Gewinner und Verlierer
„Eine schöne Sache ist das nicht“, so kommentierte Gerd Billen, Staatssekretär im Justizministerium und dort für Verbraucherschutz zuständig, das neue Reformgesetz für die Lebensversicherungen im ARD-Morgenmagazin. Jahrelang kämpfte er an der Spitze des Verbraucherzentrale Bundesverbands für die Rechte der Versicherten. Jetzt muss er den Beschluss der Bundesregierung verteidigen, der einige Sparer mehrere Tausend Euro kosten wird. „Aber das Gros der Sparer wird am Ende mehr herausbekommen als ohne die Gesetzesreform,“ ist er sich sicher. Nötig wurde die Gesetzesreform, weil die seit sechs Jahren anhaltende Niedrigzinsphase einigen Versicherern Schwierigkeiten bereitet, die versprochenen Garantiezusagen aus der Vergangenheit einzuhalten. Damit das Produkt, das viel von seiner Attraktivität verloren hat, weiter bestehen kann, sieht sich die Regierung in der Pflicht, alle Beteiligten per Gesetz zum Verzicht zu zwingen.
Das Reformgesetz
Daher wurde am 4. Juni 2014 folgendes beschlossen:
• Beteiligung an den Bewertungsreserven
Lebensversicherungen legen das Kapital ihrer Kunden in Aktien, Immobilien und zu mehr als 90 Prozent in festverzinslichen Wertpapieren an. Viele dieser sicheren Staatsanleihen stammen noch aus Zeiten, in denen deutlich höhere Zinsen als heute üblich waren. Diese Papiere sind dementsprechend begehrt und werden heute sehr hoch bewertet. Kurse von mehr als 100 Prozent sind üblich. Am Ende der Laufzeit aber zahlen die Emittenten nur 100 Prozent zurück. In den Bilanzen müssen die Versicherer allerdings den aktuellen Wert angeben. Auf dem Papier entsteht so eine hohe Bewertungsreserve, an der die Kunden zu 50 Prozent beteiligt werden müssen, wenn deren Verträge enden.
Das heißt, die Gesellschaft muss die Papiere veräußern, um ihre Kunden auszahlen zu können. Nachkaufen können die Anlagestrategen der Versicherer gleichwertige Anleihen nicht, da sichere Papiere nur mit sehr niedrigen Zinsen, im Schnitt mit 1,4 Prozent, ausgestattet sind. Andererseits müssen sie die Garantien aus den Altverträgen von zurzeit im Schnitt 3,2 Prozent, bedienen. Um diese zu sichern, können die Gesellschaften die Auszahlung der Reserven in Zukunft flexibel handhaben.
Bleiben nach der Schließung der Finanzierungslücken Gewinne übrig, muss die Gesellschaft ihre Versicherten am Gewinn beteiligen. An den Erträgen aus den übrigen Anlagen sollen die Kunden weiterhin partizipieren. Laut Finanzministerium kann die Neuregelung Kunden mit Verträgen, die demnächst auslaufen, etwa 440 Euro kosten. Die Verbraucherschützer sprechen von mehreren Tausend Euro. Wie viel tatsächlich auf dem Spiel steht, hängt vom Einzelfall ab.
• Risikoüberschüsse
Versicherungen beteiligen ihre Kunden derzeit mit 75 Prozent an den sogenannten Risikoüberschüssen. Diese entstehen, wenn die Versicherer zu vorsichtig kalkuliert haben und weniger Leistungen als gedacht zum Beispiel bei Todesfällen erbringen müssen. Nach der Neuregelung sollen Kunden mit 90 Prozent an diesen Erträgen teilhaben – ein kleiner Ausgleich zum Verzicht bei den Bewertungsreserven.
• Kostentransparenz
In Zukunft sollen die Versicherer ihre Kunden über die tatsächlich anfallenden Kosten aufklären. Die Vermittler müssen vor dem Abschluss eines Vertrags ihre Provision offenlegen. Das soll für alle Versicherungszweige gelten.
• Dividenden
Die Aktionäre müssen sich auf eine Begrenzung der Dividendenzahlungen einstellen, wenn die Garantiezahlungen anderweitig nicht abgesichert sind. Das Ausschüttungsverbot wird wie die Neuregelung bei den Bewertungsreserven am Sicherungsbedarf des Unternehmens festgemacht.
• Garantiezins
Für alle Verträge, die bis Ende des Jahres abgeschlossen werden, gilt ein Garantie-zins von 1,75 Prozent. Neuabschlüsse ab dem 1. Januar 2015 sind nur noch mit garantierten 1,25 Prozent ausgestattet.
Ob und wann diese Neuregelungen in Kraft treten werden, steht noch nicht fest. Die Regierung ist willens, das Gesetz so schnell wie möglich zur Geltung zu bringen. Zufrieden jedoch zeigt sich keine der betroffenen Parteien. Die Unternehmen freuen sich zwar über die Zugeständnisse bei den Bewertungsreserven, doch die Einschränkungen bei den Dividenden und die Offen- legung der Provisionen lehnen sie ab. Die Verbraucherschützer entdecken Gutes und Schlechtes.
