Zwischen Eigenverantwortung und zahnärztlicher Fürsorgepflicht
In den politischen und offiziellen Manifesten wird heute der aktive Patient als gültiges Leitbild zelebriert. Als Ausdruck des mündigen Bürgers befolgt der – so gewünschte – moderne Patient nicht einfach Expertenmeinungen, sondern er bringt sich selbst ein und entscheidet selbstverantwortlich, weil er sich auch als Experte für seine eigene körperliche und seelische Verfassung versteht. Credo von heute ist es, dass der Patient „empowered“ werden muss, damit er für sich selbst gut entscheiden kann. Mit zunehmender Selbstverantwortung wird der Patient zu einem Nutzer umdefiniert, zu einem Akteur, der sich in Eigeninitiative die notwendigen Informationen und Angebote einholt, die für die Bewältigung seiner Gesundheitsstörung nötig sind. Das ist das, was man heute unter Gesundheitskompetenz versteht.
Eigenverantwortung als neues Paradigma
All diese Zielsetzungen und Bestrebungen sind vordergründig zu begrüßen, aber es ist wichtig, sie auch in jenem Kontext zu sehen, in dem sie formuliert werden. Denn die Gesundheitskompetenz wird ja nicht einfach im luftleeren Raum als Ziel formuliert, sondern im Kontext eines neuen Verständnisses von Staat und Gesellschaft. Diese Zielsetzung wird gefordert in einer Zeit, in der der fürsorgende Staat, der die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten hat, für antiquiert erklärt wird. Die Gesundheitskompetenz wird also in einer Zeit propagiert, in der nicht mehr die Fürsorge Leitbild des Staates ist, sondern der Ruf nach Modernisierung des versorgenden Staates immer lauter wird. Und „modern“ klingt eben nicht die Versorgung mit notwendigen Leistungen. Vielmehr wird „modern“ heute geradezu gleichgesetzt mit einem „aktivierenden Staat“. Das moderne Verständnis von Sozialstaat setzt weniger auf die Versorgung als vielmehr auf die Aktivierung der Bürger. In diesen Kontext ist auch der überall zu vernehmende Ruf nach Eigenverantwortung zu verstehen.
Zielsetzung der modernen Politik ist somit die Aktivierung des Bürgers, die Förderung seiner Kompetenz, letztlich mit der Zielsetzung, ihn dadurch zur Übernahme eigener Verantwortung zu verpflichten – und damit gleichzeitig den Staat zu entpflichten. Es findet eine Übertragung der staatlichen Versorgungsverantwortung auf die Eigenverantwortung des Einzelnen statt. Man sagt zwar, dass man den Sozialstaat unbedingt erhalten wolle, aber de facto fährt man ihn zurück – und dies maskiert hinter wohlklingenden Begriffen wie (Wahl-)Freiheit, Mündigkeit und Eigenverantwortung. Nur in diesem Kontext lässt sich die gegenwärtige Betonung der Gesundheitskompetenz angemessen erklären. Es ist sicher begrüßenswert, dass der Staat auf die Aktivierung des Bürgers setzt, und es ist auch begrüßenswert, dass der Bürger von heute nicht einfach die Medizin zur „Reparatur“ heranziehen soll, ohne sich selbst an der eigenen Gesundung und am Gesundbleiben zu beteiligen. Allerdings ist es unabdingbar, über die Grenzen des Aktivierungs- und auch des Kompetenzmodells genauer zu sprechen.
Grundsätzlich steht der heutige Mensch im Gesundheitswesen vermehrt in der Pflicht, Entscheidungen in Bezug auf seine Gesundheit selbst zu treffen – sei es, weil das System nicht mehr alles bezahlt, sei es, weil das System oder die Gesellschaft von ihm vermehrt gesundheitsförderndes Verhalten verlangt. Aufgabe des aktivierenden Staates ist es nicht mehr, Menschen gegen zentrale Lebensrisiken abzusichern, sondern in größtmöglichem Maße dafür zu sorgen, dass sich der Bürger selbst um das Gesundbleiben kümmert und sich eigenverantwortlich verhält. Bemerkenswert ist, dass diese staatliche Auferlegung einer Pflicht zur Verantwortungsübernahme gekoppelt worden ist mit der Verheißung von Emanzipation. Es handelt sich hier um eine geschickte Doppelstrategie, indem Emanzipation versprochen und im gleichen Atemzug Eigenverantwortung eingefordert wird. Menschen sollen also vom Staat mit allen Voraussetzungen individuellen Erfolgs ausgestattet werden, damit sie anschließend in die selbstständige Eigenverantwortung entlassen werden können. Man verspricht Emanzipation und fordert die Pflicht zu einem konformen Verhalten ein. Man könnte das auch unter dem Schlagwort „Fördern und Fordern“ subsumieren.
