Placebo- und Noceboeffekte in der Zahnmedizin

Die Bedeutung nimmt zu

Placebo- und Nocebophänomene finden in allen Sparten der Medizin zunehmend Aufmerksamkeit. Sie sind auch in der Zahnmedizin von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Beabsichtigte oder unbeabsichtigte Transfers von Placebo- zu Noceboeffekten (und umgekehrt) können ebenfalls relevanten Einfluss auf die zahnärztliche Berufsausübung nehmen.

Hans Jörg Staehle                            

Bei nahezu jeder Heilbehandlung kommen zwei Effekte zum Tragen:

a) Zum einen geht es um spezifische Effekte, die zum Beispiel durch operative Eingriffe oder durch die Verabreichung von Medikamenten mit pharmakologisch definierten Eigenschaften eintreten.

b) Zum anderen werden bei einer Intervention gleichzeitig auch nichtspezifische Effekte hervorgerufen. Diese werden wiederum in Placebo- und Noceboeffekte differenziert. Eine ausführliche Übersichtsarbeit und Stellungnahme zu der Thematik wurde kürzlich von der Bundesärztekammer präsentiert [Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, 2010] (Zusammenfassung der Definitionen siehe Info-Kasten).

Placebo- und Noceboeffekte werden „als psychobiologische Phänomene gesehen, die durch den gesamten therapeutischen Kontext entstehen (Scheinbehandlungen, Behandlungserwartungen und Vorerfahrungen der Patienten, verbale und nonverbale Kommunikation der Behandler, Patient-Behandler-Interaktion)“ [Häuser et al., 2012].

Dass die „Droge Arzt“ nicht nur in einem positiven, sondern auch in einem negativen Sinn wirksam werden kann, wird im Bereich der Heilberufe offenbar bislang noch nicht so richtig wahrgenommen, was sich zum Beispiel auch in der einschlägigen Literatur widerspiegelt. So fanden sich bei einer kürzlich vorgenommenen Recherche in der Datenbank PubMed nur 151 Zitate zum Thema „nocebo“ (davon waren lediglich etwa 20 Prozent empirischer Natur, der Rest waren Leserbriefe, Kommentare, Editorials und Übersichtsarbeiten). Hingegen ergaben sich 150 000 Literaturstellen zum Thema „placebo“. Selbst wenn placebokontrollierte Medikamentenstudien abgezogen wurden, blieben noch 2 200 Arbeiten zum Thema „placebo“ übrig [Häuser et al., 2012].

Diese Beobachtung steht im Einklang mit einer Befragung, die im Jahr 2012 bei 61 Studierenden der Zahnheilkunde der Universität Heidelberg aus dem achten Fachsemester durchgeführt wurde [Staehle, 2012]: 92 Prozent (56) der Befragten hatten den Begriff Placebo zumindest schon einmal gehört. Davon konnten ihn allerdings nur 74 Prozent (45) korrekt definieren, 18 Prozent (11) der Befragten gaben falsche Definitionen. Acht Prozent (5) konnten mit dem Begriff „Placebo“ überhaupt nichts anfangen. Demgegenüber hatten nur sieben Prozent (4) der Befragten jemals etwas von dem Begriff „Nocebo“ gehört. Lediglich fünf Prozent (3) der Befragten konnten den Begriff Nocebo korrekt definieren, zwei Prozent (1) gaben eine falsche Antwort und 93 Prozent (57) erklärten, sie hätten den Begriff noch nie gehört oder gaben keine Antwort.

Placebo-/Nocebophänomene in der Zahnmedizin

Auch in der Zahnmedizin kommt es bei nahezu jeder Intervention neben spezifischen Effekten (zum Beispiel Lokalanästhesie, Ka-vitätenpräparation, Kariesexkavation, Zahnextraktion) zu nichtspezifischen Effekten, die von der Behandlerseite unter anderem mit der Patientenführung und von der Patientenseite unter anderem mit Erwartungen und Vorerfahrungen zusammenhängen.

