Neue Wege für Mangelzonen
Eine adäquate Zahnversorgung ist für viele Amerikaner ein unerfüllter Wunschtraum: 130 Millionen Landsleute leben ohne Dentalversicherung, was viele davon abhält, sich Vorsorge und rechtzeitiger Behandlung zu unterziehen. Ein weiteres Problem bereitet Gesundheitspolitikern seit Jahren Kopfschmerzen: Rund 49 Millionen Einwohner wohnen in Gegenden, in denen es nicht genug Zahnarztpraxen beziehungsweise -kliniken gibt. Das amerikanische Gesundheitsministerium schätzt, dass über 9 000 Leistungsanbieter benötigt würden, um in diesen „Mangelzonen“ eine adäquate Versorgung herbeizuführen. Die Gretchenfrage ist: Wie kann die Zugangsnot gelindert werden?
Probleme sind vorprogrammiert
Es gibt durchaus Studien, die darauf hinweisen, dass Amerika einfach nicht genug Zahnärzte ausbildet: In den 80er- und 90er- Jahren schlossen mehrere zahnärztliche Ausbildungsstätten ihre Türen, was zu deutlich niedrigeren Nachwuchszahlen führte. Laut dem Bericht eines Senatsausschusses gehen heute jährlich mehr Zahnärzte in den Ruhestand als die Universitäten an Zahnarztnachwuchs hervorbringen. Da aber die Gesundheitsreform mehr Landsleuten Zugang zur Zahnversorgung ermöglichen soll und die ergrauende Babyboomer-Generation in Zukunft mehr Dentalleistungen in Anspruch nehmen dürfte, sind Probleme vorprogrammiert.
Die Zugangskrise geht aber viel tiefer als eine unzureichende Nachwuchspolitik: Sie liegt vor allem in der ungleichen geografischen Verteilung der vorhandenen Leistungsanbieter. Im Umkreis der Städte ist die Versorgung mit Zahnarztpraxen durchaus adäquat, in manchen Stadtregionen ergibt sich sogar eine Überversorgung. Extremes Beispiel: In einer Stadtregion im Bundesstaat Washington kamen auf einen Zahnarzt 948 Patienten (weit weniger als die „Ziel-Latte” von 1 500:1). In einer der ländlichen Mangelzonen im gleichen Bundesstaat wurden dagegen 12 300 Patienten pro Zahnarzt gezählt. Eine Befragung unter Zahnärzten durch die Website „The WealthyDentist” bestätigte, dass sich Leistungsanbieter in den Vorstädten eher zu viel Konkurrenz ausgesetzt sehen: Gut drei Viertel der Befragten meinten, in ihrer Region gebe es zu viele Praxen. „Als ich hierher zog, bestand der Ort aus 26 000 Einwohnern, und es gab neun Zahnärzte. Heute leben hier 55 000, und 66 Zahnärzte stehen im Telefonbuch”, beschwerte sich einer. „Wenn ich jünger wäre, würde ich meine Praxis auf dem Land aufmachen”, meinte ein anderer. „Die Konkurrenz in New York City ist einfach hart.”
Großer finanzieller Druck und hohe Schulden
Warum ziehen dann nicht mehr Leistungsanbieter in Gegenden, wo ihre Dienste dringend gebraucht werden? Die Antwort ist komplex. Zum einen stehen junge amerikanische Zahnärzte unter großem finanziellem Druck: Der durchschnittliche Studienabgänger hat am Ende seiner Zahnarztausbildung über 180 000 Dollar Schulden, berichtet die American Dental Education Association. Dazu kommt in der Regel die Investition in eine Praxis. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass sich die meisten Zahnärzte in Gegenden niederlassen, die zahlungskräftige Patienten versprechen. Neben finanziellen Vorteilen locken die städtischen Regionen mit besseren Weiterbildungsmöglichkeiten sowie guten Schulen und Freizeitaktivitäten für Kinder und Familie.
Die Verlierer im Verteilungskampf der Dentalversorgung sind die von Armut und Kriminalität geplagten Innenstädte sowie ländlich geprägte Gebiete: „small towns in the middle of nowhere”.
Hier fehlt es potenziellen Patienten oft nicht nur an Geld. Viele vernachlässigen auch aus Ignoranz heraus Vorsorge und Zahnpflege, bis es zum akuten Zahnschmerz kommt. Zahnärzte, die in Gegenden praktizieren, wo ein hoher Anteil ihrer Klienten durch die öffentliche Armenversicherung Medicaid versichert ist, beschweren sich zum einen über die schlechte Bezahlung durch die Behörden, zum anderen aber auch über unzuverlässige Patienten: Sprachbarrieren bei Immigranten, Transportprobleme und irreguläre Arbeitszeiten sind nur ein paar Probleme, die solche Klienten davon ab- halten, ihre Termine einzuhalten. All das führt dazu, dass viele Zahnärzte sich weigern, überhaupt Medicaid-Patienten anzunehmen.
Laut Gesundheitsministerium akzeptieren bundesweit nur rund 20 Prozent der Zahnärzte Medicaid.
Neues Berufsbild soll Engpässe auffangen
Im Bundesstaat Minnesota versucht man dem Versorgungsproblem mit einem neuen Leistungsanbietermodell zu begegnen. Seit 2009 ist dort das Berufsbild des „Dental Therapist (DT)” gesetzlich verankert. Angesiedelt zwischen Dentalhygieniker/in und Zahnarzt, haben die DTs die Befugnis, unter zahnärztlicher Aufsicht (Kinder-)Zähne zu ziehen, zu füllen und Kronen einzusetzen. Eine Fortbildung zum „Advanced Dental Therapist” erweitert die Bandbreite der erlaubten Leistungen und befreit Absolventen von der unmittelbaren Aufsichtspflicht, so dass sie allein zum Beispiel in Schulen, Kinderhorten oder Gesundheitskliniken aktiv werden können. Ein ähnliches Dental-Therapist-Programm existiert schon seit 2005 in Alaska, wo es vorher in schwer erreichbaren Gegenden gravierende Versorgungsengpässe gab.
