Der Osten ist krank
Europa sehe sich bedeutenden Veränderungen unterworfen, die die Planung der Prävention und Versorgung entscheidend beeinflussen würden, sagte WHO-Regionaldirektorin Zsuzsanna Jakab bei der Vorstellung des Berichts in London. „Aber es gibt beharrliche und weitverbreitete Ungleichheiten in der Gesundheit, die sich teilweise noch verschlimmern. Sie sind unnötig und ungerecht und müssen von uns gemeinsam bekämpft werden.“
Das europäische Regionalbüro der Gesundheitsorganisation veröffentlicht den Health Report alle drei Jahre. Die Publikation berichtet aus allen Staaten der WHO-Region Europa, in der knapp 900 Millionen Menschen leben. Die Region geht in der WHO-Definition über die Grenzen der EU hinaus, zum Beispiel auch Russland und Kasachstan zählt die Organisation dazu.
Unterschiede nehmen zu
Die Lebenserwartung in Europa ist seit 1980 im Durchschnitt um fünf Jahre gestiegen und lag 2010 für Neugeborene bei 80 Jahren für Frauen und 72,5 für Männer. Die Hauptgründe dafür sieht die WHO in einem größeren Bewusstsein über gesundheitliche Risikofaktoren und in verbesserten sozioökonomischen Bedingungen. Auch die Kindersterblichkeit ist deutlich zurückgegangen,sie liegt mittlerweile bei 7,9 pro 1 000 Lebendgeburten. Damit hat Europa die geringste Kindersterblichkeit der Welt. Zwischen 1990 und 2010 ist sie um mehr als die Hälfte gesunken.
Trotzdem gibt es zwischen Bevölkerungsgruppen und einzelnen Staaten große Unterschiede. Während die Menschen zum Beispiel in Skandinavien deutlich älter werden, sinkt die Lebenserwartung in den östlichen Ländern. Hier müsse dringend gehandelt werden, sagte Claudia Stein vom europäischen Regionalbüro der WHO der Deutschen Presse-Agentur (dpa). „Einige Länder, wie etwa die Türkei, haben dramatische Verbesserungen erreicht und das zeigt, dass das möglich ist.“ In Deutschland werden laut Report neugeborene Jungen durchschnittlich 78,1 Jahre alt, Mädchen 83,1. Rund 80 Prozent aller Todesfälle in Europa führt die WHO auf nicht-übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zurück. In Deutschland oder Frankreich sterben knapp neun von 100 000 Menschen aufgrund von Herz-Kreislauf-Leiden, bevor sie das 65. Lebensjahr erreichen. In Russland oder in der Ukraine sind es fast 115.
Zu den größten Risikofaktoren haben sich in den vergangenen Jahren Tabak- und Alkoholkonsum entwickelt. Bei 6,5 Prozent aller Todesfälle ist Alkohol die Ursache. Die stärksten Trinker sind die Moldawier mit 21 Litern Alkohol pro Person und Jahr. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Israeli trinkt nur rund zweieinhalb Liter. Eine weitere Gesundheitsgefahr bleibt das Rauchen. Geschätzte 27 Prozent der über 15-Jährigen rauchen regelmäßig. Auch hier gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern. Während in Armenien deutlich über die Hälfte der Männer raucht, ist es in Island nur jeder Fünfte.
Neue Gesundheitsgefahren entstehen außerdem durch die zunehmende Verstädterung. Nach Angaben der WHO lebten 2010 70 Prozent der Menschen in Europa in Städten. Dieser Trend werde sich fortsetzen, 2045 sollen bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in einem urbanen Umfeld wohnen. „Die Menschen werden dadurch anderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt“, erklärte Stein der dpa. Urbane Probleme sind für die WHO etwa Fettsucht und Smog. Luftverschmutzung verkürzt das Leben durchschnittlich um acht Monate, in den am stärksten belasteten Städten sogar um zwei Jahre. Am größten ist die Verschmutzung in Bosnien-Herzegowina und in Bulgarien.
Die Geschichte ist schuld
Woher aber kommen die großen Ungleichheiten zwischen Ost und West? Eine aktuelle Studie, die im britischen Fachjournal „The Lancet“ veröffentlicht wurde, führt sie auf die politische Geschichte Europas zurück. Sie habe tiefe Unterschiede bei der Gesundheit der Bevölkerung hinterlassen, schreiben die Autoren, die an der Universität Rotterdam, der London School of Hygiene and Tropical Medicine und am Europäischen Überwachungszentrum für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik der WHO beschäftigt sind. Der Tabak- und der Alkoholkonsum seien in Westeuropa viel reglementierter, was sich im Gesundheitszustand der Bevölkerung niederschlägt. Zudem hätten Fortschritte in der Medizin und die Einführung einer effizienten Gesundheitspolitik Westeuropa Erfolge gebracht, heißt es in der Studie. In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion konnten solche Erfolge nicht erzielt werden. Die dortige Gesundheitspolitik beurteilen die Wissenschaftler als mangelhaft. „Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren viele Bereiche der Gesundheitspolitik ernsthaft unterentwickelt“, schreiben sie. „Es hat fast gar keine Kontrolle des Tabakkonsums stattgefunden.“ Regelungen zum Alkohol habe es nur sporadisch gegeben. Auch das Bewusstsein für eine gesunde Ernährung sei kaum vorhanden gewesen. Dies habe zu einem gehäuften Auftreten chronischer Erkrankungen geführt. Der Vorsprung des Westens sei bis heute noch nicht aufgeholt.