Wenn es einem Zahnarzt gelingt, vom ersten ärztlichen Gespräch an über die Diagnostik, Planung und Aufklärung bis hin zu den einzelnen präventiven und therapeutischen Interventionen über einen längeren Zeitraum ein Vertrauensverhältnis zum Patienten zu schaffen, so werden im Idealfall die anhaltend positiven Erfahrungen und erfüllten Erwartungen im Sinne von Placeboeffekten so gefestigt, dass allmählich ein Zustand eintritt, der es erleichtert, auch einmal schwierigere Belastungssituationen unter Abruf dieses Placeboeffekts zu bewältigen (Infokasten).

Erwünschte/schädliche nichtspezifische Effekte

In der Literatur werden Placeboeffekte als grundsätzlich erwünscht angesehen. Sie können vom Behandler zum einen unbeabsichtigt, zum anderen aber auch ganz bewusst induziert werden. Etwas anders verhält es sich bei den Nocebophänomenen. Sie wurden in der Vergangenheit prinzipiell als unbeabsichtigt und unerwünscht beziehungsweise schädlich charakterisiert [Häuser et al., 2012]. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass auch beabsichtigte und als erwünscht bezeichnete Nocebophänomene existieren.

Beabsichtigte Nocebophänomene

Wenn ein Arzt oder eine sonst in einem Heilberuf tätige Person von zwei denkbaren Therapieverfahren die eine favorisiert und die andere eher kritisch einstuft, ist es nicht auszuschließen, dass – ungeachtet ethischer Fragen (siehe unten) – Noceboeffekte ganz bewusst hervorgerufen werden, um die Patientenentscheidung zu „lenken“. So kann sich beispielsweise ein Arzt, der seinem Patienten eine als dringend erforderlich angesehene Operation nahebringen möchte, veranlasst sehen, die Nebenwirkungen einer bisher vorgenommenen medikamentösen Therapie (zum Beispiel gegen Schmerzen) sehr stark zu betonen. Dadurch ist nicht auszuschließen, dass Noceboeffekte auftreten und zwar dann, wenn der Patient dem Rat des Arztes nicht folgt, die Operation unterlässt und die Medikamente doch weiter einnimmt. Bezogen auf die Zahnmedizin kann sich ein solches Nocebophänomen, wie im Infokasten Seite 45 aufgezeigt, darstellen.

Noceboeffekte in Infobroschüren

Bei der Patientenaufklärung sollen bekanntlich Nutzen und Risiken einer Behandlung ausgewogen dargestellt werden. Dabei sollen nicht nur die erwünschten und un- erwünschten Effekte einer Behandlung aufgezeigt werden, sondern auch die Folgen einer unterlassenen Behandlung. Hier kann wiederum das Nocebophänomen ins Spiel kommen.

In Patienteninformationsbroschüren, die inzwischen vor allem im Internet kursieren, finden sich immer wieder Formulierungen, die unter Umständen Noceboeffekte aus- lösen können. Dies soll im Folgenden anhand der Aufklärung über das Management von Einzelzahnlücken im Seitenzahnbereich verdeutlicht werden:

In der Zahnärzteschaft ist die Auffassung weitverbreitet, dass grundsätzlich jede Zahnlücke (nicht nur im Front-, sondern auch im Seitenzahnbereich) möglichst rasch geschlossen werden muss. Seitenzahn- lücken bedürfen jedoch bekanntlich nicht in jedem Fall unbedingt einer zahnärztlichen Intervention. In einer S1-Empfehlung der „Deutschen Gesellschaft für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien“ (DGPro) wird auf eine eingeschränkte Evidenz hinsichtlich der Thematik „Belassen von Lücken“ verwiesen. Dazu wird Folgendes festgestellt: „Das Belassen von unbehandelten Lücken im Seitenzahnbereich unter regelmäßiger zahnärztlicher Kontrolle unter Abwägung der Vor- und Nachteile einer Versorgung der Lücke kann eine Option sein“ [Deutsche Gesellschaft für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien, 2012].

