Fortbildungsteil 1/2013

Kieferorthopädischer Lückenschluss bei nicht angelegten oberen seitlichen Schneidezähnen

Björn Ludwig
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Christopher J. Lux
Bei der Behandlung der Einzelzahnlücke stellt der kieferorthopädische Lückenschluss eine sinnvolle Therapieoption dar. Am Beispiel nicht angelegter oberer seitlicher Schneidezähne können die kieferorthopädischen Möglichkeiten und die nötigen interdisziplinären Maßnahmen gut dargestellt werden. In vielen Fällen kann durch den kieferorthopädischen Lückenschluss einer Einzelzahnlücke eine Lösung mit „eigenem Zahnmaterial“ realisiert werden. Daran sollte man vor allem bei noch wachsenden Patienten differenzialdiagnostisch denken.

Aplasien permanenter Zähne sind nicht ungewöhnlich – vielmehr repräsentieren sie die häufigste kraniofaziale Malformation mit einer Prävalenz von 1,5 bis 11,3 Prozent [Baccetti, 1998; Polder et al., 2004; Larmour et al., 2005]. Die Prävalenz nicht angelegter oberer lateraler Inzisiven wird zwischen einem und zwei Prozent [Robertsson und Mohlin, 2000] angegeben. Obwohl der Entstehungsmechanismus noch nicht vollständig geklärt werden konnte, gelten – mit der Identifikation von zwei Genen (PAX9, MSX1) – genetische Ursachen als wichtige (Co-)Faktoren bei der Entstehung non- syndromaler Hypodontien [Vastardis, 2000; Matalova et al., 2008].

Eine implantat-prothetische Lösung scheidet bei jüngeren Patienten mit noch nicht abgeschlossenem Wachstum der Alveolarfortsätze aus, da es nach zu früher Implan-tation, im Laufe der weiteren Vertikalentwicklung des Alveolarfortsatzes zu einer Infraposition des Implantats kommen würde [Odman et al., 1991; Thilander et al., 1992; Kennedy, 1999; Thilander et al., 2001; Fudalej et al., 2007; Behr et al., 2008].

Der kieferorthopädische Lückenschluss stellt daher eine wichtige therapeutische Option dar.

Lückenöffnung oder Lückenschluss

Auch wenn dieser Artikel explizit die Möglichkeiten des kieferorthopädischen Einzelzahnlückenschlusses darstellen soll, ist bei der Therapieplanung differenzial-diagnostisch immer auch die Möglichkeit der Lückenöffnung mit den unterschiedlichsten Versorgungsmöglichkeiten interdisziplinär zu diskutieren. Es sei angemerkt, dass es – unabhängig von der gewählten Therapieoption (Lückenschluss oder Lückenöffnung) – der Abwägung patientenindividueller Aspekte bedarf, um individuelle, ästhetische und funktionelle Bedürfnisse bestmöglich befriedigen zu können. Bei Diagnostik und Therapieplanung der Versorgung der Einzelzahnlücke nicht angelegter oberer seitlicher Schneidezähne spielen beispielsweise folgende Aspekte eine Rolle [Kinzer und Kokich, 2005a; Kinzer und Kokich, 2005b; Kokich und Kinzer, 2005; Schopf, 2008]:

• Alter: chronologisch und skelettal (Umfang des noch zu erwartenden Wachstums)

• Profiltyp: Ein konvexer Profiltyp spricht eher für Lückenschluss, ein konkaver eher für Lückenöffnung.

• Skelettale und dentale Relationen im Fernröntgenseitenbild: Ein stark mikrognather Oberkiefer birgt zum Beispiel die Gefahr der Entstehung einer umgekehrten Frontzahnstufe bei reziprokem Lückenschluss (= Distalbewegung der Frontzähne und Mesialbewegung der Seitenzähne).

• Okklusion: Besteht beispielsweise bereits eine Angle Klasse II im Molarenbereich (= Distalokklusion um eine Prämolaren- breite), spricht dies für einen Lückenschluss, da diese um eine Prämolarenbreite distale Molarenokklusion ohnehin eingestellt würde.

• Form und Farbe des Eckzahns [Brough et al., 2010]

• Durchbruchsposition des Eckzahns: Bricht dieser bereits weiter mesial, beziehungsweise an der Stelle des seitlichen Schneidezahns durch, spricht dies eher für einen kieferorthopädischen Lückenschluss.