Vor- und Nachteile
Rita Reichard, bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf für die Lebensversicherungen zuständig, meint: „Das Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Auch Lars Gatschke, Referent für Versicherungen beim Verbraucherzentrale Bundesverband, zeigt Verständnis für die Probleme der Versicherungen: „Die Bewertungsreserven-Problematik muss gelöst werden, um die Garantiezinsen zu sichern.“ Lars Heermann, Bereichsleiter Analyse bei der auf Versicherungen spezialisierten Ratingagentur Assekurata, folgert daraus: „Wenn alle Vor- und Nachteile für sich entdecken, deutet das auf eine Kompromisslösung hin.“
Die Beteiligung an den Bewertungsreserven gibt es seit 2008. Damals hat niemand mit einer derart anhaltenden Niedrigzinsphase gerechnet. Zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode wollte die FDP den Unternehmen zu Hilfe eilen und das Gesetz kippen. Damals stimmte die SPD dagegen. Seitdem hat es aber einen Findungsprozess gegeben, dessen Ergebnis so schnell wie möglich in Kraft treten soll.
Nachteile erfahren in erster Linie Versicherte, deren Verträge bald auslaufen. Ihre Gewinnanteile verringern sich möglicherweise. Inwieweit sie wirklich betroffen sind, lässt sich nur klären, wenn man sich die notwendigen Informationen bei seiner Versicherung beschafft. Dazu gehören
• der aktuelle Rückkaufwert, also die Auszahlungssumme, die bei einer sofortigen Kündigung fällig wird,
• die garantierte Auszahlungssumme bei Ablauf des Vertrags nach aktuellem Recht,
• die voraussichtliche Auszahlungssumme bei Ablauf des Vertrags nach aktuellem Recht und
• der nächstmögliche Kündigungstermin.
Mithilfe dieser Angaben können Experten beurteilen, ob sich eine Kündigung überhaupt lohnt. Das gilt auch für Verträge mit kurzer Restlaufzeit. Denn nicht jedes Unternehmen benötigt seine Bewertungsreserven, um die Zinszusagen weiterhin zu garantieren. Außerdem ist Geduld gefragt. Sascha Straub, Versicherungsjurist bei der Verbraucherzentrale Bayern in München, berichtet von seinen Erfahrungen: „Die Versicherungen verzögern die Auskünfte wegen der hohen Nachfrage. Aber ohne diese Informationen sollte niemand kündigen.“ Eine Kündigung auf Verdacht lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ohnehin dürften sich die meisten Verträge weiterhin lohnen. Das gilt vor allem für solche, die vor 2005 geschlossen worden sind. „Diese Versicherten profitieren noch von der steuerfreien Auszahlung der Versicherungssumme“, weiß Straub. Ältere Policen mit längerer Restlaufzeit, die noch mit einem hohen Garantiezins ausgestattet sind, gleichen den Ausfall bei den Bewertungsreserven mit den hohen Zinsen aus.
Reichard findet noch einen weiteren Grund, seinen Vertrag zu behalten: „Es ist wichtig, den Vertrag genau zu prüfen. Kombiniert die Police die Lebensversicherung zum Beispiel mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung, ist bei einer Kündigung beides weg.“ Außerdem entgehen den Sparern, die bei einer vorzeitigen Kündigung vielleicht eine höhere Beteiligung an den Reserven kassieren, auf jeden Fall die Schlussüberschüsse. Deren Höhe ist nicht gesetzlich geregelt.
Versicherte sollten nicht vergessen, dass das Gesetz nicht zu einer dauerhaften Reduzierung des Kundenanteils an den Bewertungsreserven führt. Gatschke misst der Beteiligung an diesen Reserven sowieso eine eher reduzierte Bedeutung zu: „Das Problem dabei ist die Tatsache, dass ich zwar einen einklagbaren Anspruch habe. Aber ob und wie die Bewertungsreserven eingesetzt werden, kann ich nicht kontrollieren.“ Außerdem werden die viel diskutierten Reserven wieder aus dem Fokus aller verschwinden, sobald die Zinsen steigen. Dann sinken die Kurse der Anleihen wieder auf 100 und weniger Prozent.
Erhalt statt Pleite
Inwieweit die Versicherer ihren Aktionären tatsächlich Dividenden vorenthalten werden, bleibt abzuwarten. Die Unternehmen lehnen diese Forderung ab. Das gilt auch für die Offenlegung der Provisionen. Es kann sein, dass sich an den Formulierungen noch etwas ändern wird. Die Verbände hatten schließlich nur 1,5 Arbeitstage Zeit, um ihre Einwände vorzubringen. Doch aus Erfahrung weiß Gatschke: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hereingekommen ist.“
Dieses Gesetz soll dazu dienen, die Lebensversicherung als Altersvorsorgemodell zu erhalten. Doch Branchenkenner Heermann beobachtet viel Veränderungsdrang bei den Unternehmen. Sie entwickeln neue Policen, die reduzierte Garantien und gleichzeitig höhere Chancen auf Gewinne mit sich bringen. Es wird viele Variationen geben, die nicht mehr unmittelbar miteinander vergleichbar sind. „Auch für die Berater bedeutet es eine große Herausforderung, die komplizierten Produkte zu verkaufen“, prophezeit Heermann. Die Zukunft der klassischen Lebensversicherung sieht im Moment alles andere als rosig aus. Ein Garantiezins von 1,25 Prozent, wie er ab dem 1. Januar 2015 gelten wird, liefert kein überzeugendes Verkaufsargument.
Marlene EndruweitFachjournalistin für Wirtschaftm.endruweit@netcologne.de