Oftmals existieren Einzelzahnlücken über Jahrzehnte, ohne dass klinisch relevante funktionelle oder ästhetische Einbußen auftreten. Insbesondere dann, wenn die Zahnreihen hinreichend abgestützt sind, kommt es häufig nicht oder in nur geringem Umfang zu unerwünschten Zahnbewegungen wie zum Beispiel Kippungen oder Elongationen [Christou et al., 2007; Craddock und Youngson, 2004; Faggion und Listl, 2011; Kiliaridis et al., 2000; Shugars et al., 2004]. Viele Menschen weisen Zahnlücken im Bereich der Prämolaren und Molaren auf, ohne dass die Kaufunktion und/oder das Aussehen deutlich beeinträchtigt wären. Auch die Vorstellung, dass Zahnlücken automatisch Kiefergelenkserkrankungen oder noch gravierendere Folgeschäden nach sich ziehen würden, kann   heute nicht mehr ohne Weiteres aufrechterhalten werden. Es existieren inzwischen etliche Studien (siehe oben), die nahelegen, dass Probleme infolge eines Verzichts auf einen Lückenschluss oftmals überschätzt werden Die Entscheidung pro/kontra Lückenschluss sollte deshalb immer auf individueller Grundlage erfolgen. Wenn ein Patient trotz des Fehlens einzelner Prämolaren und Molaren und damit verbundener kleinerer Lücken keine pathologischen Befunde zeigt und mit seiner Gebiss-Situation zufrieden ist, erscheint es im Einzelfall durchaus vertretbar, alles zu belassen und zu beobachten (Abbildung 1).

Lücken beobachten oder schließen

Die Arbeitsgemeinschaft für Zahngesundheit gibt zum Stichwort „Brücken“ folgende Informationen heraus: „Während schon aus ästhetischen Gründen der Ersatz eines fehlenden Schneide- oder Eckzahns immer nötig ist, muss ein fehlender Seitenzahn nicht in jedem Fall ersetzt werden. Zwar ist es theoretisch richtig, dass durch einen fehlenden Zahn die Nachbarzähne in die Lücke hineinkippen können oder sich der gegenüberliegende Zahn in die Lücke hinein verlängert. Aber wie so oft im Leben: Die Theorie lässt sich in unzähligen Fällen nicht praktisch belegen. Stellungsänderungen von einzelnen Zähnen kommen vor, in großem Ausmaß sind sie jedoch selten [Walter/Böning, 2004]. Hinzu kommt, dass viele Patienten den Verlust eines einzelnen Seitenzahns auch ohne Zahnersatz als nicht störend empfinden [Marxkors/Mohr, 1985; Love/Adams, 1971; Battistuzzi et al., 1991; Shugars et al., 2000; Walter/Böning, 2004; Kiliaridis et al., 2000]. Eine Einstellung, die einer Studie zufolge viele Zahnärzte teilen, wenn bei ihnen selbst ein Backenzahn fehlt. Denn nur die Hälfte der Zahnärzte würde sich selbst einen fehlenden Backenzahn durch eine Brücke oder ein Implantat ersetzen lassen [Rosenstiel/Land/Rashid, 2004]“; [Arbeitsgemeinschaft Zahngesundheit, 2012].