So wird eine Verbindung deutlich zwischen Patientensouveränität und Individualisierung der Verantwortung, eine Verbindung von Kompetenz und Verpflichtung. Eigenverantwortung ist hier einerseits Voraussetzung und andererseits die Folge des politischen Postulats eines souveränen Bürgers. Und natürlich ist es vernünftig, den mündigen Bürger wie auch den mündigen Patienten anzustreben, aber es wird hier leicht übersehen, dass die Übernahme von Verantwortung an Grundvoraussetzungen geknüpft werden muss. Menschen müssen überhaupt erst befähigt werden, Verantwortung zu übernehmen, bevor sie sanktioniert werden.
Gesundheitsrisiken ins Private zurückgeführt
Im Kontext der besonderen Betonung von Gesundheitskompetenz verbunden mit der Forderung nach Eigenverantwortung wird der Gesundheitszustand geradezu ausschließlich als Resultat individueller Entscheidungen interpretiert. Das ist aber eine irrige Annahme. Gesundheit ist nicht einfach ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal, sondern sie ist abhängig von strukturellen Rahmenbedingungen. Daher haben wir es hier zuweilen mit einer Verengung der Verantwortungsperspektive zu tun, die damit einhergeht, dass eine problematische Rücküberantwortung sozialer und struktureller Defizite ins Private vollzogen wird. Es wird zwar sehr wohl erkannt, dass sich die individuelle Gesundheit nicht allein durch persönliche Anstrengungen erzeugen lässt, weil Gesundheit und Krankheit von einem komplexen Gefüge aus strukturellen Lebensbedingungen, milieubedingter Lebensweise und individuellem Lebensstil bestimmt werden. Doch diese komplexe Gesundheitsgemengelage ist offenbar so unkontrollier- und unregulierbar geworden, dass man sich politisch lieber auf das stürzt, was scheinbar leichter zu operationalisieren ist. Das ist mit ein Grund, weswegen man dazu neigt, geradezu ausschließlich das eigenverantwortliche Individuum in die Pflicht zu nehmen. Das Individuum wird aber auch deswegen in die Pflicht genommen, weil dies einem allgemeinen Credo unserer Zeit entspricht, nach der Devise „Ein jeder ist seines Glückes Schmied“ und “Jeder ist der Unternehmer seiner selbst“ oder neudeutsch „Jeder ist der Gesundheitsmanager seiner selbst“. Eigenverantwortliche Patienten wurden somit zur zentralen Zielvorstellung, die sich einer breiten gesellschaftliche Akzeptanz sicher sein konnte. Hinzu kam die Verheißung, dass mit der Betonung der Eigenverantwortung nicht weniger erreicht werden könnte als die Ersparnis von Ressourcen. Dieser abermalige Doppelcharakter von Eigenverantwortung – als Mittel zur Emanzipation und zur Kostenersparnis – machte die Devise der Eigenverantwortung zum idealen Paradigma. Erst vor diesem Hintergrund können wir begreifen, warum es in letzter Zeit zu einer zunehmenden Privatisierung der Gesundheit gekommen ist.
Grenzen des Konzepts – Risikogruppen fallen raus
Und doch hat der Rekurs auf die Eigenverantwortung als Lösung der sozialen Frage seine Grenzen. So wird beim Begriff der Eigenverantwortung zu leicht vergessen, dass jene Bevölkerungsgruppen, die das größte Risiko tragen, zu erkranken, im Durchschnitt auch die geringsten Möglichkeiten haben, die Gesundheitsförderung in ihrem Verhalten zu berücksichtigen. Das hat damit zu tun, dass die unterprivilegierten Schichten einfach über weniger Freiheiten und auch über weniger finanzielle Möglichkeiten verfügen, um in der Wahl ihres Lebensstils sich gesundheitsfördernd zu verhalten. Sie haben, bedingt durch ihren sozialen Status, oft schlichtweg gar keine Wahl, verfügen nicht über die Entscheidungsfreiheiten, die bei höheren Schichten ausgeprägter sind. Und oft sind die unterprivilegierten Gruppen der Gesellschaft so sehr eingespannt in die Befriedigung der akuten Bedürfnisse zum Beispiel des Lebensunterhalts, dass sie schlichtweg keine innere Freiheit haben, um in eine Sache zu investieren, deren Resultat und positive Folgewirkungen wenn überhaupt erst nach langer Zeit zur Geltung kämen. Das heißt nicht weniger, als dass man sich den Gedanken an gesundheitsförderliches Verhalten zunächst einmal leisten können muss. Dieser Zusammenhang, für den der Begriff des Präventions-Paradoxons geprägt wurde, stellt ein Grundproblem aller Prävention dar, weil alle Ansätze zur Prävention in aller Regel die Menschen zuerst erreichen, die der Prävention am wenigsten bedürfen.
