Repetitorium Schwindel

Leben wie auf dem Karussell

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Schon Kinder lernen beim Drehen des Karussells, was Schwindel ist und auch, wer einmal den Wiener Walzer getanzt hat, kennt das Gefühl, das sich anschließend die ganze Welt zu drehen scheint. Von solchen normalen Phänomenen abgesehen, stellt Schwindel neben Kopfschmerzen das häufigste Krankheitssymptom dar.

Die Ursachen können vielgestaltig sein und reichen von Fehlfunktionen des Gleichgewichtsorgans über Durchblutungsstörungen im Gehirn oder eine Migräne bis hin zu psychischen Störungen. Einer adäquaten Diagnostik kommt daher zentrale Bedeutung zu. Sie ist wegweisend für die Therapie. Die Prävalenz des Symptoms Schwindel, medizinisch Vertigo, ist altersabhängig: Sie liegt bei jungen Erwachsenen bei rund zwei Prozent und steigt bei den über 65-Jährigen auf mehr als 30 Prozent. Die Lebenszeitprävalenz eines mittelstarken bis starken Schwindels wird mit knapp 30 Prozent angegeben.

Alles dreht sich, der Boden schwankt

Es handelt sich bei der Vertigo aber nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild, sondern um ein Symptom, das zudem von den Betroffenen vielgestaltig erlebt werden kann. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, alles drehe sich um sie herum. Andere geben an, der Boden schwanke und sie seien wie benommen. Wieder andere haben das Gefühl, zu taumeln oder zu fallen oder wie in einem Lift nach oben oder unten bewegt zu werden. Entsprechend wird zwischen Dreh-, Schwank-, Lift-, Bewegungs- oder unsystematischen Schwindel unterschieden.

Ursache des Schwindels ist eine Störung des Gleichgewichtssinns, wobei der Betreffende seine Orientierung im Raum verliert. Es kann dadurch zu einer Gang- und/oder-Standunsicherheit bis hin zu einer erhöhten Sturzneigung kommen. Häufig treten außerdem vegetative Begleiterscheinungen auf wie beispielsweise Schwitzen, Übelkeit und sogar Erbrechen. Viele Betroffene haben zudem in der Schwindelattacke Angst, bewusstlos zu werden. Der Schwindel kann vorübergehend für Sekunden oder Minuten auftreten, dabei eventuell als wiederholte Schwindelattacke oder auch als über Wochen oder sogar Monate anhaltendes Symptom.

Vielfältige Ursachen, oft starker Leidensdruck

Die Vertigo kann Ausdruck zahlreicher unterschiedlicher Erkrankungen sein von neurologischen Störungen angefangen über HNO-Erkrankungen bis hin zur Herz- und Gefäßkrankheiten sowie psychiatrischen Erkrankungen wie zum Beispiel Angststörungen. Entsprechend bedeutsam ist die sorgfältige diagnostische Abklärung, die unter Umständen Vertreter verschiedener Fachdisziplinen wie Internisten, Neurologen, HNO-Ärzte und Kardiologen auf den Plan rufen kann.

Auch wenn der Schwindel oft ein gutartiges Symptom darstellt, wird er doch von vielen Betroffenen als sehr bedrohlich erlebt. Vor allem wenn Schwindelattacken wiederholt auftreten, fühlen sich die Betroffenen oft stark beeinträchtigt und reagieren mit zum Teil erheblichen Ängsten, da sie sich dem Phänomen hilflos ausgeliefert fühlen. Insbesondere ältere Menschen quält die nicht unberechtigte Sorge, infolge des Schwindels zu stürzen.

Wichtig ist eine gute Anamnese

Bei der Diagnostik steht zunächst die Anamnese im Vordergrund. Es gilt genauestens zu eruieren, in welcher Situation das Schwindelgefühl auftritt, wie lange es anhält und ob es wiederholte Attacken gibt und gab. Auch muss erfragt werden, wie der Betroffene den Schwindel erlebt hat, als Dreh- oder Schwankschwindel, in Ruhe oder bei Bewegung oder eventuell in bestimmten Situationen beispielsweise in der Höhe, beim Fahren auf der Rolltreppe oder im Auto. Es muss ferner nachgefragt werden, ob es Begleitsymptome gibt wie Übelkeit und Erbrechen oder das Sehen von Doppelbildern oder Hörstörungen.

