Medizin aus dem Hahn
Studien belegen, dass in Deutschland mehr als 150 verschiedene Arzneiwirkstoffe in nahezu allen Gewässern – bis hin zum Grund- und Trinkwasser – nachweisbar sind. Ob Schmerzmittel, Antibiotika, blutdrucksenkende Mittel oder Psychopharmaka – es gehört zu den unerwünschten Nebeneffekten beim Gebrauch von Medikamenten, dass die Wirkstoffe nicht vollständig vom Körper abgebaut und über den Urin direkt oder als Abbauprodukt wieder ausgeschieden werden. Auch wenn Medikamente auf die Haut aufgebracht werden, gelangen die Arzneistoffe beim Duschen oder Baden zum Teil in die Kanalisation. Über das Abwasser fließen die Rückstände in die Kläranlagen, wo die Vielzahl an chemischen Verbindungen nicht vollständig entfernt werden kann. Mit dem Ablauf aus den Kläranlagen in die Flüsse und Seen finden die chemischen Verbindungen so ihren Weg in die Umwelt und den Wasserkreislauf. Dort können sie Pflanzen, Tiere und Menschen schädigen.
Zusätzlich zu den Rückständen der Human-Medikamente gelangen auch Tierarzneimittel in die Umwelt. Hauptquelle hierfür sind Gülle und Mist von behandelten Tieren, die als Dünger auf landwirtschaftliche Flächen aufgebracht werden. Durch die ständige Wiederholung der Düngung kommt es zu einer Anreicherung von Medikamentenrückständen im Boden. Über Abschwemmung durch Starkregen und durch Versickerung gelangen die Arzneimittel in Ober- flächengewässer und schließlich auch ins Grundwasser. Hinzu kommen die direkten Ausscheidungen von weidenden Nutztieren, die vorher mit Arzneimitteln behandelt wurden.
Besonders problematisch in der Tierhaltung ist die Verabreichung von Antiobiotika (siehe dazu die Titelgeschichte in zm 16/2014). Nach Angaben des Umweltbundesamtes (UBA) wurden allein im Jahr 2012 rund 1 600 Tonnen Antibiotika an Tierärzte abgegeben. Der Verbrauch von Humanantibiotika lag im gleichen Jahr bei etwa 630 Tonnen. Von bestimmten Antibiotika wie den Sulfonamiden und den Tetrazyklinen ist bekannt, dass sie sich im Boden anreichern können. Forscher haben laut UBA nachgewiesen, dass sie dort auch von Nutzpflanzen aufgenommen und so in die Nahrungskette gelangen können. Das UBA prüft derzeit in einem Forschungsprojekt, ob bei hohen Konzentrationen an Antibiotika-Rückständen, wie sie in Gülle und Klärschlamm auftreten können, Antibiotika- Resistenzen in Mikroorganismen zusätzlich gefördert werden.
Negative Wirkung auf die Umwelt
Über die langfristige Wirkung der Arzneimittelrückstände auf die Ökosysteme liegen bisher wenige Informationen vor. Laborexperimente und Freilandversuche zeigen aber negative Effekte wie ein reduziertes Wachstum, Verhaltensänderungen oder eine verminderte Vermehrungsfähigkeit bei Lebewesen in der Umwelt. Hormonreste der „Pille“ haben laut der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg zur Verweiblichung männlicher Fische beigetragen. Auch sind Nierenschäden bei Fischen durch das schmerzstillende Mittel Diclofenac beobachtet worden. Und erst kürzlich ist eine Studie erschienen, die Verhaltensänderungen bei Flussbarschen auf Psychopharmaka-Rückstände im Abwasser zurückführt. Als besonders umweltrelevant – weil schon in geringen Konzentrationen toxisch für die Umwelt und oft auch sehr langlebig – haben sich Hormone, Antiparasitika und bestimmte Schmerzmittel herausgestellt.
Welches Ausmaß die Umweltbelastung mit Arzneimitteln erreicht, zeigt das aktuelle Forschungsprojekt „pharmaceuticals in the environment“ im Auftrag des UBA: Spuren von mehr als 630 verschiedenen Arzneimittelwirkstoffen sowie deren Abbauprodukte lassen sich weltweit nachweisen. Sie sind in Gewässern, Böden, Klärschlamm und Lebewesen zu finden. Insbesondere Röntgenkontrastmittel und das Schmerzmittel Diclofenac lassen sich sehr häufig und auch in höheren Konzentrationen nachweisen. Diclofenac wurde bisher in Gewässern von insgesamt 50 verschiedenen Ländern gemessen. „Das Umweltbundesamt kann jetzt sicher belegen, dass Arzneimittelrückstände in der Umwelt weltweit ein relevantes Problem darstellen. Lösen können wir es nur global, indem wir die internationale Chemikaliensicherheit stärken“, erklärte im April dieses Jahres Thomas Holzmann, damaliger Präsident des UBA, das als Umweltbehörde direkt dem Bundesumweltministerium untersteht.
