Forschung für ein Altern in Würde
Mit steigendem Alter nimmt in der Regel die Anzahl der Krankheiten zu – damit einhergehend wird auch die Liste der benötigten Arzneimittel immer länger. Fast die Hälfte aller verordneten Arzneimittelpackungen geht an Versicherte über 65 Jahre, obwohl sie lediglich 20 Prozent der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stellen. Verschiedene Arzneimittelanalysen belegen, dass über 40 Prozent der Patienten dieser Altersgruppe fünf oder mehr verschiedene rezeptpflichtige Arzneimittel pro Quartal einnehmen. Damit steigt bei den Senioren das grundsätzliche Wechselwirkungsrisiko von miteinander unverträglichen Wirkstoffen. Hinzu kommt: Da die Funktionsfähigkeit von Leber und Niere im Alter abnimmt, werden die chemischen Stoffe langsamer abgebaut.
„Bei den meisten Medikamenten brauchen ältere Patienten eine deutlich geringere Dosierung“, erklärt die Pharmakologin Prof. Petra Thürmann vom Helios Klinikum Wuppertal. Senioren reagieren mit steigendem Alter immer empfindlicher auf bestimmte Medikamente und werden anfälliger für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Dennoch hat dieses Wissen bei den niedergelassenen Ärzten bislang nicht zu einer entsprechend zurückhaltenden Arzneitherapie geführt. Im Gegenteil: Jede zehnte Klinikeinweisung in dieser Altersgruppe ist auf Wechselwirkungen oder unerwünschte Effekte in der Arzneimitteltherapie zurückzuführen.
Unterstützung für die Ärzte
Um die Ärzte dabei zu unterstützen, die Therapiesicherheit für ihre multimorbiden, älteren Patienten zu erhöhen, hat unter Thürmanns Leitung 2010 eine internationale Forschergruppe mit Experten verschiedener Fachrichtungen über 120 verdächtige Arzneimittel untersucht, die für Menschen ab 65 Jahren als potenziell ungeeignet einzustufen sind. Das Ergebnis ist eine Liste von 83 Wirkstoffen, die bei Senioren nicht oder nur mit besonderer Vorsicht angewendet werden sollten. Mehr als die Hälfte dieser Wirkstoffe wirken auf das Nervensystem, wie eine Reihe von Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie Mittel gegen Psychosen.
„Die Priscus-Liste enthält Medikamente, die im Alter potenziell unangemessen sind, das heißt, das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist nicht mehr positiv. Solche Listen gibt es in anderen Ländern schon seit vielen Jahren und sie stellen ein gutes Hilfsmittel für verordnende Ärzte, beratende Apotheker und auch das Pflegepersonal dar. Aufgrund eines anderen Arzneimittelmarkts war es erforderlich, eine solche Liste auch für den deutschen Arzneimittelmarkt zu erstellen“, erklärt Thürmann. Unter den gängigen Wirkstoffen zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden immerhin 17 Substanzen als potenziell inadäquat zum Einsatz bei älteren Patienten eingestuft. Zudem sollten acht Arzneimittel zur Behandlung von rheumatischen Erkrankungen und Schmerzen möglichst nicht bei älteren Menschen verwendet werden.
Risikopotenzial für Ältere
Für die Priscus-Liste haben die Forscher nach internationalen Literaturrecherchen und nach Sondierung des deutschen Marktes Arzneistoffe ausgewählt, die erstens relativ häufig verordnet werden und zweitens ein mögliches Risikopotenzial für ältere Menschen bergen. Das sind beispielsweise Medikamente, die das Sturzrisiko erhöhen oder die Wahrnehmung beeinträchtigen können.
Die Wissenschaftler haben sich aber nicht nur auf eine einfache Aufzählung von Wirkstoffnamen beschränkt. Sie hatten auch die Anwendbarkeit in der ärztlichen Praxis im Blick. So enthält die Liste Hinweise auf Begleiterkrankungen, die die Gefahr beim Einsatz eines Wirkstoffs besonders erhöhen. Zu jeder der aufgeführten Substanzen werden darüber hinaus Therapiealternativen genannt, wobei auch nichtmedikamentöse Optionen berücksichtigt werden. Schließlich benennt sie konkrete Maßnahmen, die es dem Arzt ermöglichen, das Risiko zu begrenzen, wenn sich die Anwendung eines Arzneimittels im konkreten Einzelfall doch einmal nicht vermeiden lassen sollte. Hierzu gehören beispielsweise regelmäßige Kontrollen der Leber- oder der Nierenfunktion oder Beschränkungen der Dosierung oder der Therapiedauer.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse hatte die Forschergruppe um Thürmann herausgefunden, dass vor Veröffentlichung der Liste bis zu 20 Prozent der älteren Patienten regelmäßig ungeeignete Arzneimittel verschrieben bekamen – in Alten- heimen lag die Verschreibungsquote der „Priscus-Medikamente“ sogar bei rund 40 Prozent der Heimbewohner.