Im Bundesstaat Massachusetts hat der Gesetzgeber das Berufsbild des/der DH erweitert, indem er sogenannte „Public Dental Hygienists” für Medicaid-Versicherte einsetzt. Auch diese Leistungsanbieter dürfen ohne direkte Aufsicht fungieren, haben allerdings nur eine begrenzte Befugnis: Für alle notwendigen Behandlungsmaßnahmen, die über eine Vorsorge hinausgehen, müssen die Hygieniker an einen Zahnarzt überweisen, mit dem sie vertraglich verbunden sind. Insgesamt 35 Bundesstaaten haben die Befugnisse der DTs erweitert, um Versorgungsengpässen zu begegnen, berichtet die American Dental Hygienists’ Association.
ADA warnt vor kritischen Folgen
Der vermehrte und erweiterte Einsatz dieser sogenannten „Mid-Level Providers” wird allerdings nicht von allen positiv gesehen. Die Interessenvertretung der Zahnärzte, ADA (American Dental Association), hat wiederholt zu bedenken gegeben, dass es Risiken mit sich bringt, solche Anbieter Prozeduren durchführen zu lassen, die nicht rückgängig zu machen sind – wie zum Beispiel die Entfernung von Zähnen. Die ADA favorisiert dagegen ein Modell, das sogenannte „Community Dental Health Coordinators (CDHCs)” einsetzen würde. Laut Zahnarztlobby würden CDHCs eine Art Sozialarbeiterfunktion für Zahnarztpraxen beziehungsweise -kliniken übernehmen und bedürftigen Patienten helfen, Versorgungsbarrieren zu überwinden.
Die ADA verweist darauf, dass ähnliche Ansätze im Bereich der allgemeinen Gesundheitsversorgung erfolgreich sind. So lehnt sich das Modell des CDHC eng an integrative Ansätze in der Primärmedizin an, wo ebenfalls Sozialarbeiter („Community Health Workers”) eingesetzt werden, um Patienten den Versorgungszugang zu erleichtern.
Das allein würde allerdings nicht das Problem der Verteilung lösen. Noch fehlen in den USA überzeugende Ansätze, zum einen mehr Zahnärzte in die Versorgungs-„Mangelzonen” zu locken und sie zum anderen davon zu überzeugen, Medicaid-Patienten anzunehmen. Finanzielle Anreize sind unerlässlich. Dort wo Bundesstaaten zum Beispiel die Gebührenzahlungen für Medicaid erhöht haben, nehmen viel mehr Zahnärzte an der Versicherung für Arme teil. Vielversprechend sind auch Programme, frischgebackenen Zahnärzten bei der Abzahlung ihrer Studienschulden zu helfen, wenn sie sich in Mangelzonen niederlassen (die zm werden darüber berichten).
Claudia Pieper180 Chimacum Creek Dr.Port Hadlock, WA 98339USA
Info
Grundsatz der Delegation
Dental Therapists gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in den meisten Commonwealth-Staaten und in einigen skandinavischen Ländern. Alle diese Länder haben ähnliche strukturelle Probleme: lange Entfernungen zwischen Zahnarzt und Patient sowie deutlich reduzierte Ausbildungszahlen bei Zahnärzten. Dental Therapists sind also für die Versorgung in ländlichen Regionen in diesen Staaten gewollt. Was dort als Modell zum Auffangen von Engpässen konzipiert ist – nämlich die partielle Übertragung zahnärztlicher Leistungen an Dental Therapists – wird in Deutschland von der Zahnärzteschaft als kritisch angesehen. Hier gilt der Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung durch den Zahnarzt. Näheres definiert der Delegationsrahmen der BZÄK für Zahnmedizinische Fachangestellte.
Die Ausübung der Zahnheilkunde bedarf demnach nach dem Zahnheilkundegesetz (ZHG) der Approbation als Zahnarzt. Der Zahnarzt ist zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet und persönlich gegenüber dem Patienten für die gesamte Behandlung verantwortlich. Die Vorgaben aus dem ZHG dienen der Patientensicherheit und dem Verbraucherschutz. Die Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten ist originäre Aufgabe des Zahnarztes.
Info
Wohnortnahe Versorgung
Unabhängig von den Grundsätzen der Substitution und Delegation ist es aus Sicht der BZÄK auch in Deutschland notwendig, die Entwicklungen zur wohnortnahen Versorgung und die Tendenzen zur Niederlassung von Zahnärzten genauestens zu beobachten. Der demografische Wandel und die soziologischen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur stellten, so die BZÄK, die zahnmedizinische Versorgung vor erhebliche Herausforderungen. Auch Tendenzen im Berufsstand, die unter dem Thema von Vereinbarkeit von Familie und Beruf subsumiert werden, bedürften einer Gestaltung. Die Selbstverwaltung der Zahnärzteschaft habe hierbei eine zentrale Aufgabe, damit Entwicklungen wie in anderen Ländern aufgezeigt, nicht auch in Deutschland zulasten der Qualität der Versorgung umgesetzt würden.
Die Bundeszahnärztekammer hat mit ihren Memoranden zu Familie und Beruf sowie zur demografischen Veränderung bereits Handlungsansätze aufgezeigt.