Ich sehe Dich nicht, Du siehst mich nicht
Wohin man auch hört, wohin man auch schaut: Das Zusammenleben wird härter, der Umgangston rauer, der öffentliche Raum zur Nahkampfzone und der berufliche Alltag zum Spießrutenlauf. Das Interesse gilt im Folgenden insbesondere der Rolle der Wertschätzung im beruflichen Alltag. Was macht sie so wichtig? Warum bleibt sie so oft auf der Strecke? Und was kann man ganz konkret dafür tun, dass sich Menschen ihren beruf- lichen Alltag nicht gegenseitig zur Hölle machen? Der französische Philosoph Alain (Émile-Auguste Chartier) schrieb einmal: „Der unhöflichste Ort der Welt ist die Familie.“ Und er begründet diese Sichtweise damit, dass den Menschen in der Familie die notwendige Distanz zueinander fehle, die man braucht um einander auszuhalten. Die räumliche, zeitliche und psychische Nähe sei die Ursache dafür, dass sich Menschen gegenüber Familien-mitgliedern mehr herausnehmen als gegenüber anderen Personen.
Nun ist das Team einer Arztpraxis keine Familie im eigentlichen Sinn, und doch gibt es Indizien, die die Analogie zwischen Familien- und Praxisalltag nahelegen. Denn auch in der Praxis besteht eine große Nähe zwischen den Menschen. Hinzu kommen die Hierarchie, die Verpflichtung, gute Arbeit zu leisten, und der Umgang mit Patienten, die sich nicht selten nur für eine einzige Person interessieren: sich selbst. Kein Wunder, dass sich Menschen vor dem Hintergrund dieser Gemengelage bisweilen auf den sprichwörtlichen Keks gehen können. Und wenn es bei bisweilen bleibt, besteht kein Grund zu größerer Sorge.
Werden zwischenmenschliche Reibungsverluste jedoch zum Dauerthema oder hat sich die Geringschätzung längst ritualisiert:
„Ich krieg‘ schon die Krise, wenn die nur den Mund aufmacht!“, dann ist der Schaden bereits immens.
Wenn sich bei Menschen der Eindruck verfestigt, sie verbringen den Großteil ihrer Arbeit damit, sich über die Unverschämtheit, Blödheit und Faulheit ihrer Mitmenschen zu ärgern, dann wird es gefährlich. Denn wer sich ungerecht behandelt fühlt, wer auf Anerkennung hofft, die ihm verwehrt wird, der wird auf jeden Fall eines: Seine Arbeit nicht so gut machen, wie er sie machen könnte, würde er in einem Klima der Wertschätzung arbeiten.
Idioten sind die anderen
Wo Menschen aufeinandertreffen, da sind Missverständnisse keine Seltenheit. Das ist für sich genommen solange unproblematisch, wie sich die Beteiligten darum bemühen, gegenseitiges Unverständnis aufzulösen. Ein Bemühen, das jedoch nicht immer beobachtbar ist. Der Grund hierfür besteht aus Sicht der Autoren in der hartnäckigen Leugnung eines altbekannten Sprichworts: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Anstatt den eigenen Beitrag an einem Missverständnis auch nur in Erwägung zu ziehen, glauben einige Menschen ernsthaft daran, dass der Wald uns ohne unser Rufen einfach angeschrien hat. Und das hat Folgen: Überrascht ob der Unverschämtheit des Gegenübers und im festen Glauben an die eigene Unschuld, wählen Menschen die untauglichsten Mittel zur Auflösung des Missverständnisses:
• Sie sprechen mit allen möglichen Menschen darüber, was andere wieder Böses getan haben, nur nicht mit den Bösewichten selbst.
• Sie sprechen die Aggressoren in einer aggressiven Art auf ihr vermeintliches Fehlverhalten an, dass auch den Friedfertigsten kaum eine andere Wahl bleibt als selbst aggressiv zu werden. Und so werden aus harmlosen Missverständnissen schnell handfeste Konflikte. Mit klar verteilten Rollen: Denn der Idiot ist immer der andere.
