Zahnersatz-Branche im Wandel
Wie hoch der Anteil von Auslandszahnersatz am Gesamtumsatz von 5,2 Milliarden Euro (ohne KFO-Leistungen) ist, lässt sich nur mutmaßen. Auf Nachfrage der zm nennen nur zwei der 14 größten Hersteller von Auslandszahnersatz ihre aktuellen Umsatzzahlen. Mehrere Brancheninsider schätzen unabhängig voneinander das Umsatzvolumen der etwa 50 deutschen Anbieter von Auslandszahnersatz auf mehr als 200 Millionen Euro – das entspräche aktuell mehr als 3,8 Prozent des Gesamtmarktes (Grafik 1). „Tendenz steigend“, heißt es noch, auch wenn mehrere Gesprächspartner eine Deckelung des maximal erreichbaren Marktanteils bei etwa zehn Prozent des gesamten deutschen Zahnersatzmarktes sehen.
Grundlage dieser Vermutung liefert vielleicht auch die im März 2009 erschienene Studie „Dentaltourismus und Auslandszahnersatz“ des Instituts der deutschen Zahnärzte (IDZ) in Kooperation mit dem Institut für empirische Gesundheitsökonomie (IfEG). Für diese waren von Ende August bis Mitte September 2008 unter anderem 300 Zahnärzte befragt und gebeten worden, den Anteil der Prothetikfälle grob zu schätzen, bei denen sie ausländischen Zahnersatz verwendet hatten. Ergebnis: Über alle Zahnärzte gerechnet beträgt der Durchschnitt knapp zehn Prozent. Die Vermutung: Da der Umsatzanteil aktuell bei nur etwa vier Prozent liegt, scheint es sich bei den Prothetikfällen mit Einsatz von Auslandszahnersatz eher um kleinere Eingriffe mit noch geringerem Umsatz zu handeln.
In der Zwischenzeit verstärkten vor allem die umsatzstärksten Unternehmen für Auslandszahnersatz in den vergangenen Jahren weiter ihre Werbe-und Vertriebsanstrengungen – jeder auf seine Art: Die im Frühjahr 2014 verkaufte Mamisch Dental Health AG (Mülheim an der Ruhr) investierte in die Produktion und Ausstrahlung von Endkunden-Fernsehwerbung, Permadental (Emmerich) beauftragte 2010 ein wissenschaftliches Gutachten zur Qualitätsbewertung ihres Aus-landszahnersatzes und Dentaltrade (Bremen) bewirbt im Web vor allem Zahnersatz zum Nulltarif und setzt auf Kooperationen mit verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen.
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, betont, dass die Verantwortung für den eingegliederten Zahnersatz gegenüber dem Patienten allein der Zahnarzt trägt. „Natürlich muss der Patient über den Ort der Herstellung seines Zahnersatzes aufgeklärt werden“, sagt er. „Jedoch haben weder Patient und erst Recht nicht Krankenkassen oder Versicherungsunternehmen das Recht, vom Zahnarzt zu verlangen, ausländischen Zahnersatz zu nutzen. Sowohl die Einschätzung der Qualität als auch das Haftungsrecht sollten den Zahnarzt veranlassen seine Entscheidung gut abzuwägen.“
Die jüngsten Zahlen zur Nachfrage sind von 2008
Welchen Einfluss die Werbebemühungen der Hersteller auf die Akzeptanz von Kunden und Zahnärzteschaft gegenüber Auslandszahnersatz haben, bleibt offen. Die jüngsten wissenschaftlich belastbaren Zahlen zur Bereitschaft der Patienten, sich Auslandszahnersatz eingliedern zu lassen, stammen aus der Studie von März 2009. Seinerzeit hatte jeder siebte von mehr als 1 300 Befragten zwischen 30 und 75 Jahren „grundsätzlich schon einmal erwogen“, sich ausländischen Zahnersatz eingliedern zu lassen. Gleichzeitig nannten 92,4 Prozent der Befragten Qualitätsaspekte als Hauptbedenken. „Wir nannten das damals skeptische Qualitätsvermutung“, erklärt Dr. David Klingenberger, der als stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des IDZ seinerzeit Mit-Autor der Studie war.
Heute, sechs Jahre später, sei das damalige Gegenargument so nicht mehr haltbar, ist sich Klaus Spitznagel, Direktor des Zahnersatz-Herstellers Permadental BV, sicher. „Qualität zu definieren ist das größte Problem“, erklärt er, schließlich habe „jeder Zahnarzt sein ganz eigenes Qualitätsverständnis“. Dementsprechend bemüht sich die Branche seit Jahren um eine möglichst objektive Beschreibung von Qualität. Die meisten der Labore in den chinesischen Sonderhandelszonen Shenzhen und Shanghai sind nach internationalen ISO-Normen wie 9001 oder 13485 zertifiziert, die Mindestanforderungen an Qualitätsmanagement, Organisation und Produktsicherheit abbilden, und setzen in ihrer industrieartigen Herstellung auf Managementtechniken wie den „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ (KVP oder japanisch „Kaizen“), die in anderen Wirtschaftsbereichen wie der Automobilindustrie schon lange Standard sind.