• Verlauf der Lachlinie

• Gingivaverlauf

• Symmetrische oder asymmetrische Verteilung der Aplasien

• Zustand der Dentition

• Mundhygiene und Motivation des Patienten

Es existieren natürlich Ausnahmefälle, bei denen es der Berücksichtigung weiterer Befunde bedarf. Als Beispiel sei die ektodermale Dysplasie genannt, bei der – neben anderen Befunden – eine Hypodontie sowie eine Hypoplasie der nicht zahntragenden Alveolarfortsätze vorgefunden werden kann [Ludwig et al., 2008]. Hier kann die kieferorthopädische Behandlung durch Zahnbewegungen zu einer für die prothetische Versorgung strategisch günstigen Verteilung der Pfeiler führen.

Als weiterer, sehr vorteilhafter Nebeneffekt kommt es im „Windschatten“ der Zahnbewegungen (Zugseite) durch die hypoplastischen Abschnitte des Alveolarfortsatzes zur Knochenapposition, die das knöcherne Lager für die Insertion eines Dentalimplantats zu bilden vermag („implant site development“) [Zachrisson, 2003].

Wobei auch hier vor allem im ästhetisch sensiblen Frontzahnbereich diese Methode einer kritischen Abwägung bedarf.

Der Alveolarfortsatz wird in seiner horizontalen und in seiner vertikalen Dimension bereits während einer möglichen Lückenöffnung verändert. Dies könnte bei einer nachfolgenden prothetischen Rehabilitation zu therapeutischem Mehraufwand (zum Beispiel der Notwendigkeit augmentativer Verfahren) führen [Uribe et al., 2013].

Kieferorthopädischer Lückenschluss

Bei Entscheidung zugunsten eines kieferorthopädischen Lückenschlusses gibt es unter therapeutischen Gesichtspunkten folgende Möglichkeiten:

1) Verankerungsbedarf:

a) ohne zusätzlichen Verankerungsbedarf

b) mit zusätzlichem Verankerungsbedarf – zum Beispiel bei unilateralem Lückenschluss

2) Ästhetische und funktionelle interdis- ziplinäre Umgestaltung der Zähne und der Gingiva:

a) mit Umgestaltung

b) ohne Umgestaltung

Schluss ohne umfangreiche Umgestaltung

Patientenfall 1:

Die Abbildungen 1a und 1b zeigen einen neun Jahre und sechs Monate alten Patienten – Situation bei Behandlungsübernahme: Neben ausgeprägten Hypoplasien mit atypischer Wurzelentwicklung der seitlichen Schneidezähne im Oberkiefer wies der Patient verschiedene andere kieferorthopädisch relevante Probleme auf, wie starke Engstände in beiden Kiefern sowie einen ausgeprägten Tiefbiss.

Es zeigte sich eine extreme Hypoplasie/ Dysplasie des Zahnes 12 sowie eine geringe Hypoplasie des Zahnes 22; der Engstand in beiden Kiefern war zudem deutlich. Der Therapieplan sah eine Extraktion der Zähne 12 und 22 vor. Der dadurch gewonnene Raum sollte zur Auflösung des Raummangels beziehungsweise der Engstände in den Stützzonen genutzt werden. Da auch die Stützzonen im Unterkiefer von ausgeprägtem Raummangel betroffen waren, bot sich die Ausgleichsextraktion der Zähne 34 und 44 an. Zusätzlich sollte eine Bisshebung und das Einstellen einer neutralen Molaren-Relation erfolgen.

Fünf Jahre nach Abschluss der aktiven kieferorthopädischen Behandlung (Abbildungen 1c und 1d) ist der Patient 17 Jahre und acht Monate alt. Es zeigt sich eine recht harmonische Gingivarelation der zentralen Schneidezähne im Verhältnis zu den Eckzähnen. Die Okklusion ist nach wie vor stabil, es entwickelte sich lediglich ein leichter Engstand im Bereich der unteren Frontzähne (etwa vier Jahre nach Abschluss der Retentionsphase).

Dieses Behandlungsbeispiel illustriert, dass im Rahmen der kieferorthopädischen Behandlung verschiedenste Anomalien der Gebissentwicklung in ein Gesamtbehandlungskonzept integriert werden können. Dadurch, dass die oberen Eckzähne nach Extraktion der atypisch entwickelten lateralen Schneidezähne an deren Position durchgebrochen sind und im Unterkiefer eine Ausgleichsextraktion erfolgte, konnte auf invasive Verankerungstechniken zur Mesialisierung der Seitenzähne verzichtet werden. Auf eine ästhetische interdisziplinäre Umgestaltung, sowohl der Zähne als auch der Gingiva, verzichteten der Patient und die Eltern bewusst.

