Das Muir-Torre-Syndrom
Moritz Berger, Kolja Freier, Jürgen Hoffmann
Eine 67-jährige Patientin stellte sich mit Verdacht auf ein Rezidiv eines adenoidzystischen Karzinoms im Bereich des linksseitigen Mundbodens in unserer Klinik vor. Bereits fünf Monate zuvor war alio loco der Primärtumor mit Entfernung der linken Glandula sublingualis gesichert worden. Anamnestisch gab die Patientin an, 1979 erstmals wegen eines Uteruskarzinoms operiert worden zu sein. Dem folgte unter anderem die Entfernung eines Kolon-Karzinoms 2006. Der behandelnde Zahnarzt der Patientin entdeckte im Verlauf eine suspekte Raumforderung mit dem Verdacht auf ein Talgdrüsenkarzinom der linken Wange 2007 und überwies die Patientin an eine Klinik für Dermatologie. Zwei weitere diagnostizierte Talgdrüsenadenome des Nasenrückens und des Kinns wurden im selben Jahr alio loco exzidiert. Durch das synchrone Auftreten multipler Talgdrüsenneoplasien wurde die Diagnose eines Muir-Torre-Syndroms gestellt und schließlich molekulargenetisch gesichert. 2008 und 2009 wurden alio loco in unterschiedlichen Gesichtspartien drei weitere Plattenepithelkarzinome diagnostiziert und entfernt.
Bei der Erstvorstellung in unserer Klinik wurde bei der Patientin eine ausgeprägte, derbe Raumforderung von etwa 4 cm x 6 cm Ausdehnung im Bereich des anterioren Mundbodens bis mental reichend festgestellt. Pathologisch vergrößerte, zervikale und supraklavikuläre Lymphknoten konnten bei der Patientin nicht palpiert werden. In einer Panoramaschichtaufnahme zeigte sich ein radiotransluzenter, unruhig berandeter, von regio 35/36 bis 45/46 reichender Prozess (Abbildung 1). Die computertomografische Untersuchung wies ein inhomogenes Tumorwachstum mit osteoblastischen und osteolytischen Anteilen auf (Abbildung 2).
Nach komplettiertem Staging mit Ausschluss einer Fernmetastasierung und Biopsieentnahme zur Diagnosesicherung eines adenoid-zystischen Karzinoms wurde die Patientin dem Interdisziplinären Tumorboard-Beschluss folgend mit einer Unterkiefer-Kontinuitätsresektion von 36 bis 46 unter Einschluss des anterioren Mundbodens und der Kinnpartie therapiert (Abbildung 3, Abbildungen 5a und 5b). Die Primärrekonstruktion erfolgte mit einer Überbrückungsplatte und einem mikrovaskulär anastomosierten, gedoppelten, anterolateralen Vastus-lateralis-Transplantat.
Vier Monate später erhielt die Patientin eine kombinierte Strahlentherapie (IMRT (48,9 Gy), C12-Boost (23,9 GyE)). Weitere vier Monate später folgte die Rekonstruktion des anterioren Unterkiefers mit einem mikrovaskulären Beckenkammtransplantat (Abbildung 4). Nach Implantatinsertionen (Abbildung 4) zur kaufunktionellen Rehabilitation im Jahr 2011 erfolgten ergänzend eine Vestibulumplastik und extraorale Narbenkorrekturen.
Bei der letzten Verlaufskontrolle in unserer onkologischen Sprechstunde im Juni 2013 gab es keinen Anhalt für ein lokoregionäres Rezidiv, suspekte zervikale Lymphknoten oder faziale Neoplasien. Die vorbeschriebenen pulmonalen Filiae zeigten sich hingegen leicht größenprogredient. Ebenso wurde eine suspekte, kontrollbedürftige Raumforderung im Bereich des rechten Leberlappens beschrieben. Es bestand kein Anhalt für eine thorakale lymphogene oder ossäre Metastasierung.
Diskussion
Das Muir-Torre-Syndrom (MTS) ist eine seltene Variante des hereditären nonpolypösen Kolonkarzinoms (HNPCC) und gehört zu den autosomal-dominant vererbten Genodermatosen [Ponti et al., 2005; Ko, 2010]. Dieses wird durch das synchrone oder metachrone Auftreten von Talgdrüsentumoren beziehungsweise auf Basis von Keratoakanthomen und gastrointestinalen, wie dem Kolonkarzinom, oder viszeralen Malignomen definiert [Ponti et al., 2005; Cohen et al., 1991]. Weitere Fälle wurden mit Endometriumkarzinomen, Genitaltumoren, Mamma-Karzinomen, Lymphomen, Bronchialkarzinomen oder Chondrosarkomen beschrieben [Thiers et al., 2009] .
Erstbeschrieben wurde ein Fall des Muir-Torre-Syndroms 1967 durch Muir, der einen Patienten mit zahlreichen intestinalen Karzinomen im Bereich des Kolons, des Duodenums und des Hypopharynx sowie Keratoakanthomen im Gesichtsbereich betreute [Muir et al., 1967]. Ein Jahr später berichtete Torre über einen Patienten, der über einige faziale Talgdrüsenadenome sowie an einem Duodenumkarzinom litt [Torre, 1968].
1995 definierten Schwartz und Torre das Muir-Torre-Syndrom durch synchrones oder metachrones Auftreten von Talgdrüsentumoren oder Keratoakanthomen und gastrointestinalen oder viszeralen Malignomen [Schwartz et al., 1995]. Ein Jahr später konnte eine Mutation im Bereich des MLH 1 ausfindig gemacht werden, die das Muir-Torre-Syndrom verantworten könnte [Reitmair et al., 1996].
Der vorliegende Fall einer Patientin mit MTS zeigt eine weitere Variation mit Auftreten eines adenoidzystischen Karzinoms (ACC) im Bereich des Mundbodens.
Häufig treten die syndromdefinierenden Neoplasien auf Basis von Talgdrüsentumoren oder Keratoakanthomen im Gesichtsbereich auf und werden beim regelmäßigen Zahnarztbesuch erstentdeckt (Abbildung 6). Auch andere syndromassoziierte dermale Neoplasien wie Plattenepithelkarzinome können im zervicofazialen Bereich einfach durch den behandelnden Zahnarzt bei der allgemeinen Inspektion der Patienten entdeckt und diagnostiziert werden.
Allgemein ist eine Primärmanifestation des MTS durch einen oralen Tumor mit klinisch sekundär auftretenden, dermalen oder intestinalen Malignomen denkbar. Somit ist die genaue klinische Untersuchung und Anamneseerhebung insbesondere der Familienanamnese, gerade zum Ausschluss komplexer onkologischer Krankheitsbilder unerlässlich. Ferner sollte beim Auftreten multipler Tumore an eine syndromale Genese gedacht werden und eine Überweisung zur Diagnosesicherung mit molekular-genetischer Abklärung an ein interdisziplinäres Tumorzentrum erfolgen.
Dr. med. Moritz BergerProf. Dr. Dr. Kolja FreierProf. Dr. Dr. Jürgen HoffmannKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsklinikum HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 Heidelbergmoritz.berger@med.uni-heidelberg.de