Sonderausstellung „Praxiswelten“

Fenster in die Vergangenheit

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Die Dokumentationspflicht der Ärzte gehört zu den Grundsätzen des Berufsverständnisses und soll helfen, Krankheiten und deren Heilung besser verstehen zu können. Ein schöner Nebeneffekt der schriftlichen Fixierung von Krankengeschichten: Es entsteht ein anschaulicher Einblick in die jeweilige Zeitepoche. Das Medizinhistorische Museum der Charité Berlin stellt, auf Basis von acht Patientenjournalen, acht Praxen aus 300 Jahren in der Sonderausstellung „Praxiswelten“ vor. Am Beispiel von Johann Friedrich Glaser lässt sich nachvollziehen, wie der Alltag eines Arztes Mitte des 18. Jahrhunderts aussah.

Die Namen, der Wohnort, der Beruf, das Alter der Kranken sowie die Therapie und die Bezahlung – alles wurde aufgeschrieben. In sogenannten Praxisjournalen hielten Ärzte bereits vor Hunderten von Jahren die Krankengeschichte ihrer Patienten genau fest.

Das Medizinhistorische Museum der Charité Berlin hat in Kooperation mit dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt acht historische Praxisjournale wissenschaftlich untersucht. Die Journale geben Aufschluss darüber, wie die Ärzte in der Vergangenheit gearbeitet haben. Anhand der Forschungsergebnisse wurden acht Praxen, aus der Zeit von Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, rekonstruiert. Alle Praxen liegen im deutschsprachigen Raum. Sie verteilen sich auf Orte im heutigen Deutschland, in Südtirol und in der Schweiz. Die Praxen kann man in der Sonderausstellung „Praxiswelten. Zur Geschichte der Begegnung von Arzt und Patient“ im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin besichtigen.

Die untersuchten Praxisjournale wurden bislang von der Forschung kaum beachtet. Gefördert wurde das Gemeinschaftsprojekt mit dem Titel „Ärztliche Praxis (17. bis 19. Jahrhundert)“, unter anderem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Momentaufnahmen des Praxisalltags

„Die Notiz dient dem Arzt als Gedächtnisstütze und hält seine Sicht der Dinge fest“, sagt der Direktor des Museums, Thomas Schnalke. Praxisaufzeichnungen gebe es schon seit Jahrhunderten und in zahlreichen Varianten – als Praxisjournale, Fallsammlungen, medizinische Register oder Patientenakten, erklärt Schnalke. „In ihnen konkretisiert sich die Begegnung zwischen Arzt und Patient“, so der Museumsdirektor. Das Wesen der ambulanten ärztlichen Praxis werde anhand der Aufzeichnungen greifbar.

Somit stehen die Praxisjournale auch im Zentrum der Ausstellung. Die gesamte Ausstellungsfläche ist in acht Unterbereiche gegliedert, die die jeweiligen Praxen beherbergen. Am Anfang jeder der acht Praxen finden die Besucher zunächst das geöffnete Praxisjournal vor. Aus konservatorischen Gründen handelt es sich allerdings nicht um das Original, sondern um eine Replik. Direkt daneben lädt ein Ringbuch zum Blättern ein. Hier lassen sich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung anhand von Anmerkungen nachvollziehen. Eine große Herausforderung bei der Untersuchung der Texte sei laut Schnalke die altdeutsche Sprache gewesen.

Deshalb wurden die Originaltexte in moderne Sprache übersetzt. Die Texte beschreiben den jeweils dargestellten Krankheitsfall. Wirklich lebendig wird die Ausstellung durch die „Kontext-Objekte“. Dabei handelt es sich um Ausstellungsstücke, die nicht direkt mit der Patientengeschichte zusammenhängen, dafür aber viel über den Alltag jenseits der Praxis verraten.

Präzise Beobachtung bis hin zur Urinschau

Die mit Abstand ungewöhnlichsten Kontext-Objekte gibt es am Fallbeispiel der Praxis Johann Friedrich Glaser zu sehen. Direkt neben Mörserbecher und Apothekerwaage werden hier Folterinstrumente ausgestellt. Glaser lebte im 18. Jahrhundert in Suhl und stieg dort aus einer Scharfrichterfamilie bis zum Stadtarzt auf. Dies macht seine Praxis besonders spannend.