Finger an die eigene Nase
Diese Rollenverteilung kann vermieden werden. Dafür müsste jedoch eine Regel aus der Kindheit rekapituliert werden: „Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf andere Menschen.“ Der nackte Finger kann durchaus verwendet werden, aber nur, wenn er auf die eigene Nase zeigt. Das hilft enorm im Umgang mit anderen, weil sich der Blick unmittelbar und sehr wesentlich verändert. Nun wird in den Blick genommen, was verändert werden kann – nur sich selbst. Und nur so können die eigenen Möglichkeiten vergrößert werden, statt sich an anderen Menschen abzuarbeiten. Wem es ernst damit ist, sich und seinen Mitmenschen das Erdenleben zu erleichtern, wie Adolph Freiherr Knigge die Motivation zu seinem berühmtesten Werk „Über den Umgang mit Menschen“ nannte, der kehrt zunächst vor der eigenen Haustür. Es scheint eine menschliche Konstante zu sein, sehr großzügig mit sich selbst und sehr gnadenlos mit anderen zu sein. „Das ist doch nicht zu viel verlangt, das kann doch nicht wahr sein, das sollte doch selbst-verständlich sein.“
Verzweiflung und Empörung steigern sich mitunter ins Unermessliche. Doch vor lauter Aufregung über die unhöflichen und unfreundlichen Mitmenschen verliert sich der entsprechend Veranlagte selbst aus den Augen. Aber das lässt sich ändern. Über die Selbstbeschau. Denn an geeigneten Empfehlungen für ein gutes Miteinander mangelt es ja nicht, lediglich an der konkreten Umsetzung.
Man sagt, der erste Eindruck sei entscheidend. Das stimmt. Und man weiß, dass jeder Mensch nach Anerkennung strebt. Der erste Schritt für einen guten Eindruck bestünde demnach darin, seinen Mitmenschen Anerkennung zu zollen, indem man sie als Menschen wahrnimmt. Misslingt dies, ist dies der Anfang vom Ende.
Wer sich schon beim kleinen 1x1 der Höflichkeit verrechnet, der sollte nicht mit dem Verständnis seiner Mitmenschen rechnen. Ein freundliches Lächeln, ein kurzer Blick in die Augen, eine nette Begrüßung, das sich einander Vorstellen, das Nennen von Namen, ein ernst gemeintes Lob oder eine mutige Entschuldigung mögen Selbstverständlichkeiten sein. Doch ihr Ausbleiben hat ebenso selbstverständlich verheerende Folgen: Wer andere nicht für voll oder überhaupt nicht wahrnimmt, wer einmal in den Ruf gerät, Danke für ein Fremdwort zu halten, es nicht nötig zu haben zu grüßen, weil er sich für etwas Besseres hält, der kann seinen Einfluss auf andere nur noch durch Macht geltend machen. Für Höflichkeit, Charme und Charisma ist er verloren. Und so lautet eine Maxime der Höflichkeit nicht umsonst: „Ob sich Menschen im Restaurant gut benehmen können, erkennt man nicht daran, wie sie mit Messer und Gabel, sondern wie sie mit dem Servicepersonal umgehen.“
Höflichen Menschen ist dünkelhaftes Verhalten fremd. Auf die Kleinig- keiten der guten Kinderstube hat jeder Mensch ein Recht. Wirklich jeder – ob Klofrau oder Vorstandsvorsitzender.
Auf das kleine 1x1 folgt nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Anthropologie das große 1x1. Und so wissen die meisten Menschen nur zu genau, was den Umgang untereinander erheblich erleichtert und was ihn über die Maßen erschwert. Ob sie sich auch dementsprechend verhalten, das steht auf einem anderen Blatt.
1x1 der Wertschätzung
So startet jedes Knigge-Seminar mit der einfachen Frage: „Woran erkennen Sie einen wertschätzenden Menschen?“ Die Antworten variieren von Gruppe zu Gruppe und doch gibt es einige Verhaltensweisen, die immer wieder auftauchen. Sie scheinen grundsätzlich zu sein. Menschen, die andere ausreden lassen, die nicht nur von sich sprechen, sondern ihrerseits Fragen stellen, ohne einen auszufragen. Menschen, die Nähe- und Distanzzonen wahren, die unaufgefordert Hilfe anbieten, die ihre Mitmenschen nicht auf ihre Nützlichkeitsfunktion reduzieren und alle Menschen angucken, mit denen sie sprechen, und nicht nur einen.
Es sind immer wieder beeindruckende Sammlungen von wertschätzenden Verhaltensweisen, die man auf diese Art zusammenstellen kann. In der langjährigen Tätigkeit als Trainer und Coach tauchten selten Menschen auf, die die Gestaltung von verlässlichen, rücksichtsvollen und vertrauenswürdigen zwischenmenschlichen Beziehungen für unvernünftig erachten. Woran aber liegt es dann, dass sich alle etwas voneinander wünschen, was dann doch nicht in Erfüllung geht?