Verordnungen konstant
Doch trotz einer Veröffentlichung der Liste im Deutschen Ärzteblatt scheint sich das Verordnungsverhalten kurzfristig nicht wesentlich verändert zu haben. Das belegt beispielsweise der VersorgungsReport 2012 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Die Analyse sämtlicher Verschreibungen der AOK-Versicherten zeigt, dass immer noch 23,6 Prozent der Senioren ab 65 Medikamente von der Priscus-Liste verschrieben bekommen. „Frauen nehmen besonders häufig Wirkstoffe ein, die für ältere Menschen ungeeignet sind“, erklärt Jürgen Klauber, Geschäftsführer des WIdO. „Es ist egal, welche Altersgruppe der über 65-Jährigen man betrachtet. Von den weiblichen Patienten erhalten rund fünf bis sieben Prozentpunkte mehr als bei den Männern einen Wirkstoff aus der Priscus -Liste.“
Der Schwerpunkt der Priscus-Verordnungen liegt bei Frauen im Bereich Psycho- pharmaka, bei Männern bei den Mitteln gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dementsprechend verordnen vor allem Neurologen, Internisten und Hausärzte die potenziell gefährlichen Wirkstoffe. Besonders die Neurologen scheinen die Priscus-Liste nicht zu kennen oder sie bewusst zu ignorieren. Sie verschreiben fast jedem zweiten ihrer Patienten (49 Prozent) über 65 Jahren einen der betroffenen Wirkstoffe.
Von den Hausärzten erhalten immerhin noch 29 Prozent der AOK-Patienten ein ungeeignetes Mittel. Auf der Hitliste der Wirkstoffe ganz oben: das Bluthochdruckmittel Doxazosin mit mehr als 22 Millionen Tagesdosen. Knapp 20 Millionen Tages- dosen wurden von Amitriptylin verordnet. Dieser Wirkstoff gehört zur Gruppe der Antidepressiva, die auf der Priscus-Liste besonders stark vertreten sind. Weiblichen Patienten wird Amitriptylin etwa dreimal so häufig wie Männern verschrieben. Auf Platz drei der am meisten verordneten Priscus-Wirkstoffe steht das Rheumamittel Etoricoxib (zum Beispiel Arcoxia), von dem über 13,4 Millionen Tagesdosen abgegeben wurden. Auch dieser Wirkstoff wird deutlich häufiger an Frauen verschrieben – sie nehmen mehr als doppelt so viel Etoricoxib wie die Männer ein.
Auffälligkeiten
Bei der Analyse der Verschreibungsdaten sind die WidO-Experten auf verschiedene Auffälligkeiten gestoßen. „Es hängt auch vom Alter eines Arztes ab, wie oft er einen der Priscus-Wirkstoffe verschreibt“, sagt Gisbert W. Selke, Arzneimittelexperte beim WIdO. „Je älter ein Arzt ist, desto häufiger verordnet er Wirkstoffe, die für ältere Patienten gefährlich werden können.“ Hier liegt die Vermutung nahe, dass jüngere Mediziner ein aktuelleres pharmakologisches Wissen haben. Doch die Verordnungsanalyse zeigt noch eine weitere Besonderheit: Patienten in den alten Bundesländern erhalten deutlich häufiger Wirkstoffe, die auf der Priscus-Liste stehen. Die höchsten Patientenanteile gibt es in Rheinland-Pfalz (27,4 Prozent) und dem Saarland (27,1 Prozent). Insgesamt erhält im Westen etwa jeder Vierte einen ungeeigneten Wirkstoff. In den östlichen Bundesländern ist es nur etwa jeder fünfte Patient. Eine Erklärung für diese Diskrepanz können die WidO-Forscher nicht liefern.
Auch wenn die große Verschreibungswende noch nicht eingetreten zu sein scheint, untersucht Thürmann derzeit, ob das gezielte Verschreiben von in der Priscus-Liste genannten Alternativmedikamenten messbare Effekte zeigt. „Die Priscus-Liste ist bislang noch nicht dahin gehend getestet worden, ob sich beim Ausweichen wirklich weniger unerwünschte Reaktionen einstellen. Dieses tun wir gerade im Rahmen einer prospektiven, Cluster-randomisierten Studie in Hausarztpraxen. Mit einer ähnlichen Zielrichtung verläuft auch ein vom Gesundheitsministerium gefördertes Projekt in Einrichtungen der Altenpflege“, so Thürmann.
Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalist, Kölnmail@otmar-mueller.de
Info
Verbundprojekt
Die Forschung zum Thema Multi- morbidität steckt noch in den Kinderschuhen. Das Verbundprojekt „priscus“ (lateinisch: „alt, altehrwürdig“) hat sich zum Ziel gesetzt, offene Fragen zu diesem Thema zu beantworten. In sieben Teilprojekten entwickeln Forscher in fächerübergreifender Zusammen- arbeit neue Therapieansätze. Priscus, koordiniert von der Ruhr-Universität Bochum, wird seit November 2007 als eines von sechs Verbundprojekten im Programm „Gesundheit im Alter“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für zunächst drei Jahre gefördert. Mehr unter:www.priscus.net