Hohe Konzentration von Diclofenac
Dem UBA zufolge liegen die meisten Daten bisher zum Schmerzmittel und Entzündungshemmer Diclofenac vor. In 35 Ländern überstiegen Messwerte die Gewässerkonzentration von 0,1 Mikrogramm pro Liter – ein Wert, der nahe der im Laborversuch ermittelten Konzentration liegt, bei der erste Schädigungen an Fischen beobachtet wurden. Dieser Wert war auch in der Diskussion als europäische „Umweltqualitätsnorm für Oberflächengewässer“. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich nunmehr darauf geeinigt, die Konzentration dieses Stoffes in europäischen Gewässern regelmäßig zu messen und mögliche Gegenmaßnahmen bei Überschreitung zu entwickeln. Neben dem „Blockbuster“ Diclofenac zählen zu den weltweit meist verbreiteten Wirkstoffen auch das Antiepileptikum Carbamazepin, das nichtsteroidale Antirheumatikum Ibuprofen, das auch bei Schmerzen und gegen Entzündungen ebenso wie Diclofenac zum Einsatz kommt, das Pillen-Hormon Ethinylestradiol sowie das Antibiotikum Sulfamethoxazol.
Trotz der alarmierenden Rückstandswerte im Wasser sieht das UBA „nach heutigem Wissensstand kein Risiko für die menschliche Gesundheit“, da die für den Menschen relevanten Grenzwerte nach wie vor deutlich unterschritten würden.
Der Umweltverband Deutsche Umwelthilfe (DUH) sieht das ein wenig kritischer. Meist würden in Studien nur die Auswirkungen einzelner, ausgewählter Wirkstoffe betrachtet, heißt es in einem Hintergrundpapier der DUH. Bei der Vielzahl von nachgewiesenen Stoffen in den Gewässern seien aber durchaus additive und synergistische Wirkungen denkbar. So wurde laut DUH bereits in Untersuchungen mit verschiedenen Wirkstoffgemischen festgestellt, dass diese zu umweltschädlichen Wirkungen führen können, obwohl dies aus dem Verhalten der Einzelwirkstoffe nicht vorhersehbar gewesen sei. Dementsprechend hoch sei der Handlungsbedarf, so die DUH.
Entsorgung über die Toilettenspülung
Was die Ausscheidung eingenommener Medikamente angeht, lässt sich diese von Verbraucherseite nur in sehr engen Grenzen reduzieren. Bei der Entsorgung von Altmedikamenten sieht das aber ganz anders aus. „Viele Verbraucher wissen gar nicht, dass die Art ihrer Entsorgung ein ernsthaftes Umweltproblem darstellt, erklärt Dr. Konrad Götz vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main (ISOE). Eine repräsentative Befragung des ISOE zeigt: Immerhin jeder fünfte Deutsche entsorgt gelegentlich Tabletten über den Ausguss oder die Toilette. Bei flüssigen Arzneimitteln sind es sogar fast 50 Prozent (siehe Grafik). Experten der Umweltverbände schätzen, dass allein auf diesem Weg jedes Jahr Hunderte Tonnen Arzneimittelwirkstoffe in Böden und Gewässer gelangen.
Laut einer Medienanalyse des ISOE werde der richtige Umgang mit Spurenstoffen zwar häufig thematisiert, beim Verbraucher komme das aber seit Jahren nicht richtig an. „Nur 15 Prozent der VerbraucherInnen entsorgen ihre Medikamente immer richtig, das heißt – entsprechend der von der Bundesregierung empfohlenen Praxis – über den Restmüll“, sagt Götz. Hier gehören die Pillen und Säfte hin, da der Müll heute in der Regel verbrannt wird, bevor die Überreste deponiert werden. Durch die Verbrennung ist die vollständige Zerstörung der Wirkstoffe gewährleistet.
Dass dies nur wenige Bundesbürger wissen, führt Götz auf die Tatsache zurück, dass es keine bundeseinheitliche Kommunikation zu diesem Thema gibt. „Jede Kommune regelt das anders. Das führt zur Verunsicherung bei den Bürgern und ist verbraucherunfreundlich. Um mögliche Gefahren für die Umwelt zu verhindern, muss zumindest eine bundesweit einheitliche Informationskampagne zur Entsorgung durchgeführt werden“, meint der ISOE-Forscher Götz.