Im Fall von Glaser handelt es sich bei dem Praxisjournal um einen 1 200 Seiten starken Sammelband. Er trägt den Titel „Medicinisches Register auf das Jahr 1750“. Volker Hess, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité, und seine Mit-arbeiterin Andrea Thümmler untersuchten die Niederschriften des Thüringer Arztes von 2009 bis 2012. Das Buch dokumentiert die Arbeit zwischen den Jahren 1750 und 1763. „Querverweise auf frühere beziehungsweise spätere Besuche lassen erkennen, dass der Arzt sowohl vor 1750 als auch nach 1763 praktiziert haben muss“, erklärt Hess.

Die Einträge sind chronologisch geordnet und beschränken sich auf die wesentlichen Fakten: Von den verordneten Arzneimitteln bis hin zum Ergebnis der Urinschau wurde alles festgehalten. „Wir haben in dem Register weder Namen noch irgendwelche Angaben zur Person gefunden“, sagt Thümmler. Durch einen Schriftabgleich mit anderen eindeutig identifizierbaren Publikationen aus der Zeit ließ sich Glaser als Autor schließlich doch zuordnen.

Kernkompetenz: Foltern und Hinrichten

„Nachdem Glasers Identität einmal geklärt war, ließ sich sein Lebenslauf schnell rekonstruieren“, sagt Hess. Glaser stammte aus einer Familie von Scharfrichtern. Eigentlich hätte er nie Arzt werden sollen. Seine berufliche Zukunft lag im Beenden, nicht im Retten von Leben. Eine ärztliche Laufbahn war für diesen gesellschaftlich geächteten Berufsstand nicht vorgesehen. Den meisten Söhnen von Scharfrichtern blieb daher oft keine andere Wahl, als das väterliche Handwerk fortzusetzen.

Viele Scharfrichter kannten sich gut mit Kräuterheilkunde aus. Somit gehörten medizinische Grundkenntnisse im weitesten Sinne auch zu ihren Aufgaben. Die Hauptfunktion eines Scharfrichters jedoch war das Ausführen von Hinrichtungen und Folterungen. Da sie alleine von dieser Tätigkeit nicht leben konnten, gestattete die Obrigkeit ihnen weitere Nebenbeschäftigungen. Im Fall der Familie Glaser waren das neben Kerzensiederei, Abdeckerei, neben dem Halten und Pflegen der herzoglichen Blut- und Jagdhunde eben auch „Kuren“, die sie vornehmen durften. Auch betrieb die Familie Glaser eine umfangreiche Landwirtschaft mit einem großzügigen Kräutergarten. Durch die Förderung eines Onkels, der es zum Kreis- und Landphysikus gebracht hatte, konnte Glaser trotz seiner Herkunft ein renommiertes Gymnasium besuchen und Medizin studieren. Neben den Medizin- und Physiologie-Vorlesungen beschäftigte er sich vor allem mit Botanik und Anatomie. Später, als praktizierender Arzt, profitierte Glaser sogar von seiner Herkunft, denn zahlreiche seiner umfangreichen Rezepturen gingen auf familiär überliefertes Wissen zurück. Sie trugen maßgeblich zur Popularität seiner Praxis bei, die weit über die Stadtgrenzen von Suhl hinausreichte.

Aufstieg zum Amts- und Stadtarzt in Suhl

Im Jahr 1758 schwor Glaser vor der Suhler Obrigkeit einen Amtseid darauf, der Stadt als Amtsarzt zu dienen, wie ein Eintrag ins Stadtregister verrät. Als Abkömmling einer Familie von Scharfrichtern war dieses Amt für Glaser alles andere als selbstverständlich.

Die Ernennung zum Stadtarzt machte Glaser zu einer geachteten Persönlichkeit in Suhl. So standen ihm nun ein fester Sitzplatz in der Kirche und zeremonielle Privilegien bei städtischen Umzügen und Festen zu. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass diese Ehrungen für ihn aufgrund seiner Abstammung besonders wichtig gewesen sein müssen.

Laut der Forscher war Glaser als Amtsarzt nun auch für die Seuchenprävention und die unentgeltliche Behandlung der Armen verantwortlich. Außerdem hatte er die Aufsicht über andere heilkundliche Berufe wie Apotheker, Hebammen und Wundärzte. Im Gegenzug konnte er sich über eine feste Bezahlung und eine freie Wohnung freuen. In Suhl besaß der Stadtarzt ein großes Anwesen, das ihm nicht nur erlaubte, eine Bibliothek einzurichten, sondern auch ein Naturalienkabinett aufzubauen sowie in einem Laboratorium eigene Versuche anzustellen.