Der bildgewaltigen Anschuldigung, in Nichtedelmetallkronen würden alte Türklinken und sonstiges Altmetall vergossen, begegnete der Hersteller Permadental etwa, indem er Chargennummern für die Legierungsbestandteile bei seinen namenhaften deutschen Materiallieferanten einforderte und seitdem an Kunden weitergibt.
2010 gab Permadental dann bei Prof. Dr. Bernd Wöstmann, dem Leiter der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, eine Studie zur Untersuchung verschiedener Qualitätsparameter ihrer Auslandszahnersatz-Produkte in Auftrag. Untersucht wurden je zehn keramisch vollverblendete, hochgoldhaltige Einzelkronen, keramisch vollverblendete Nichtedelmetall-Einzelzahnkronen und Zirkonoxidkronen auf Fertigungsaspekte wie Randschluss, Okklusion, Approximalkontakt und Farbgebung beziehungsweise den Grad der Farbabweichung. Fazit von Wöstmann: „Die erreichte Passgenauigkeit der Restauration liegt für alle drei Materialien in einem hervorragenden Bereich.“ Bereits neun Jahre zuvor war Prof. Dr. Thomas Kerschbaum in einer anderen Studie zu dem Schluss gekommen, dass sich bezogen auf die Randschluss-Ungenauigkeiten keine deutlichen Abweichungen von Auslandszahnersatz zur Ergebnisqualität von deutschen Labors feststellen ließen (zm 19/2001, S. 44-46).
Hinsichtlich ihrer Okklusionsverhältnisse war an allen Kronen eine geringfügige Supraokklusion gegeben, „die sich aber durch Einschleifen schnell und unproblematisch beseitigen lassen sollte“, heißt es weiter in Wöstmanns Fazit. Die Differenzen befanden sich nach Angaben des Studienautors in dem Bereich einer Ungenauigkeit, wie er bei der Verschlüsselung des Oberkiefers mit dem Unterkiefer durch moderne Bissregistrierungsmaterialien „ohnehin zu erwarten ist“.
Für Wöstmanns Studie waren 121 Zahnersatzarbeiten aus dem Routinebetrieb aus Patientendaten des zahntechnischen Labors in Hongkong/Shenzhen randomisiert ausgewählt und untersucht worden. Die Bestimmung der im Labor erreichten Zahnfarbe erfolgte vor Ort in Shenzhen in Anwesenheit des Gutachters. Auch die Gestaltung der Approximalkontakte seit „durchweg gelungen“, beschreibt Wöstmann weiter, lediglich die Farbabweichung von maximal ΔE=2 könnte problematisch werden, falls „in Einzelfällen Abweichungen von der Zahnfarbe bemerkt werden könnten“ – was bei Frontzahnrestaurationen „denkbar“ sei. Wöstmann regt deshalb an, einen Wert von ΔE=1,7 anzustreben.
Studien der Branche wird mit Skepsis begegnet
Auch wenn die Wissenschaftlichkeit von Wöstmanns Studie von niemandem öffentlich angezweifelt wird, unken Teile der zahnmedizinischen Branche, wie unabhängig eine Studie sein könne, wenn ein Industrieunternehmen den Auftrag erteilt, die Qualität der eigenen Produkte zu untersuchen.
Interessanter Fakt: Noch ein Jahr zuvor, im Jahr 2009 also, hatten in der IDZ-Studie 29 Prozent der befragten 300 Zahnärzte die „schlechte, fragwürdige bzw. unbekannte Qualität“ als gravierenden Nachteil von Auslandszahnersatz benannt. Fast jeder Zweite (46 Prozent) bewertete damals außerdem die langen Kommunikations- und Transportwege als kritisch.
Heute haben alle großen Hersteller die Logistik nach eigenen Angaben soweit professionalisiert, dass zwischen Abholung des Abdrucks und Lieferung des fertigen Zahnersatzes meist nur sieben bis zehn Tage vergehen. Trotz der großen Entfernungen zu chinesischen oder philippinischen Laboren kann die Bearbeitung der in Deutschland vorab geprüften Abdrücke bereits nach eineinhalb Tagen beginnen. Vor Ort kümmern sich dann ausgebildete Zahntechniker um die weitere Bearbeitung des Auftrags. Dabei wird der Qualitätskontrolle ein besonderer Stellenwert eingeräumt, heißt es. Jeder Beschäftigte ist an seinem Arbeitsplatz nur für einen Arbeitsschritt zuständig – und kann die Weiterbearbeitung eines Werkstücks verweigern, sobald er meint, eine im vorangegangenen Schritt entstandene Unzulänglichkeit zu bemerken. Produziert wird ausschließlich mit Materialien deutscher Dentalfirmen, die Biokompatiblität ist gewährleistet, die Materialien entsprechen alle dem Medizinproduktegesetz. Die zweijährige Ausbildung der Zahntechniker erfolgt in China in sogenannten Dentalschools, wobei die Ausbildung neben den theoretischen Hintergründen auf den praktischen Teil konzentriert ist. Je nach Ausbildungsgrad und besonderer Eignung werden die Absolventen dieser Dentalschools in Teams integriert, wo sie von Zahntechnikermeistern betreut und weiter „on the job“ trainiert werden.