Zur Diagnostik gehört ferner eine umfassende internistische sowie neurologische und gegebenenfalls eine neuro-otologische und neuro-ophthalmologische Untersuchung, um Grunderkrankungen und insbesondere auch kardiologische Ursachen abzuklären. Wichtig ist ferner eine Medikamentenanamnese, da bestimmte Wirkstoffe wie Anti- hypertensiva, Antiepileptika oder Antidepressiva Schwindel als Nebenwirkung provozieren können.

Als einfache Maßnahme der Diagnostik nennt die Gruppe „Neurologen und Psychiater im Netz“ die Untersuchung mittels der sogenannten Frenzel-Brille. Es handelt sich um eine Art Vergrößerungsglas mit einer von unten einstrahlenden Beleuchtung. Hierdurch können die häufig im Zusammenhang mit dem Schwindel auf- tretenden unnormalen Augenbewegungen, sogenannte Nystagmen, erkannt werden, weil durch die Blendung des Patienten Fixationsmöglichkeiten ausgeschaltet werden und die Nystagmen damit nicht mehr unterdrückt werden können. Gegebenenfalls sind außerdem weiterführende Untersuchungen beispielsweise in Form einer Kernspintomografie bei Verdacht auf eine zentrale Ursache des Schwindels notwendig.

Lagerungsschwindel

Die häufigste Form des Schwindels ist der benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel, kurz BPPV. Es handelt sich um einen episodenhaft auftretenden Schwindel, der als Folge eines Kopflagerungswechsels auftritt. Betroffen sind in aller Regel ältere Menschen. Auslöser der Schwindelattacken ist häufig ein Hinlegen oder Aufrichten oder auch Herumdrehen im Bett oder plötzliche Kopfdrehungen. Auch beim Bücken kann der BPPV auftreten. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei über zwei Prozent, jeder zehnte über 80-Jährige kennt das Phänomen. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer.

Die Störung hat ihren Ursprung im Vestibularorgan und beruht auf Alterungsprozessen im sogenannten Labyrinth. Dabei bilden sich in den Bogengängen in der Flüssigkeitdes Gleichgewichtsorgans kleine Partikel, die wie ein Pfropf wirken und mit ihrem Gewicht die Sensorzellen im Inneren des Organs reizen und damit durcheinanderbringen können. Es kommt bei Änderungen der Körperhaltung zur Übermittlung falscher Signale an das Gehirn, das Sehen und das Lageempfinden stimmen nicht mehr überein, ein Drehschwindel stellt sich ein, oft begleitet von Schweißausbrüchen, Übelkeit und Angstgefühlen.

Der BPPV tritt oft nach einer längeren Bettruhe oder einer Operation in Allgemeinanästhesie auf und bildet sich meist nach Tagen bis Wochen spontan zurück. Halten die Beschwerden an, so kann durch Einüben bestimmter Lagerungsmanöver bewirkt werden, dass sich die Ablagerungen lösen und die Beschwerden abklingen. Eine alleinige medikamentöse Behandlung ist Fraentsprechend der Leitlinie ebenso wenig wirksam wie Manipulationen an der Halswirbelsäule, autogenes Training sowie Akupunktur.

Anfalls-Drehschwindel – Morbus Menière

Bei der Menièrschen Krankheit handelt es sich um eine Erkrankung des Innenohrs, die durch Schwindelattacken und oftmals auch durch Hörstürze und einen Tinnitus charakterisiert ist. Die Vertigo tritt als heftiger Drehschwindel mit zum Teil längeren symptomfreien Intervallen auf. Die Attacken setzen akut ein und halten meist für 30 Minuten, unter Umständen auch für einige Stunden an.

Die Erkrankung tritt meist im fünften bis sechsten Lebensjahrzehnt auf. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen. Die Bezeichnung Morbus Menière geht auf den französischen Arzt Prosper Menière (1799 bis 1862) zurück, der die Symptome als Erster beschrieben hat.

