Kiefergelenksbeschwerden und ein „Gender bias“
Der Fallbericht:
Dr. MM und seine nur wenige Jahre jüngere Nichte Dr. IM arbeiten als Zahnärzte in einer Gemeinschaftspraxis. Beide haben eigenständige Profile mit spezifischen Weiter- bildungsschwerpunkten ausgebildet, um die Behandlungsressorts in der Praxis weitgehend zu trennen.
DZ, Kriminalpolizist in gehobener Position, etwa 55 Jahre alt, sucht abends „seinen“ Zahnarzt Dr. MM auf. Er hat akute Beschwerden: Es krachte beim Nüsse Essen plötzlich heftig in der Region des rechten Kiefergelenks, und seitdem hat sich die Okklusion leicht verschoben. Die Mundöffnung ist eingeschränkt und er hat starke Schmerzen beim Öffnen und Schließen im Bereich des rechten Kiefergelenks.
MM vermutet zuerst einen Bruch und röntgt, doch es ist keine Frakturlinie zu finden. Daraufhin telefoniert MM mit seiner Nichte IM, die sich zu Hause befindet, und erfragt ihre Meinung, da die Analyse und Therapie kraniomandibulärer Dysfunktionen zu ihren Weiterbildungsschwerpunkten zählt.
IM zieht eine akute totale Diskusdislokation in Betracht, rät zur Kühlung und zur erneuten Vorstellung des Patienten nach drei Tagen in ihrer Sprechstunde. DZ erhält diesen Termin mit der Empfehlung von MM, sich bei der entsprechend fortgebildeten Kollegin weiterbehandeln zu lassen.
Doch DZ nimmt den Termin nicht wahr. Wochen später, als seine Beschwerden nachgelassen haben, stellt er sich statt- dessen wieder bei MM vor und lässt auf entsprechende Nachfrage durchblicken, dass die Behandlung durch eine Frau für ihn nicht die „erste Wahl“ sei. Die Okklusion hat sich gebessert, doch die Mundöffnung ist noch eingeschränkt. Eine Therapie der schweren CMD erscheint dringend indiziert, und MM traut sich diese selbst nicht wirklich zu. Zudem empfindet er einen Loyalitätskonflikt gegenüber seiner Nichte, die gemäß vereinbarter Aufgabenteilung eigentlich fachlich für diesen Patientenfall zuständig wäre. Abgesehen davon findet MM den offensichtlichen Gender bias – den geschlechtsbezogenen Vorbehalt des Patienten – unpassend. Wie soll er sich nun verhalten?
• Soll er – weil er das Beste für den Patienten anstrebt – die höhere Expertise seiner Nichte nochmals gezielt herausstreichen und versuchen, den Patienten von einem Behandlungsversuch bei ihr zu überzeugen – auch auf die Gefahr hin, selbst als fachlich inkompetent zu erscheinen?
• Und was wäre das adäquate (kollegiale) Verhalten mit Blick auf die Nichte: Kann er dieser überhaupt einen Patienten mit derartigen Vorbehalten „zumuten“?
• Oder soll er den Patienten ohne einen weiteren Austausch von Argumenten an einen ihm bekannten, in CMD fortgebildeten Kollegen verweisen, dessen Praxis 50 km entfernt liegt?
Dominik Groß
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 2D-52074 Aachen
Dr. med. dent. Hans-Otto BermannJoachimstr. 5440547 Düsseldorf
Prof. Dr. med. dent. Ralf VollmuthOberfeldarzt – Leiter ZahnarztgruppeFachsanitätszentrum HammelburgRommelstr. 31D-97762 Hammelburgdr.ralf.vollmuth@t-online.de
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Literaturverzeichnis
1. Beauchamp TL, Childress JF: Principles of biomedical ethics, Oxford Univ. Press, New York 2009
2. Landeszahnärztekammer Hessen [Hrsg.]: Ordnung zur Anerkennung besonderer Kenntnisse und Fertigkeiten in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Landes- zahnärztekammer Hessen, 2001