Selbstbild und Fremdbild
Es ist kein Geheimnis, dass die Diskrepanz zwischen dem Bild, das Menschen von sich selbst zeichnen (Selbstbild) und dem Bild, was sich andere von ihnen machen (Fremdbild) weitaus größer ist, als angenommen. Die Wirkung, die Personen tatsächlich auf andere erzielen, ist eine ganz andere, als sie denken. Das Problem dabei: Die, die etwas über die Wahrnehmung berichten könnten, sagen es meist nicht, sondern denken sich ihren Teil „nur“. Einander Rückmeldung zu geben und diese auch entgegennehmen zu können, ohne dem anderen ins Gesicht springen zu wollen, das ist des Menschen Sache nicht. Kommt eine hierarchische Konstellation hinzu, dann traut sich das Gros schlicht nicht, dem vorgesetzten Kollegen ihre Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Doch auch abseits von Hierarchien existieren eine Vielzahl von Einflussfaktoren, die den Blick trüben können: Sympathien und Antipathien, Konkurrenz und Statusverhalten oder schlicht die Unfähigkeit die Andersartigkeit des Gegenüber zu akzeptieren. Hinzu kommen Zeit- und Leistungsdruck im Alltagsgeschäft. Da bleibt schlicht keine Zeit für Höflichkeit und Wertschätzung.
Man sagt, der höfliche Mensch hat Zeit. Man sagt aber auch, Zeit ist Geld. Und überall dort, wo Menschen miteinander erfolgreich zusammenarbeiten sollen und wollen, ist Zeit naturgemäß knapp. Sind Höflichkeit und Wertschätzung vielleicht nur Relikte aus einer anderen Zeit, als die Menschen zu viel Zeit hatten? Eine Art Ringelpiez mit Anfassen, der in der modernen Arbeits- und Praxiswelt nicht viel verloren hat? Zugegeben, es handelt sich um rhetorische Fragen. Denn die Zeit, die in mehr Wertschätzung investiert wird, sprich die Zeit, die man sich nimmt, um die eigene Wirkung auf andere in Augenschein zu nehmen und zu einem Klima beizutragen, ist gut investierte Zeit. Weil sie am Ende des Tages eine Menge Zeit spart. Zeit, die sonst damit zugebracht wird, zwei verfeindete Parteien darum zu bitten, sich doch bitte im Sinne des Teams zusammenzureißen. Zeit, in der Dienstpläne mühevoll so gestrickt werden, dass die, die sich nicht riechen können, so wenig Zeit wie möglich miteinander verbringen. Zeit, die einem Fettnäpfchen erspart, deren Existenz man schon gar nicht mehr wahrnimmt und nicht zuletzt die Zeit, in der sich sprichwörtlich das Maul übereinander zerrissen wird, anstatt zu arbeiten.
Wider den Tunnelblick
Es gibt im Übrigen noch ein weiteres „Wald-Sprichwort“: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Andere nennen es auch Betriebsblindheit oder Tunnelblick. Was alle diese Metaphern eint, ist die Einsicht, dass es immer wieder aufs Neue notwendig ist, ritualisierten negativen Denk- und Verhaltensmustern auf die Schliche zu kommen. Was man dafür braucht, ist Distanz: zu sich selbst und zu den ritualisierten kommunikativen Prozessen des Teamalltags. Ein Heraustreten aus dem Gewohnten. Ein Perspektiv- wechsel, der einen anderen, einen neuen Blick hervorbringt.
Das bedeutet im Übrigen auch rein physisch einen Ortswechsel. Wer den Wald vor Bäumen nicht mehr sieht, wer nicht hört, was er in den Wald hineingerufen hat, der muss ein Stück zurücktreten, auf die Lichtung. Also raus aus der Praxis – hinein in den Dialog. Es lohnt sich. Denn nur ein wertschätzendes Miteinander ist ein erfolgreiches Miteinander.
Moritz Freiherr KniggeMichael SchellbergJülicher Str. 4140477 Düsseldorf
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Über die Autoren
Moritz Freiherr Knigge wuchs auf dem Rittergut Bredenbeck bei Hannover auf – dem Ort, an dem auch sein berühmter Vorfahr Adolph Freiherr Knigge im 18. Jahrhundert lebte. Motiviert von dessen Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ gründete er 2002 die Freiherr Knigge oHG als Agentur für wertschätzende Konstruktion Kommunikation. Seitdem hat Knigge die zeitlosen Kommunikationsstrategien seines Vorfahren konsequent weiterentwickelt und unterstützt – sei es als Autor, Coach, Workshopleiter oder Redner – Unternehmen darin, zwischenmenschliche Reibungs- und die daraus resultierenden Leistungsverluste zu minimieren.
Michael Schellberg gründete gemeinsam mit Knigge die Freiherr Knigge oHG. Der diplomierte Volkswirt mit Schwerpunkt Sozial- und Wirtschaftspsychologie leitet zusammen mit Knigge das Unternehmen, ist Mitautor der Bücher und zeichnet für die Konzeption der Workshops verantwortlich.
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