Und vor diesem Problem steht auch die Zahnmedizin. Das Programm der Patientenkompetenz und der Eigenverantwortung hat bezogen auf die Mundgesundheit vor allem die Mittelschichten sehr erfolgreich erreicht. Das belegen viele Zahlen. Die größten Probleme der Mundgesundheit tragen heute daher gerade nicht die Mittelschichten, sondern die Menschen, die entweder noch nicht so weit sind, dass sie Verantwortung übernehmen können, wie die Kinder unter drei Jahren, aber auch und vor allem die Menschen mit Behinderungen, die alten Menschen, die Menschen mit Mehrfacherkrankungen – und die pflegebedürftigen Menschen. Allein diese Aufzählung zeigt auf, dass man mit dem Pathos der Patientenkompetenz und der Eigenverantwortung eben gerade nicht die Menschen erreichen kann, bei denen eine Bewahrung oder Verbesserung der Gesundheit von vitalem Interesse ist. Die Betonung der Eigenverantwortung ist gerade hier eben die falsche Strategie, denn diesen Menschen fehlt es nicht an gutem Willen oder primär an Aufgeklärtheit, ihnen fehlt es an inneren Ressourcen und es fehlt ihnen vor allem an günstigen strukturellen Bedingungen.
Krankheit als Erschwernis für Eigenverantwortung
Daher müssen wir uns klarmachen, dass es nicht nur die Schichtzugehörigkeit ist, die über die Fähigkeit zur Übernahme von Gesundheitsverantwortung entscheidet. Auch das Alter der Patienten spielt hier eine große Rolle – und zu einem beträchtlichen Maß der Gesundheitszustand. Das bedeutet, dass sowohl sozial schlechter gestellte Menschen als auch ältere Menschen – und vor allen Dingen kranke Menschen – über weniger Möglichkeiten verfügen, Gesundheitskompetenz zu erwerben. Das hat auch damit zu tun, dass diese Gruppen nicht nur mehr Mühe haben, Informationen zu verstehen, sondern auch sich mit anderen Menschen über Fragen der Gesundheitserhaltung auszutauschen. Gesundheits-kompetenz hat nämlich nicht nur mit der Fähigkeit und Bereitschaft, Informationen einzuholen, zu tun, sondern vor allen Dingen damit, ob diese Menschen tragfähige soziale Kontakte haben, die ihnen Gespräche über gesundheitsrelevante Fragen ermöglichen. So sind es die Beziehungsstrukturen, und nicht nur die Lesefähigkeit, die über die Fähigkeit zur Entwicklung von Gesundheitskompetenz entscheiden.
An diesem Punkt wird deutlich, dass werernsthaft an der Förderung von Gesundheitskompetenz interessiert ist, nicht umhinkommt, den Patienten Gespräche mit anderen Menschen zu ermöglichen. Es werden diese Interaktionsmöglichkeiten sein, die Patienten brauchen, um Kompetenz zu erwerben. Sicher werden es hier die Freunde, die Familienmitglieder sein, aber es ist ja sofort erkennbar, dass gerade die Ärzte bei dieser interaktiven Gesundheitskompetenz eine zentrale Rolle spielen, weil sie zentrale Ansprechpartner sind und durch das Gespräch mit dem Patienten eine große Chance haben, sie in ihrer Kompetenz zu unterstützen.