Eine solche Patienteninformation ist eher selten. In der überaus größten Zahl von Patienteninformationsschriften wird vielmehr ein anderes Bild gezeichnet. Dort heißt es in aller Regel:

• „Also eines ist sicher, die Lücke muss geschlossen werden.“ [Fülöp, 2012],

• „um Folgeschäden zu vermeiden, muss eine Zahnlücke … unbedingt geschlossen werden“ [Drong, 2012],

• „um größere Schäden zu vermeiden, muss eine Zahnlücke nach einer gewissen Ausheilungszeit versorgt werden“ [Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012],

• „also: Zahnlücke beheben – aber wie?“ [Zahnheilkunde plus, 2012],

• „Zahnersatz ist zum Erhalt der restlichen Zähne ein unbedingtes Muss. Darauf weist die Zahnärztekammer Schleswig-Holstein hin und führt noch einmal die verheeren-den (!) Folgen unbehandelter Zahnlücken auf“ [Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2012],

• „jeder Zahn spielt seine Rolle im menschlichen Gebiss. Geht einer verloren durch Unfall oder Zahn-Krankheit, muss (!) er ersetzt werden, um das komplizierte Zu-sammenspiel von Kaumuskeln und Kiefergelenk bei der Nahrungsaufnahme, beim Sprechen und in der Ästhetik zu erhalten und um Folgeschäden zu verhindern“ [Landeszahnärztekammer Brandenburg et al., 2012].

Im Fall des Verzichts auf einen Lückenschluss werden gegenüber dem Patienten mannigfaltige Folgen aufgezeigt (vergleiche auch Abbildung 2):

• Karies [Landeszahnärztekammer Brandenburg et al., 2012; Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012],

• Zahnfleischerkrankungen [Drong, 2012; Fülöp, 2012; Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012],

• nächtliches Knirschen [Zahnheilkunde plus, 2012],

• Schmerzen in den Kiefergelenken [Drong, 2012; Landeszahnärztekammer Brandenburg et al., 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012; Zahnheilkunde plus, 2012],

• Schmerzen in der Gesichts-, Hals- und Kopfmuskulatur [Drong, 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012],

• optische Asymmetrie des Gesichts [Zahnheilkunde plus, 2012],

• Kopfschmerzen [Zahnheilkunde plus, 2012],

• Chronische Verspannungen [Zahnheilkunde plus, 2012],

• Rückenschmerzen [Zahnheilkunde plus, 2012],

• Ohrgeräusche, Tinnitus [Landeszahnärztekammer Brandenburg et al., 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012; Zahnheilkunde plus, 2012],

• Schlafstörungen [Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012],

• erneuter Zahnverlust [Drong, 2012; Fülöp, 2012; Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2012; Zahnarztpraxen am Checkpoint Charlie, 2012].

Effekte der Aufklärung

Wenn ein Patient der Aufforderung seines Zahnarztes, eine Einzelzahnlücke mittels Brücke oder Implantat schließen zu lassen, trotz der hier aufgeführten Warnungen nicht nachkommt, sei es, weil er Vorbehalte vor invasiven Eingriffen hat oder weil ihm die finanziellen Mittel dazu fehlen, ist das Auftreten von Noceboeffekten nicht auszuschließen. Insbesondere deshalb, da häufig Alltagsbeschwerden genannt werden, die viele Menschen gelegentlich erleiden (nächtliches Knirschen, Kopfschmerzen, Verspannungen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen und mehr). Prof. Dominik Groß wies in diesem Zusammenhang auf folgenden Umstand hin: „Eine allzu ‚risikoorientierte’ Patientenaufklärung kann tatsächlich dazu führen, dass Ängste und Komplikationen ausgelöst werden, kurz: dass sich die Gesundheits- situation des Patienten durch eine negative Erwartungshaltung verschlechtert“ [Groß, 2012]. Diese Aussage soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass man nicht über die negativen Folgen einer unterlassenen Behandlung aufklären soll. Sie soll aber dazu beitragen, dass auch potenzielle Nocebo- effekte in Erwägung gezogen werden.

