Gastkommentar

Teures Stück Plastik

Die neue Regierung sollte sich von der Idee der elektronischen Gesundheitskarte verabschieden. Der Nutzen steht in keinem Verhältnis zu den Risiken, meint Dr. Dorothea Siems, Wirtschafts- korrespondentin der Welt, Berlin.

Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) ist das größte Telematik-Projekt der Welt. Als vor zehn Jahren der Startschuss für das Vorhaben gegeben wurde, schwärmten Politiker und IT-Anbieter von den fantastischen Möglichkeiten, die die kleine Chipkarte zu bieten habe. Damit sollten die Patientenversorgung verbessert, die Zusammenarbeit der Leistungsanbieter vereinfacht und Verwaltungskosten gespart werden. Von der Euphorie ist heute nichts mehr zu spüren. Die Krankenkassen halten das Prestigeprojekt für einen teuren Flop und nicht nur Mediziner spotten über die „flugunfähige Gesundheitsdrohne“, die im Vergleich zur herkömmlichen Versichertenkarte nicht mehr zu bieten habe als ein Foto.

Nach Angaben der Betreiberfirma gematik haben die Krankenkassen bislang rund 720 Millionen Euro in das Vorhaben investiert. Die ursprünglich für 2006 vor- gesehene Einführung musste mehrfach verschoben werden.

Mittlerweile besitzen fast 95 Prozent der Versicherten das neue Plastikteil. Die restlichen Bürger sollen in den kommenden beiden Monaten folgen. Denn mit dem Jahreswechsel werden die letzten der alten Versichertenkarten ungültig. Auch die neue Bundesregierung wird an diesem Zeitplan wohl nichts mehr ändern. So ein gigantisches Vorhaben ist schlichtweg nicht zu stoppen. Mit Ausnahme der Linken haben alle im Bundestag vertretenen Parteien während sie Regierungsverantwortung trugen die Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte vorangetrieben. Ein Stopp zum jetzigen Zeitpunkt würde aus den Millioneninvestitionen eine Verschwendung von Beitragsgeldern machen – und einen solchen Skandal fürchtet jeder Politiker.

Dabei wäre es vor allem aus Sicht der Ver- sicherten durchaus sinnvoll, sich von der Idee der eGK endgültig zu verabschieden. Denn trotz aller technischen Raffinessen lässt sich die Sicherheit hochsensibler Patientendaten keineswegs gewährleisten. Sollte es in Zukunft tatsächlich dazu kommen, dass per Karte nicht nur elektronische Rezepte ausgestellt werden, sondern auch auf einem externen Server eine elektronische Krankenakte niedergelegt wird, dann ist der von der Ärzteschaft befürchtete „gläserne Patient“ Wirklichkeit geworden. Vor dem Hintergrund des Abhörskandals um den US-amerikanischen Geheimdienst NSA kann keiner mehr die Warnungen vor einem Missbrauch der eGK vom Tisch wischen.

Die Kommunikation über das weltweite Netz wird niemals ganz sicher sein. Umfassende Patientendaten über mögliche Vorerkrankungen, individuelle Krankheitsrisiken sowie Therapien sind für bestimmte Gruppen von unschätzbarem Wert. Man stelle sich vor, Lebensversicherer, Krankenkassen oder Banken könnten aufgrund derartiger Informationen Kunden selektieren. Oder Arbeitgeber könnten so ihre Personalauswahl optimieren – ein Horrorszenario.

Während die Risiken auf der Hand liegen, ist es mit den in Aussicht gestellten Vorteilen nicht weit her. Ein Argument der Befürworter war die bessere medizinische Versorgung etwa durch die Vermeidung von Arzneimittelunverträglichkeiten. Schätzungen zufolge sterben in Deutschland jährlich mehrere Tausend Menschen, weil sie parallel verschiedene Medikamente einnehmen, die sich nicht vertragen. Doch eine eGK, auf der die verordneten Arzneimittel aufgelistet sind, dürfte diese Zahl kaum senken. Denn meist treten Unverträglichkeiten auf, wenn Patienten ohne ärztlichen Rat rezeptfreie Medikamente wie beispielsweise Aspirin zusätzlich zu anderen hoch wirksamen Stoffen einnehmen. Und wer heute sorglos den Blick auf den Beipackzettel meidet, wird in Zukunft kaum rezeptfreie Medikamente auf der eGK eintragen lassen.

Die neue Regierung sollte sich ehrlich dazu bekennen, dass die eGK auf Dauer nicht mehr ist als eine Versichertenkarte mit einem Foto. Dann bleibt der Nutzen gering – aber auch das mit ihr verbundene Risiko.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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