Mit Pillen gegen Jobstress
Laut dem „Fehlzeiten-Report 2013“ des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) sind die durch Suchtmittel verursachten Fehltage seit 2002 um 17 Prozent gestiegen. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage kletterte von 2,07 Millionen (2002) auf 2,42 Millionen Tage (2012). Alkoholkonsum und Rauchen sind nach Angaben des WIdO die Hauptursachen, aber neue Suchtmittel wie Psychopharmaka sind auf dem Vormarsch.
Zahlen der Techniker Krankenkasse (TK) zeigen einen ähnlichen Trend. Dort versicherte Arbeitnehmer blieben wegen psychischer Erkrankungen infolge von Alkohol im Jahr 2012 im Schnitt fast zwei Tage länger zu Hause als im Vorjahr – die Fehlzeit er- höhte sich im Vergleich zu 2011 von 48,1 auf 49,7 Tage. Bundesweit hochgerechnet macht das für 2012 insgesamt 1,8 Millionen alkoholbedingte Fehltage. Zu den Erkrankungen zählen unter anderem Alkoholabhängigkeit, Entzugssyndrome und psychische Störungen. Aber nicht nur die Krankheitstage, auch die Zahl der Betroffenen ist gestiegen: So war im Vorjahr eine von 823 bei der TK versicherten Erwerbs-personen von einer alkoholbedingten Krankschreibung betroffen – 2011 war es noch eine von 835.
Nur die Spitze des Eisbergs
„Obwohl in den vergangenen Jahren eine ganze Menge unternommen worden ist, können wir bei den Suchterkrankungen keine Entwarnung geben“, sagt Uwe Deh, Geschäftsführender Vorstand des AOK- Bundesverbandes. Die Zahlen der Kassen würden „nur die Spitze des Eisbergs abbilden“. Oft würden Suchtkranke nicht ausdrücklich wegen ihrer Suchtprobleme, sondern unter anderen Diagnosen krankgeschrieben, erklärt Deh. Eine Sucht hat gravierenden Einfluss auf das Erwerbsleben der Betroffenen. Suchtkranke fehlten 2012 durchschnittlich 92 Tage, während bei allen anderen Diagnosen die durchschnittliche Fehlzeit bei 31 Tagen lag. Knapp 44 Prozent der suchtbedingten Arbeitsunfähigkeitsfälle entfallen auf Alkoholkonsum.
Das WIdO schätzt den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch Suchterkrankungen entsteht, für das vergangene Jahr auf circa 1,3 Milliarden Euro. In einer Umfrage der DAK aus dem Jahr 2009 unter 3 000 Arbeitnehmern gaben fünf Prozent der Befragten an, Substanzen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit oder des Wohlbefindens zu konsumieren, zwei Prozent taten dies regelmäßig am Arbeitsplatz.
Neuer Trend Gehirndoping
Neben den „Klassikern“ Alkohol und Nikotin treten leistungssteigernde Mittel, sogenannte Neuroenhancer, zunehmend in das Blickfeld der Suchtforscher. „Um berufliche Stresssituationen zu bewältigen, haben nach unserer Befragung immerhin fünf Prozent der Arbeitnehmer in den letzten zwölf Monaten Medikamente wie Psychopharmaka oder Amphetamine zur Leistungssteigerung bei der Arbeit eingenommen“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO. Nach seiner Ansicht ist die Dunkelziffer aber aber um einiges größer, da Studien zeigten, dass viele Menschen bereit sind, bei hoher Arbeitsbelastung stimulierende Mittel einzunehmen.
Noch verursachen die Gehirndopingmittel nur einen kleinen Teil der suchtbezogenen Krankheitstage, aber die Zahl steigt. Die Fehltage wegen des Konsums von Stimulanzien wie Amphetaminen haben sich in den vergangenen zehn Jahren fast vervierfacht – von 8 100 Tagen im Jahr 2002 auf knapp 30 000 im Jahr 2012. Die Zahl der Erstkonsumenten von Psychopharmaka hat sich nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen im selben Zeitraum mehr als verdoppelt.
„Das Suchtpotenzial sowie die körperlichen und psychischen Folgeschäden dieser Drogen werden gerade in jüngeren Alters- gruppen noch viel zu oft unterschätzt und verharmlost“, sagt Deh. „Die Bereitschaft, zu solchen Mitteln zu greifen, nimmt zu und die Hemmschwellen sinken.“
Stress befördert Sucht
Suchterkrankungen haben einen gravierenden Einfluss auf das Erwerbsleben der Betroffenen, zeigen die Zahlen der Krankenkassen. Welchen Einfluss haben aber die Jobbedingungen auf die Ausprägung einer Sucht? Schröder: „Die Gründe, warum sich eine Sucht- oder Abhängigkeitserkrankung entwickelt, sind vielfältig.“ Das Arbeitsleben kann hierbei aber eine große Rolle spielen. Durch immer größere Anforderungen plus ständig geforderte Flexibiliät und Mobilität fühlen sich viele Arbeitnehmer unter Druck gesetzt. Manche greifen deshalb zum Gehirndoping. Arbeitnehmer, die mit einem hohen Pflichtgefühl ihren Aufgaben nachgehen, seien besonders gefährdet, sagt Schröder. Sie berichteten häufig, dass sie nervös seien und nicht abschalten könnten. Hinzu kämen Reizbarkeit und Schlafstörungen. Studien zeigen laut AOK, dass viele Arbeitnehmer bereit sind, in Spitzenzeiten der Arbeitsbelastung leistungssteigernde Mittel einzunehmen.
„Zunehmender Leistungsdruck, die Verdichtung der Arbeit oder die Erwartungen, dass Beschäftigte ständig erreichbar sind und schnell reagieren – all das kann dazu beitragen, dass Menschen Verhaltensweisen entwickeln, die zu Abhängigkeit und Sucht führen“, warnt Deh.
Suchtprävention im Betrieb – Beispiel BSR
Bei den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR), dem größten kommunalen Entsorgungsunternehmen Deutschlands, gibt es bereits seit 17 Jahren ein betriebliches Suchtpräventionsprogramm – und eine Dienstvereinbarung, die ein absolutes Alkoholverbot am Arbeitsplatz festschreibt. Zusätzlich bietet eine innerbetriebliche Beratungsstelle allen betroffenen Beschäftigten Hilfe und Unterstützung.
Bei der BSR gilt nach Angaben des innerbetrieblichen Präventionsexperten Georg Heidel die Maxime, dass das Wissen über Suchtgefahren den verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln stärkt. Deshalb gehöre das Thema Suchtgefährdung zu vielen betrieblichen Gesundheitsseminaren
für die Beschäftigten. Zudem werden BSR-Mitarbeiter, die sich dafür melden, zu nebenamtlichen Präventionskräften weitergebildet. Diese Kräfte sind speziell geschulte kollegiale Ansprechpartner, die auch in ihrer Freizeit eigenständig Aufgaben übernehmen.
•