Noceboeffekte in der Komplementärmedizin

Auch in der Alternativ- oder Komplementärmedizin wird ganz offenkundig mit Nocebophänomenen gearbeitet, wenn die Behandler potenzielle Nebenwirkungen von „schulmedizinischen“ Eingriffen herausheben und ihre eigenen Konzepte als besonders risikoarm bewerben. So ist zum Beispiel bekannt, dass „Informationen“ über angeblich krank machende Dentalmaterialien (früher Amalgame, heute Kunststoffe) bei einem bestimmten Bevölkerungsanteil zu der Vorstellung von Gesundheitsbeeinträchtigungen führen [Bailer et al., 2000; Bailer et al., 2001]. Bei Personen, die über mannigfaltige Symptome klagten und diese auf Dental-materialien (hier: Amalgam) zurückführten, hatte eine Entfernung der zahnärztlichen Restaurationen (ohne oder mit begleitender „biologischer Entgiftung“ mit wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Methoden) einen ähnlichen Effekt wie ein Gesundheitstraining (ohne Entfernung der Restaurationen) [Melchart et al., 2008]. Insofern besteht durchaus die Möglichkeit, dass hier auch Nocebophänomene zum Tragen kommen. Es ist denkbar, dass Noceboeffekte in einem ersten Schritt bewusst erzeugt werden, um sie dann in einem zweiten Schritt mit Placebos anzugehen.

Es erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass in die Medien lancierte Nocebo-Botschaften über Substanzen, die für zahnärztliche Zwecke verwendet oder empfohlen werden, über die Zeit betrachtet einen wellenartigen Verlauf nehmen. In den 1990er-Jahren schlugen hier die Wellen besonders hoch aus (siehe Abbildung 3).

Als erwünscht bezeichnete Nocebophänomene

Ebenfalls in der Alternativmedizin (hier: Homöopathie) gibt es Effekte, die sich als „erwünschte“ Noceboeffekte interpretieren lassen. Es handelt sich dabei um die sogenannte Erstverschlimmerung. Der einschlägigen Literatur ist dazu Folgendes zu entnehmen: „Bei einem Teil der homöopathisch behandelten Patienten tritt nach Einnahme der homöopathischen Arznei eine vorübergehende Verschlimmerung der Symptome auf. Man bezeichnet sie allgemein als ‚homöopathische Erstverschlimmerung’… Eine homöopathische Verschlimmerung wird als prognostisch günstig für den weiteren Krankheitsverlauf bewertet“ [Dahler, 2008]. Eine Erstverschlimmerung dient als wichtiger Hinweis, dass das „rich-tige“ homöopathische Mittel ausgewählt wurde.

Legt man die Vorstellung zugrunde, dass homöopathische Effekte als psychologische Phänomene zu sehen sind, die nicht durch spezifisch-medikamentöse Inhaltsstoffe homöopathischer Arzneimittel, sondern durch den gesamten therapeutischen Kontext entstehen (einschließlich Behandlungserwartungen und Vorerfahrungen der Patienten, verbale und nonverbale Kommunikation der Behandler, Patient-Behandler-Interaktion), dann wäre die – dem Patienten als mögliche Wirkung angekündigte – homöopathische „Erstverschlimmerung“ als eine Art erwünschtes Nocebo im weiteren Sinne anzusehen. Im Gegensatz zu den oben angeführten Situationen handelt es sich aber nicht um eine beabsichtigte Noceboreaktion, da der Homöopath zunächst einmal abwartet, ob der Patient über eine Symptomverstärkung berichtet oder nicht, und erst dann seine Konsequenzen daraus zieht. Allerdings dürfte diese Interpretation von Anhängern der Homöopathie nicht geteilt werden, da diese von einer spezifischen, genuinen Wirkung ihrer Arzneimittel ausgehen.

Ethische Implikationen

Häuser et al. weisen darauf hin, dass einerseits die Verpflichtung besteht, Patienten über Behandlungsmaßnamen und damit verbundene potenzielle Nebenwirkungen zu informieren, damit sie adäquat selbst entscheiden können. Andererseits ist es das Ziel des Arztes, die Risiken eines medizinischen Eingriffs für den Patienten zu minimieren, einschließlich der „Risiken einer Aufklärung“ [Häuser et al., 2012]. Dazu gehört es auch, Noceboeffekte zu vermeiden.