Gesundheitskompetenz zu fördern bedeutet einerseits, die sozial benachteiligten Schichten zu unterstützen, sie zur Verantwortungsübernahme erst einmal zu befähigen, bevor etwas von ihnen gefordert wird. Gesundheitskompetenz fördern bedeutet aber auch, alle Anstrengung zu unternehmen, alte und pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Behinderungen zu stützen. Wenn dem aber so ist, dann wird sofort klar, dass der üblich gewordene Begriff des „Nutzers“ oder „Konsumenten“ von Gesundheitsleistungen einfach das falsche Paradigma darstellt, um diesem schwachen Patienten, der isoliert ist und oft nicht mehr genau weiß, wie es weitergehen soll, gerecht zu werden. Das ist auch der größte Schwachpunkt bei der Idee der Eigenverantwortlichkeit, dass sie zu sehr vom souveränen Konsumenten ausgeht. Genau hier liegt die Grenze des aktivierenden Nutzerkonzepts bei der Gesundheitskompetenz. Der Patient ist in seiner Rolle als kranker Mensch nicht primär ein souveräner Nutzer von Leistungen, vielmehr befindet er sich in einer grundlegend asymmetrischen Position, weil er angewiesen ist. Denn als Patient hat er im Unterschied zum Konsumenten schlichtweg keine Wahl. Wenn ein Mensch krank geworden ist, dann ist er erst einmal geprägt von Hilfsbedürftigkeit, Rat- und Orientierungslosigkeit. Der in Not geratene kranke Mensch muss natürlich in seiner Freiheit respektiert werden. Doch er braucht, um überhaupt in die Lage versetzt zu werden, wieder frei zu entscheiden, zunächst einmal eine helfende Person. Diese Hilfe und Unterstützung muss als Grundlage bleiben und darf nicht durch die Maxime des „Empowerments“ ersetzt werden. Das Empowerment kann nur greifen, wenn es eingebettet ist in eine helfende Beziehung.
Professionelle Hilfe als Ergänzung
Die beste Kompetenz bei kranken Menschen kann erst dann hervorgebracht werden, wenn diesen Patienten nicht nur Aktivierung beigebracht wird, sondern ihnen so viel Beistand und Begleitung zuteil wird, dass sie dadurch mit ihrer Krankheit gut zu leben lernen. Diesen Menschen wird man nur gerecht, wenn man als Vertreter der Heilberufe seine Verantwortung verspürt. Die Patienten haben eine Eigenverantwortung, aber die Überbetonung dieser Verantwortung könnte die Heilberufe dazu verleiten, ihre Verantwortung als helfende Berufe zu vernachläs-sigen. Das wäre dann die Konsequenz des Kults der Eigenverantwortung, dass auf diese Weise am Ende alle Verantwortung auf dem Einzelnen lastet und die Heilberufe selbst ihre professionelle Verantwortung nicht mehr richtig verinnerlichen.
Was heißt also nun Gesundheitskompetenz vor diesem Hintergrund? Für den Patienten heißt das, dass die Eigenverantwortung nicht bedeuten darf, dass man ihn einfach seinem Schicksal überlässt, sondern dass die Gesellschaft selbst sich der Verantwortung für die in Bedrängnis Geratenen nicht entziehen darf. Für die Zahnärzte bedeutet das, dass sie sich der Verantwortung für die sozial Benachteiligten und der Verantwortung auch und gerade für die alten und pflegebedürftigen Menschen nicht entziehen können. Und für die Politik bedeutet das, dass sie den Ärzten die Freiräume lassen muss, um in die Bereiche „zu investieren“, die nicht sofort nachweisbare Ergebnisse zeitigen. Die Investition in die Befähigung zur Eigenverantwortung darf nicht nur dann getätigt werden, wenn diese lukrativ erscheint, weil eine solche Investition grundsätzlich eine Investition in die Zukunft ist, deren Ertrag man nicht wird gleich abschöpfen können.
