Behandlungswunsch ohne zahnmedizinische Indikation
Der Fallbericht:
Die Zahnärztinnen Dr. AB und Dr. LM arbeiten in ihrer Gemeinschaftspraxis abwechselnd im Schichtbetrieb. Da LM gerade in Urlaub ist, lässt sich Frau SG, die eigentlich – wie ihre gesamte Familie – eine langjährige „treue“ Patientin von LM ist, kurzfristig bei AB einen Termin für einen Eckenaufbau geben.
Als die sehr gepflegte und gut gekleidete SG zu dem Termin erscheint, ist sie außer sich: Ihr sei an der oberen Front eine Ecke von der Schneidekante abgebrochen, und sie wolle diese umgehend wieder ergänzt haben, weil die Bruchstelle „so entstellend“ sei. SG ist durch ihren Beruf eine in der Region allgemein beliebte und – auch bei AB – bekannte Person.
AB untersucht SG, kann aber an den Schneidezähnen keine Bruchstelle entdecken. Sie gibt der Patientin einen Handspiegel und fragt, wo genau der Defekt sein soll. SG zeigt verzweifelt auf die Eckzahnspitze von Zahn 13, der im Gegensatz zu 23 nicht abradiert und völlig unversehrt ist, und meint, es sei doch deutlich zu erkennen, dass die Schneidekante fehle. (Zahn 23 ähnelt durch die Abrasion tatsächlich sehr einem Inzisivus, so dass die Patientin überzeugt ist, sechs gleichförmige „Schneidezähne“ haben zu müssen, also eben auch einen Zahn 13 mit Inzisalkante.)
AB überfliegt die Karteikarte, doch Zahn 13 wurde nie in irgendeiner Weise versorgt. Außerdem entnimmt sie dem Karteneintrag, dass die gesetzlich versicherte SG keine Privatleistungen bezahlen möchte oder kann.
AB versucht der Patientin nun zu erklären, dass dies das natürliche Aussehen des Eckzahns sei, was diese entrüstet zurückweist. Die Patientin ist den Tränen nah, weil die Zahnärztin ihr „kleines“ Anliegen nach einer Reparatur der vermeintlichen Schneidekante nicht zu akzeptieren scheint. Sie gibt an, sich „ganz sicher“ zu sein, dass bei ihr an 13 die mesiale Ecke einer Schneidekante verloren gegangen sei, und hält an ihrem Behandlungswunsch – der durchgängigen (Re-)Konstruktion einer Inzisalfläche mittels Kompositaufbau – fest.
Für die Behandlung von SG bei AB wurde von der Assistenz ein Termin von einer halben Stunde eingeplant, der so kurzfristig nicht mehr anderweitig zu füllen ist. AB sieht, dass ein Kompositaufbau mesial und vestibulär an 13 in der Form einer Schneidekante hier die Funktion nicht behindern würde. Sie ist unschlüssig:
• Soll sie der Patientin den Behandlungswunsch mit Blick auf den von der Patientin vermittelten Leidensdruck erfüllen, obwohl es hierfür keine zahnmedizinische Indikation gibt?
• Und, wenn ja, wie soll sie mit dem heiklen Thema „Privatleistung“ umgehen?
• Welche kollegialen Verpflichtungen bestehen gegenüber LM, die immerhin die gesamte Familie von SG zu ihren Patienten zählt und vermutlich ein Interesse hat, dass das aktuelle Problem ohne Eklat und möglichst zur Zufriedenheit der Patientin gelöst wird?
Brigitte Utzig
Dr. med. dent. Brigitte UtzigSaarbrücker Str. 6366901 Schönenberg-Kübelberg
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachengte-med-sekr@ukaachen.de
Dr. med. dent. Bernd OppermannBahnhofsallee 3331134 Hildesheim
Prof. Dr. Dr. Robert SaderKlinik für Mund-Kiefer- und Plastische GesichtschirurgieGoethe-Universität FrankfurtTheodor-Stern-Kai 760596 Frankfurtrobert.sader@kgu.de