Im Sinne ethischer Implikationen ist vom „Dilemma des Aufklärungsgesprächs“ die Rede [Häuser et al., 2012].

Um solche Dilemmata zu begrenzen, sollte nicht nur hinsichtlich der spezifischen, sondern auch der nichtspezifischen Effekte einer Behandlung der Aspekt der Nutzen- Risiko-Abwägung unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes im Sinne einer hermeneutischen Sichtweise Beachtung finden.

Die vier Ethikprinzipien von Beauchamp und Childress (Patientenautonomie, Non-Malefizienz, Benefizienz, Gerechtigkeit) bieten gute Anhaltspunkte für entsprechende Problemlösungen im (zahn)ärztlichen Alltag [Groß, 2012].

Fazit

Placebo- und Noceboeffekte sind ein in verschiedenen medizinischen Richtungen weitverbreitetes Phänomen. Sie sind auch für die Zahnmedizin von großer Bedeutung. Den Empfehlungen der Literatur, ethische Implikationen beim Umgang mit Placebo- und Noceboeffekten zu erörtern, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Dabei sollten auch Sonderfälle von beabsichtigten und erwünschten Noceboeffekten Berücksichtigung finden. Insbesondere das Fördern von Noceboreaktionen und die nachfolgende Behandlung der entstandenen Symptome mit Placebos lassen sich weder in der Medizin noch in der Zahnmedizin ernsthaft rechtfertigen.

Prof. Dr. Dr. H. J. StaehlePoliklinik für ZahnerhaltungskundeMZK-Klinik des Uni-Klinikums HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 Heidelberghans-joerg.staehle@med.uni-heidelberg.de

Info

Beispiel für Placeboeffekte in der Zahnmedizin

Ein Zahnarzt plant bei einem Patienten einige kleinere restaurative Interventionen im Unterkiefer, die keine nennenswerten Schmerzen erwarten lassen und die viele Patienten erfahrungsgemäß problemlos ohne Lokalanästhesie tolerieren. Er möchte den Patienten in die Entscheidung pro/kontra Anästhesie einbeziehen. Er selbst hält beide Optionen für gangbar, favorisiert aber den Verzicht auf eine Anästhesie. Er klärt den Patienten dahin-gehend auf, dass dieser während der restaurativen Therapie allenfalls sekundenweise etwas bemerken werde. Falls gewünscht, könne er im Bedarfsfall jederzeit während der Behandlung eine kleine ört-liche Betäubung noch nachholen, damit das Prozedere für beide Seiten angenehm sei.

• Wenn der Patient dem Vorschlag (Verzicht auf eine Anästhesie) zustimmt und er während der folgenden Sitzungen tatsächlich keine relevanten Schmerzen verspürt, so wird sich nach und nach eine „Placebosituation“ im weiteren Sinne einstellen.'Selbst wenn wider Erwartungen einmal kurz eine stärkere Sensation auftreten sollte, wird der Patient das unter den vorgegebenen Bedingungen vermutlich hinreichend tolerieren.

• Wenn der Patient diesem Vorschlag nicht zustimmt und auf einer Lokal- anästhesie besteht, kann der Zahnarzt nach kurzer Aufklärung über die wichtigsten Risiken und Nebenwirkungen (etwa: „es fühlt sich nachher noch ein bisschen taub an“, eventuelle Umstände, nämlich dass man mit einem Gefäß oder einem Nerv in Kontakt kommt, „treten nur sehr selten auf“) eine Leitungsanästhesie vornehmen und mit seinen Behandlungsmaßnahmen beginnen. Auch in einem solchen Fall dürfte sich eine entsprechende „Placebosituation“ einstellen, wenn die Erwartungen des Patienten erfüllt werden und er anhaltend gute Erfahrungen macht.