Als Ursache der Erkrankung wird eine gestörte Bildung von Endolymphe im Innenohr angenommen, die für das Vestibularorgan von entscheidender Bedeutung ist. Es kommt zur Produktion von zu viel Endolymphe oder zu einer zu geringen Resorption und damit zum Hydrops, so der Fachterminus. Der Grund für die gestörte Bildung der Endolymphe ist nach wie vor unbekannt. Vermutet wird ein viral entzündlicher Prozess möglicherweise in Kombination mit einer genetischen Prädisposition.

Der erhöhte endolymphatische Druck kann als Folge neben den Schwindelattacken Hörstörungen und Ohrgeräusche – die Menièrsche Trias – verursachen, wobei es individuell recht unterschiedlich sein kann, welches dieser Symptome im Vordergrund steht. Besteht die Erkrankung länger, so kann eine Innenohrschwerhörigkeit und Schädigung des Gleichgewichtsorgans die Folge sein.

In der akuten Phase der Erkrankung wird üblicherweise mit den Schwindel dämpfenden Medikamenten, den Antivertiginosa, behandelt. Diese sollen die eventuell auftretenden vegetativen Symptome wie Übelkeit und Erbrechen lindern. Außerdem können vorbeugend wirkende Medikamente wie Betahistin verordnet werden. Eventuell ist ein operativer Eingriff zu erwägen, um den Abfluss der Endolymphe zu verbessern. Weitere Optionen sind die dauerhafte Ausschaltung des Gleichgewichts- organs durch eine Gentamycin-Injektion oder eine Durchtrennung des Gleich- gewichtsnervs.

Neuritis vestibularis

Charakteristisch für die Neuritis vestibularis, der dritthäufigsten Schwindelform nach dem benignen Lagerungsschwindel und dem Morbus Menière, ist ein akut oder auch subakut einsetzender heftiger Dauerdrehschwindel. Die Beschwerden können in ihrer Intensität schwanken, halten aber über Tage und zum Teil sogar Wochen an. Die Betroffenen geben meist Scheinbewegungen ihrer Umwelt, sogenannte Oszilliopsien an, eine Stand- und Gangunsicherheit mit erhöhter Fallneigung, und sie leiden oft an Übelkeit und Erbrechen und haben ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl. Die Beschwerden verstärken sich im All- gemeinen bei Lageänderungen und insbesondere bei Kopfbewegungen, bleiben aber auch in Ruhe bestehen.

Die Inzidenz der Neuritis vestibularis wird mit 3,5/100  000 Einwohner angegeben, die Erkrankung tritt meist zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr auf. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Der Erkrankung liegt eine Funktionsstörung oder ein kompletter Ausfall des Gleichgewichtsorgans zugrunde, die durch eine Entzündung des Gleichgewichtnervs bedingt ist. Als Ursache wird eine virale Infektion, in erster Linie eine Infektion mit Herpes-Viren vermutet. Da diese einseitig auftritt, resultiert bei der Übermittlung der Informationen ans Gehirn ein Ungleichgewicht, was den Dauerdrehschwindel erklärt.

Behandelt wird in der akuten Phase mit Kortikoiden. Die Prognose ist dabei insgesamt gut, die Beschwerden klingen meist nach wenigen Wochen wieder ab, wobei die Besserung durch ein gezieltes Gleichgewichtstraining beschleunigt werden kann. Nicht immer kann die Funktion des Vestibularorgans allerdings komplett wiederhergestellt werden. Anhaltende Defizite können jedoch in aller Regel gut kompensiert werden.

Vestibuläre Migräne

Ähnlich wie der Morbus Menière manifestiert sich die vestibuläre Migräne durch einen attackenartig auftretenden Schwindel, der mehrere Minuten bis etwa eine halbe Stunde anhält und oft von Übelkeit und Erbrechen begleitet ist. In der Folge kommt es typischerweise zu den klassischen Migränesymptomen wie einseitigem Kopfschmerz, einer ausgeprägten Lärm- und Lichtempfindlichkeit und Verstärkung der Symptomatik bei körperlicher Aktivität.

Wie die Migräne selbst, so zeigt auch die vestibuläre Migräne eine starke individuelle Variabilität. Beklagt wird dabei meist ein Drehschwindel. Der Schwindel kann dabei im Sinne einer vestibulären Aura nur die erste Phase betreffen oder aber über die gesamte Migräneattacke anhalten.