Einzugsgebiet: Kein Weg ist zu weit

Einer seiner weitangereisten Patienten war, wie aus Glasers Aufzeichnungen hervorgeht, Moses Jacob aus Höchheim. Der jüdische Kaufmann nahm für den Arztbesuch einen 50 Kilometer weiten Weg auf sich, was für damalige Verhältnisse sehr viel war. Außerdem bedeutete es die Überquerung von zwei Ländergrenzen und somit auch steuerliche Abgaben für den Zoll. Doch Jacob wusste, worauf er sich einließ. Er reiste auch beruflich viel. So findet sich sein Name auch auf Besucherlisten der Leipziger Messe um 1750.

Jacob klagte bei dem Suhler Stadtarzt Glaser über Kopfschmerzen, Herzensangst und Herzdrücken. Den Aufzeichnungen zufolge untersuchte Glaser den Urin des Kranken, der eine dunkle, gelb-grünliche Färbung und sandartige Partikel aufwies. Ein von ihm verschriebenes Abführmittel zeigte keine Wirkung.

In den folgenden Monaten verabreichte er dem Kaufmann zahlreiche Arzneien in den unterschiedlichsten Darreichungsformen: Kräuterdampfbäder, Pflaster für die Schläfen und Sauerteigpackungen für die Füße. Auf den damals beliebten Aderlass verzichtete er, da der Patient offensichtlich nicht daran „gewehnt“ (gewöhnt) war. Ob Glasers Therapien zielführend waren, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor.

Krankheiten im Baum wegsperren

Trotz seiner beeindruckenden Karriere hielt Glaser die enge Verbindung zur heilkundlichen Praxis seiner Familie aufrecht. So legt sein Praxistagebuch immer wieder Zeugnis davon ab, dass er auch zu magischen Praktiken griff. Die Methode des „Verbohrens“ beispielsweise sollte einen Gastwirt von der Lähmung in seinen Beinen befreien. Dabei wurde das Leiden auf einen anderen Gegenstand übertragen, in diesem Fall einen Holzscheit, und dieser in das Innere eines Baumes genagelt. Das Ritual sollte helfen, die Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes wegzusperren.

Glasers Interesse für Botanik, das während des Studiums entfacht wurde, sollte den Arzt ein Leben lang begleiten. Ein Zufallsfund – erst vor wenigen Jahren – belegte dies eindrücklich. Drei mit Glasers Namen versehene Herbarien wurden im Herbst 2010 auf einem Dachboden in Suhl-Heinrichs gefunden. Diese Kräuterbücher sind eine Sammlung gepresster Pflanzen mit deren Namen und medizinischer Bedeutung versehen. Die letzten beiden Bände enthalten Pflanzen, die Glaser auf Wanderungen in Suhl und Umgebung gesammelt hatte. So lässt sich nachvollziehen, dass die Wege des Arztes beim Botanisieren die Orte kreuzten, in denen er Verwandte besuchte, und wo er den einen oder anderen Patienten kennengelernt haben mag.

Verbindende Erzählung nicht möglich

Es sind diese kleinen Geschichten hinter der Praxis, die Schnalke an der Ausstellung schätzt. „Wir wollen acht Zeitfenster öffnen“, sagt der Direktor, „die den Blick auf sehr unterschiedliche ärztliche Tätigkeiten freigeben.“ Eine Verbindung der einzelnen Praxen könne und wolle die Ausstellung jedoch nicht leisten. „Auf eine verbindende Erzählung wurde bewusst verzichtet“, so Schnalke. Die Praxen seien nur „Inseln“ in der gesamten Entwicklung und eine kontinuierliche Entwicklung über die Jahrhunderte sei nur schwer darstellbar.

Dennoch könne man das hier gezeigte „sonst nirgendwo sehen“, ist Marion Maria Ruisinger vom Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt überzeugt. Sie hat die Ausstellung gemeinsam mit Schnalke ins Leben gerufen. Gedruckte Bücher über die Geschichte der Medizin seien oft „beschönigend oder dramatisierend“. Einen authentischen Eindruck vom Praxisalltag könne man nur durch Aufzeichnungen erlangen. Ruisinger sagt: „Die handschriftlichen Notizen der Ärzte sind über Jahre, ja ein Leben hinweg, gewachsen und deshalb so wertvoll.“

Die Sonderausstellung „Praxiswelten“ im Medizinhistorischen Museum der Charité läuft noch bis zum 21. September 2014.

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