Die verbraucherfreundlichste Regelung wäre seiner Meinung nach allerdings die Rückkehr zur alten Regelung, dass Medikamente in der Apotheke abgegeben werden können. Auch Ärzte können nach Meinung des Forschers zur Lösung des Problems etwas tun, indem sie sich über die Problematik von Medikamentenresten im Wasser und über umweltfreundliche Medikamentenalternativen informieren. Vonseiten der Patienten sei die Bereitschaft da: Fast 90 Prozent der Befragten wünschen sich von ihrem Arzt – bei gleicher Wirksamkeit – umweltfreundliche Alternativangebote.
Wirklich praxistauglich für den ärztlichen Arbeitsalltag ist dieser Tipp allerdings nicht, da es bislang keine zentrale Informationsquelle über die Umwelteigenschaften von Medikamenten gibt. Deshalb fordert das ISOE die Einführung eines Klassifikationsschemas für die Umweltverträglichkeit und Trinkwasserrelevanz der Wirkstoffe, wie es das beispielsweise in Schweden bereits gibt. Die Ergebnisse könnten dann leicht in die bestehende Verschreibungssoftware oder die Rote Liste integriert werden.
Zurzeit scheint die Politik aber keinerlei Regelungsbedarf zu sehen. Erst im vergangenen Jahr hat der Umweltausschuss des Bundestages einen Antrag der Opposition zur Rücknahme von Altarzneimitteln zurückgewiesen. Der Versuch, ein bundeseinheitliches, von der Pharmaindustrie finanziertes Rücknahmesystem für Altarzneimittel über Apotheken wieder einzuführen, ist damit wohl gescheitert. Den Vorstellungen der Linken zufolge sollten die öffentlichen Apotheken ab 2015 verpflichtet sein, haushaltsübliche Arzneimittelmengen zurückzunehmen. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) äußerte sich zu diesem Vorschlag einer verpflichtenden Arzneimittelrücknahme in den Apotheken nicht. Sie wies lediglich darauf hin, dass weiterhin viele Apotheken anbieten, Alt-Medikamente grundwasserneutral zu entsorgen. Dies allerdings auf freiwilliger Basis. Der Kunde muss also selbst herausfinden, welche Apotheke das sein könnte. Immerhin sieht die ABDA Apotheker in der Pflicht, ihre Kunden über die Problematik besser zu informieren. „Wir müssen Aufklärungsarbeit leisten und unsere Patienten darüber informieren, dass Medikamente über den Hausmüll entsorgt werden dürfen“, so Mathias Arnold, Vizepräsident der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.
EU-Richtlinie nicht umgesetzt
Zwar verpflichtet eine EU-Richtlinie die Mitgliedstaaten bereits seit 2004 zur Einrichtung von geeigneten Sammelsystemen für abgelaufene oder ungenutzte Medikamente.
Doch Deutschland hat die Richtlinie bis heute nicht umgesetzt. Nach Überzeugung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) wäre die Einführung eines eigenen Sammel- und Rücknahmesystems für Arzneimittel jedoch dringend nötig, solange Altmedikamente in großen Mengen durch Waschbecken oder Toilette entsorgt werden.
„Altmedikamente belasten Grund- und Trinkwasser, schädigen die Natur und landen über die Nahrungskette schließlich auch beim Menschen. Die geltende Rechtslage, die auch die Entsorgung über den Hausmüll erlaubt, verstößt nicht nur gegen EU-Recht, sondern auch gegen den gesunden Menschenverstand. Deutschland braucht dringend ein einheitliches Sammelsystem für Altmedikamente“, betont DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Zur Abhilfe müsse zügig eine getrennte Erfassung und Beseitigung alter Arzneimittel aufgebaut werden. Im Zentrum des Sammelsystems sieht auch die DUH die Apotheken. Die Verbraucher müssten auf bundesweit einheitliche Rückgabemöglichkeiten in Apotheken zurückgreifen können. Klare Informationen darüber sollten sie dementsprechend bereits beim Kauf am Ausgabeort der Medikamente erhalten. Die Kosten für das Sammel- und Entsorgungssystem sollen, so wünscht es sich die DUH, von den Arzneimittelherstellern übernommen werden.
Otmar MüllerGesundheitspolitischer FachjournalistRedaktionsbüro Kölnmail@otmar-mueller.de