Info

Beispiel für Noceboeffekte in der Zahnmedizin

Analog zur im Infokasten der vorigen Seite geschilderten Ausgangssituation plant der Zahnarzt einige kleinere Interventionen, die keine nennenswerten Schmerzen erwarten lassen. Um dem Patienten die „Spritze zu ersparen“ und ihn in Richtung „Behandlung ohne Lokalanästhesie“ zu lenken, klärt er ihn offensiv über eventuelle Unannehmlichkeiten, Risiken und Nebenwirkungen auf. Für eine Leitungsanästhesie im Unterkiefer benötige man eine lange Nadel, die man tief bis zum aufsteigenden Ast des Unterkieferknochens vorstoßen müsse. Die Nadelspitze müsse zur Orientierung den Knochen zunächst berühren und dann etwas zurückgezogen werden.

Das sei nicht ganz angenehm. Es gehe nicht nur um das Einstechen mit der Nadel in die Schleimhaut an sich, sondern auch darum, dass eventuell ein Blutgefäß tangiert (Gefahr einer Herz-Kreislauf-Komplikation) oder gar ein Nerv verletzt wird, was zu einem anhaltenden Taubheits- gefühl der Zunge und/oder der Lippe führen könne, wenn auch selten. Auf jeden Fall fühle sich alles für einige Stunden sehr dick, pelzig und taub an. Es bestehe die Gefahr, dass sich der Patient später auf die Zunge oder Wange beißt und sich dadurch schmerzhafte Verletzungen zufügt. Die Verkehrstüchtigkeit sei nach der Behandlung nicht gegeben.

• Wenn der Patient diesem Vorschlag (Verzicht auf eine Anästhesie) aufgrund der betonten Darstellung und einer daraus verstärkten „Angst vor der Spritze“ im Sinne eines beabsichtigten Nocebo- effekts zustimmt und er während der folgenden Sitzungen tatsächlich keine relevanten Schmerzen verspürt, so wird sich nach und nach vermutlich die gleiche wie im zweiten Kasten beschriebene Situation zeigen.

• Wenn der Patient diesem Vorschlag allerdings nicht zustimmt und auf einer Lokalanästhesie besteht, wird der beabsichtigte Noceboeffekt zum Problem. Der Patient wird das gesamte Prozedere der Anästhesie nunmehr vermutlich als wesentlich schmerzhafter und belastender empfinden. In anderen Fachgebieten gibt es dazu entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen.

So wurde eine Lokalanästhesie bei Schwangeren vor der Geburt entweder in einem eher positiven oder einem eher negativen Kontext angekündigt. Der empfundene Schmerz war beim eher negativen Kontext signifikant stärker [Varelmann et al., 2010].

Info

Definitionen von Placebo- und Noceboeffekten

• Placeboeffekte

Linderung von Beschwerden, die unter einer Scheinbehandlung und/oder durch Suggestion positiver Erwartungen entstehen. Unter einer Placeboantwort versteht man Linderung von Beschwerden, die durch positive Erwartungen des Patienten und/oder Suggestionen der Behandler erzeugt werden.

• Noceboeffekte

Beschwerden, die unter einer Scheinbehandlung und/oder durch Suggestion negativer Erwartungen entstehen. Unter einer Noceboantwort versteht man Beschwerden, die durch negative Erwartungen des Patienten und/oder Suggestionen der Behandler erzeugt werden (der Begriff Nocebo wurde erstmals von Kennedy [Kennedy, 1961] vorgeschlagen).

• Zugrundeliegende Mechanismen zur Entstehung von Placebo- und Noceboeffekten

Lernen durch Pawlow’sche Konditionierung und Reaktion auf Erwartungen, ausgelöst durch verbale Informationen oder Suggestionen

Quelle: modifiziert nach Häuser et al., 2012

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