Behandelt wird nicht primär der Schwindel, gegen den wie allgemein gegen die Migräneaura keine medikamentöse Therapie verfügbar ist. Vielmehr wird die Migräne selbst therapiert, wobei eine medikamentöse Migräneprophylaxe indiziert ist, wenn mehr als drei Attacken pro Monat auftreten und/oder die Krankheitsphasen besonders lange anhalten oder die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt wird.

Somatoforme Variante – die Psyche spielt mit

Einen großen Anteil bei den Schwindelvarianten macht der somatoforme Schwindel aus. Die Patienten klagen meist über einen Schwankschwindel oder einen diffusen Schwindel mit dem Gefühl einer Leere im Kopf sowie Gang- und Standunsicherheiten und einer starke Fallneigung, sie weisen jedoch keinen Nystagmus auf. Nur selten werden Übelkeit und Erbrechen als Begleitsymptom angegeben, häufig jedoch Symptome wie eine innere Unruhe oder Benommenheit, ein Leistungsabfall sowie Antriebs- und Konzentrationsstörungen und Schlafprobleme. Auch Schweißausbrüche, Herzrasen, Luftnot und Erstickungsangst werden genannt. Menschen mit somatoformem Schwindel fühlen sich durch die Symptomatik im Allgemeinen stark beeinträchtigt, der Leidensdruck ist meist weit höher als bei Patienten mit organisch bedingtem Schwindel.

Eine besonders häufige somatoforme Schwindelform ist dabei der phobische Schwankschwindel, bei dem die Betroffenen ein subjektives Gefühl der Stand- und Gangunsicherheit angeben, das objektiv nicht fassbar ist. Das Schwindel- gefühl ist oft gepaart mit Angsterleben.

Diagnostisch hinweisend ist das Auftreten der Symptomatik in zeitlicher Assoziation zu beruflichen oder privaten Krisensituationen. Die Patienten leiden überproportional häufig unter Angststörungen oder Depressionen. Dazu passt, dass die Schwindelsymptome oft durch besondere Situationen ausgelöst werden wie etwa beim Überqueren einer Brücke, beim Stehen in einer Warteschlange und allgemein größeren Menschenansammlungen, beim Fliegen oder beim Aufenthalt in leeren Räumen, was nicht selten ein entsprechendes Vermeidungsverhalten zur Folge hat. Die Behandlung richtet sich nach der Klinik und basiert im Allgemeinen auf einer Psychotherapie, eventuell kombiniert mit einer Psychopharmakotherapie in der ersten akuten Phase.

Bewegungsschwindel – Kinetosen

Der sogenannte Bewegungsschwindel, auch als Kinetosen bezeichnet, tritt zumeist als Schwankschwindel auf. Er wird visuell ausgelöst, Ursache ist ein Fehlabgleich zwischen dem Erleben einer Bewegung und dem Sinneseindruck des Sehens. Die Kinetosen fassen dabei die Schwindelsymptome bei der Reisekrankheit, der Seekrankheit und der Flugkrankheit zusammen.

Möglich sind zudem Pseudokinetosen, bei denen der Schwindel allein durch den Seheindruck vermittelt wird. Ein solches Phänomen tritt beispielsweise in Fahrzeugsimulatoren auf oder im Erlebniskino.

Zentral bedingte ZNS-Läsionen

Das Gefühl des Schwindels kann darüber hinaus auch durch Läsionen im Gehirn bedingt sein. Ursache können zum Beispiel transitorische ischämische Attacken (TIAs) sein, wie sie häufig einem Schlaganfall vorausgehen. Das Beispiel verdeutlicht, dass der Vertigo durchaus eine ernste gesundheitliche Bedeutung zukommen kann. Sie ist als Alarmsignal zu verstehen und daher stets diagnostisch abzuklären.

Auf einen zentralen Ursprung des Schwindels weisen Begleitsymptome wie Seh-, Schluck- und Sprechstörungen sowie Lähmungserscheinungen hin, wobei eine solche Symptomatik der sofortigen ärztlichen und gegebenenfalls notärztlichen Abklärung bedarf.

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