Patientenfall 2:

Die Abbildungen 2a bis 2c zeigen eine Patientin, bei der die Eckzähne nahezu an der Stelle der nicht angelegten seitlichen Schneidezähne durchbrachen. Somit war der Verankerungsbedarf beim Mesialisieren der Seitenzähne prinzipiell nicht sehr hoch – dennoch wurde hier zur Sicherheit ein skelettal verankerter T-Mesialslider eingesetzt. Nach erfolgtem Lückenschluss wurde die ästhetische Situation gemeinsam mit der Patientin, den Eltern sowie dem Hauszahnarzt reevaluiert. Es zeigte sich, dass sowohl die Form als auch die Farbe der Eckzähne gut mit denen der seitlichen Schneidezähne korrespondierten und dass ein dezentes Beschleifen der Eckzahnspitzen als remodellierende Maßnahme auszureichen schien [Thordarson et al., 1991]. Die Form und die Position der ersten Prämolaren imitierten unauffällig die Eckzähne – lediglich der Gingivaverlauf im Bereich des ersten Prämolaren (jetzt Eckzahnersatz) sollte durch eine Gingivektomie verbessert werden. Ein weiteres Remodellieren der Eckzahnspitze mit einem dezenten Bleaching ist geplant.

Schluss mit umfangreicher Umgestaltung

Bei folgendem Lückenschluss waren ein zusätzlicher Verankerungsbedarf und eine additive ästhetische und funktionelle interdisziplinäre Umgestaltung der Zähne sowie der Gingiva notwendig.

Abbildung 3a zeigt einen Patienten mit bilateraler Aplasie der oberen seitlichen Schneidezähne. Er wies eine um eine halbe Prämolarenbreite distale Okklusion auf. Daneben fand sich ein unnatürlicher Gingivaverlauf. Die Eckzähne erwiesen sich, sowohl in der Form als auch in der Farbe, zur Substitution der lateralen Schneidezähne als ungeeignet.

Behandlungsziele waren der Lückenschluss von posterior, ohne Veränderung der sagittalen Position der Front, die Verbesserung des Gingivaverlaufs sowie die Umgestaltung der Zahnformen.

Okklusion und Verankerung:

Im Molarenbereich sollte bei dem Patienten eine prämolarenbreite, distale Okklusion eingestellt werden, da im Unterkiefer alle bleibenden Zähne vorhanden waren. Ein durchschnittlicher seitlicher Schneidezahn weist eine mesio-distale Ausdehnung von etwa sieben Millimetern auf – dies entspricht der Breite eines Prämolaren. Dieser Umstand erleichtert die Okklusionseinstellung [Schopf, 2008]. Um diese Okklusion ohne reziproke Nebenwirkungen zu erreichen, bedarf es einer Verankerung. Die auf die Zähne und auf die abstützenden Gewebe einwirkenden Kräfte wirken im Sinne des dritten Newton'schen Gesetzes („actio gleich reactio“) reziprok [Schopf, 2008].

Die Mesialisierung nahezu aller Zähne des Oberkiefers zum Lückenschluss stellt besondere Anforderungen an die Verankerung dar. Besonders bei unilateralen Nichtanlagen ist der Lückenschluss mit konventionellen Methoden relativer stationärer Verankerung nur schwer zu realisieren, denn es könnten reklinierte zentrale Schneidezähne sowie unästhetische Abweichungen der Zahnbogenmitten resultieren. Eine Lösung stellen am Gaumen skelettal verankerte Mechaniken, wie beispielsweise der Mesialslider, dar [Wilmes und Drescher, 2008; Wilmes et al., 2009].

Abbildung 3b zeigt, dass – nach erfolgtem Lückenschluss – der Eckzahn die Position des seitlichen Schneidezahns und der erste Prämolar die Position des Eckzahns eingenommen hat. Gingivaverlauf, Zahnform und Farbe müssen an ihre neue Position angepasst werden.

Der erste Prämolar

Prinzipiell halten verschiedene Autoren den ersten Prämolaren für geeignet, um über Veneers oder Composite-Aufbauten [Zachrisson und Stenvik; Convissar, 1986; Manhart, 2011; Zachrisson et al., 2011], eine „Eckzahn-geschützte“ Okklusion zu etablieren [Zachrisson und Stenvik; Zachrisson et al., 2011].

Torque:

Die Wurzel des ersten Prämolaren, der den Eckzahn ersetzt, muss mit einem bukkalen Wurzeltorque versehen werden, um (aus ästhetischen Gründen) die Wurzelprominenz eines Eckzahns zu imitieren [Cozzani et al., 2011].

Intrusion (Abbildung 3b):

Aus ästhetischen und aus funktionellen Gründen wird eine Intrusion (zur Erzielung einer optimalen gingivalen Höhe) mit nachfolgender Veneer- oder Kompositversorgung der ersten Prämolaren empfohlen [Kokich, 1993a; Kokich, 1993b; Zachrisson et al., 2011].

