuschränken, sollte die Politik lieber darüber nachdenken, solche Ansätze auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens verstärkt einzusetzen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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