Forderung von Gesundheit bedeutet Entsolidarisierung
Damit Befähigungs- und Präventionsansätze greifen können, bedarf es kluger Strategien, die die Menschen in ihrer jeweils spezifischen Lebenswelt abholen; es bedarf Strategien, die bei diesen Menschen das Gefühl der Freude am Gesundsein und an der gesunden Lebensweise hervorbringen. Ohne die positive Besetzung des Gesundseins und des gesundheitsfördernden Verhaltens wird man nicht erfolgreich sein können. Im Gegenzug sollte Krankheit nicht mit dem Begriff der Schuld und Strafe neu in Verbindung gebracht werden, weil man damit eine grundlegende Entsolidarisierung ein-leiten würde. Es gilt, positive Anreize zu setzen, ohne zu signalisieren, dass man sich am Ende von den Krankgewordenen distanzieren würde. Es gilt daher, eine positive Motivation zu schaffen und nicht mit Strafe zu drohen. Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Präventionskampagne startet, um Gesundheit zu fördern, oder ob man sie startet, um Gesundheit zu fordern. Der Grat zwischen fördern und fordern ist nicht nur semantisch sehr schmal. Die Politik muss darauf achten, dass die an sich richtige Betonung der Eigenverantwortlichkeit nicht allmählich zu einer sanktionsbewehrten Einforderung von Gesundheit verkommt. Eine Gesundheit fordernde Gesellschaft wird die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft weiter vertiefen. Die Privilegierten haben entsprechende Ressourcen, um sich so zu verhalten, wie es dem Ideal einer auf Leistung ausgerichteten Gesundheitsgesellschaft entspricht. Aber die ohnehin benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft, die in prekären Verhältnissen leben, werden aufgrund ihrer viel geringeren Ressourcen noch weiter abgehängt.
Prävention als Investition ohne Renditeerwartung
Die Politik kann sich aus diesen Gründen nicht darauf zurückziehen, die Verantwortung für die Gesundheit ausschließlich dem Individuum zuzuweisen. Das Individuum trägt zwar unter bestimmen Voraussetzungen und bis zu einem bestimmten Grad Verantwortung für seine Gesundheit, aber es trägt sie eben nicht allein. Wie Menschen sich verhalten, ist nicht allein Resultat guten Willens. Es ist das Resultat internalisierter Reaktionsschemata, das Resultat einer im eigenen Lebenslauf erlernten Art und Weise, mit sich und der Welt umzugehen. Will man den Menschen helfen, die sich gesundheitsschädigend verhalten, genügt die Androhung von Strafe und Sanktionen nicht, weil diese Menschen keine Strafe brauchen, keine Drohgebärde, sondern eine Beziehung, die ihnen verdeutlicht, wie wichtig es ist, Distanz zu Gewohnheiten zu gewinnen. Und sie brauchen manchmal auch Entlastungen, damit sie es sich leisten können, auf ihre Gesundheit zu achten.
Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass sich die Zahnmedizin in reflektierter Weise mit dem immer lauter werdenden Ruf nach Eigenverantwortung auseinandersetzt. Gerade die gegenwärtige Ära der Ökonomisierung, Individualisierung und Entsolidarisierung ist für den sozialen Charakter der Medizin eine große Herausforderung, weil zu befürchten ist, dass die Medizin sich dadurch grundlegend verändert und sich von ihrem genuin helfenden, sozialen Auftrag entfernt. Aus guten Gründen folgt zahnärztliches Handeln von jeher dem Ideal des bedingungslos Helfenden. Versuche, dieses Paradigma aufzuweichen, rütteln an den Grundfesten der Medizin als soziale Praxis. Daher wäre gerade in unseren Zeiten die Zahnmedizin gut beraten, nicht zum Richter über den Patienten zu mutieren, sondern Anwalt und Helfer des Patienten zu bleiben. Damit sie das bleiben kann, braucht sie strukturelle Rahmenbedingungen, die es ihr ermöglichen, in Beziehungen zum Patienten zu investieren, ohne gleich Belege beibringen zu müssen, dass sich dieses Investieren unmittelbar ausgezahlt hat. Die Investition in die Förderung der Eigen- verantwortung durch die Beziehung zum Patienten ist eine goldene Investition in die Zukunft und sollte als Eigenwert und ohne unmittelbare Renditeerwartung auch vom System her honoriert werden.
Prof. Giovanni MaioInstitut für Ethik und Geschichte der MedizinStefan-Meier-Str. 2679104 Freiburg
Info
Apollonia zu Münster
Die „Apollonia zu Münster – Stiftung der Zahnärzte in Westfalen-Lippe“ vergibt jährlich einen Stiftungspreis für journalistische, beziehungsweise wissenschaftliche Leistungen. Der mit 15 000 Euro dotierte Preis wurde am 28. September 2013 in Münster an Prof. Giovanni Maio für seinen besonderen Einsatz um den Gedanken der Prävention verliehen. Die zm berichtet in der kommenden Ausgabe über die Preisverleihung.