Dies kann ebenfalls eine Gruppenführung ermöglichen. Der palatinale Höcker des ersten Prämolaren kann okklusale Interferenzen bei Bewegungen des Unterkiefers hervorrufen, denen durch eine selektive Odontoplastik [Biggerstaff, 1992; Park et al., 2010] einerseits und durch eine geringe Mesialrotation andererseits begegnet werden kann [Miller, 1989; Czochrowska et al., 2003; Fiorillo et al., 2012].

Gingivektomie (Abbildung 3c):

Es kann sinnvoll sein, zusätzlich zur Intrusion eine zirkumskripte modellierende Gingivektomie/Ostektomie des Eckzahns durchzuführen [Kokich und Kinzer, 2005; Zachrisson et al., 2011].

Der Eckzahn

Torque:

Der anatomische Unterschied der Wurzelmorphologie zwischen lateralem Schneidezahn und Eckzahn macht häufig einen palatinalen Wurzeltorque erforderlich, der beispielsweise über ein geeignetes Bracket appliziert werden kann und gegebenenfalls zusätzlich über Biegungen dritter Ordnung (= Torque) verstärkt wird.

Extrusion (Abbildung 3b):

Zusätzlich zur Mesialisation wird der Zahn extrudiert, um die weiter apikalwärts lokalisierte Gingivalinie des Eckzahns der eines seitlichen Schneidezahns anzupassen. Hierbei nutzt man den Umstand, dass bei einer extrusiven orthodontischen Bewegung der Gingivarand koronalwärts folgt [Salama und Salama, 1993]. Die Eckzahnspitze kann dabei sukzessive über Odontoplastiken remodelliert werden [Thordarson et al., 1991].

Abbildung 3d zeigt diesen Patienten am Ende der kieferorthopädischen Therapie. Die Gingivalinie ist durch In- und Extrusion, kombiniert mit Gingivektomie, harmonisiert.

Darauf folgend kann die Umformung sowohl des ersten Prämolaren als auch des Eckzahns mittels additiver beziehungsweise subtraktiver Maßnahmen erfolgen. Formkorrekturen können direkt mit Kompositmaterial [Müssig et al., 2004] ausgeführt werden; alternativ kann auch eine Veneerversorgung zur Anpassung der Form und der Farbe durchgeführt werden.

Patient mit unilateraler Einzelzahnlücke

Abbildung 4a zeigt einen 13 Jahre alten Patienten mit einer unilateralen Nichtanlage des Zahnes 12 sowie einer Hypoplasie des Zahnes 22. Da die Mitten des oberen und des unteren Zahnbogens sowohl zueinander als auch zur Gesichtsmitte kongruent waren, bedurfte es einer sicheren Verankerung. Eine Mesialisierung (Abbildung 4b) der Seitenzähne für einen Lückenschluss im ersten Quadranten um circa sechs Millimeter war nötig, um eine volle Klasse II Molaren-Okklusion zu erreichen. Dafür wurden als sichere Verankerung zwei (8 x 1,8 Millimeter) Minischrauben im anterioren Gaumen platziert und ein unilateraler T-Mesialslider darauf befestigt [Wilmes et al., 2009] (Abbildungen 4c und 4d).

Nach erfolgreicher Mesialisierung und kieferorthopädischem Finishing wurden die Zähne 13, 14 sowie 22 minimalinvasiv präpariert und digital abgeformt (Sirona Omnicam), um individuelle Cerec-Veneers mit Maltechnik zu erstellen (Abbildung 5a).

Abbildung 6a macht deutlich, dass bei Nichtanlage der seitlichen Schneidezähne im Oberkiefer auch die mittleren Inzisivi insgesamt schmaler sind [Olivadoti et al., 2009]. Gegebenenfalls kann daher eine Verbreiterung notwendig werden [Zachrisson et al., 2011; Mirabella et al., 2012]. Das erfolgte in diesem Fall mit einem Kompositmaterial. Die Abbildungen 6b und 6c zeigen die finale Situation.

Fazit

Beim kieferorthopädischen Lückenschluss wird ein fehlender Zahn durch einen eigenen Zahn ersetzt. Diese Art der Behandlung unterliegt grundsätzlich keiner Altersbeschränkung. Wird die Behandlung beim jungen Patienten begonnen, ist diese in der Regel im Teenager-Alter abgeschlossen. Individuell geprüft werden sollte, ob eine Lücke kieferorthopädisch geschlossen werden kann oder ob Lücken kieferorthopädisch für eine nachfolgende prothetisch-implantologische Lösung vorbereitet werden sollten. Eine enge interdisziplinäre Abstimmung ist sehr hilfreich.

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