Vor dem Hintergrund eines auch in China bestehenden Fachkräftemangels sowie der kulturell höheren Wechselwilligkeit von Arbeitnehmern versuchen die Unternehmen, die ausgebildeten Zahntechniker neben einer angemessenen Bezahlung auch mit Sozial- und Freizeitangeboten zu binden.
Auch in Deutschland herrscht unter Zahntechnikern mit einer Arbeitslosenquote von weniger als zwei Prozent Vollbeschäftigung, wie der Branchenreport 2013 der Sparkassen-Finanzgruppe ausweist. Hintergrund ist jedoch, das viele Zahntechniker mit offenen Armen in der Automobil-, Elektro- und auch chemischen Industrie empfangen werden, wenn sie der Branche den Rücken kehren. Aus Sicht von Guido Braun, Vizepräsident des Verbands Deutscher Zahntechniker-Innungen (VDZI, Kasten links) begann der schleichende Abstieg der Branche mit der Einführung des Festzuschusssystems, das auch zu einer Verschlechterung der Qualität beigetragen habe.
Dr. Jürgen Fedderwitz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), widerspricht. „Sicher hat das Festzuschussmodell zu keinen Qualitätseinbußen geführt“, sagt er. „Ob aufwendige Formen des Zahnersatzes oder eine eher einfache Versorgung – beides ist mit der gebotenen Qualität im Labor herzustellen.“ Im Übrigen bringe das Festzuschussmodell dem Patienten eher ein Informationsplus, da er über die verschiedenen Therapieformen informiert werde, so wie es der Gesetzgeber vorschreibt. Fedderwitz: „Es ist zu einfach, die hausgemachten Probleme des VDZI der Zahnärzteschaft zuzuschieben.“
Und diese Probleme sind vielfältig. Neben der geringen Auslastung vieler Labore plagt die Branche ein handfestes Nachwuchsproblem. Bereits 2012 benannte Walter Winkler, Generalsekretär des VDZI, die Misere.
Im Ergebnis sei die Zahl der Auszubildenden von 2000 bis 2010 um 29,8 Prozent auf 6 211 gesunken, schrieb Winkler im Verbandsmagazin Teleskop. Als Hauptgrund nannte er die weit unterdurchschnittliche Ausbildungsvergütung und verwies auf ein Ranking des Bundesinstituts für Berufsbildung, das 184 Ausbildungsberufe aus Industrie, Handel, Handwerk und Öffentlichem Dienst listet – von denen alle eine höhere Ausbildungsvergütung haben als Zahntechniker.
Auf Einkommensniveau mit Maurern und Straßenfegern
Konkret hätten die durchschnittlichen Ausbildungsvergütungen gestaffelt von 316 Euro im ersten Lehrjahr bis 479 Euro im vierten Lehrjahr gelegen. „Der Beruf des Zahntechnikers hatte einstmals eine Spitzenposition im Handwerk inne“, so Winkler 2012. „Die Einkommensentwicklung im Zahntechniker-Handwerk hat sich seitdem schleichend stark verschlechtert.“
Das gilt auch für die Einkommensperspektive der Auszubildenden. Das Statistische Bundesamt weist in seiner zuletzt verfügbaren Verdienststrukturerhebung einen durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst aller angestellten Zahntechniker in Deutschland von 2 484 Euro aus. Damit rangiert der Beruf unter den 332 aufgeführten auf Platz 212, noch hinter Berufsbildern wie „Maurer“, „Postverteiler“ oder „Straßenreiniger/Abfallbeseitiger“.
Laut Braun haben die oftmals bescheidene Erlössituation der Labore und damit die Verdienstmöglichkeiten ihrer Beschäftigten die Ursache in der mangelnden Auslastung. Schon heute seien die Betriebszahlen rückläufig. „Haben wir heute noch etwa 8 000 Labore, wird sich dieser Wert irgendwann bei 5 000 einpendeln“, erklärt er. Es bleibe aber in jedem Fall ein polypolistischer Markt mit einem knallharten Wettbewerb. Wenn 2015 der flächendeckende Mindestlohn kommt, habe die Branche ein Problem. Heute verdienen nach Brauns Aussage im Osten Deutschlands aktuell 31 Prozent und im Westen 11 Prozent der Zahntechniker weniger als 8,50 Euro pro Stunde.
Gleichzeitig ist eine Verbesserung des Marktes für deutsche Labore scheinbar nicht in Sicht: Laut Statistischem Bundesamt (Grafik 3) wuchs das Import-Volumen von „Zahnprothesen und Waren der Zahnprothetik“ allein von 2012 bis 2013 um 7,8 Prozent auf 186 Millionen Euro. Im gleichen Zeitraum schrumpfte das Importvolumen für „künstliche Zähne aus Kunststoff“ und „künstliche Zähnen aus anderen Stoffen“ insgesamt um zwei Prozent auf zusammen 59, 3 Millionen Euro.
Eine mögliche Erklärung ist ein Gerücht, dass wie eine Verschwörungstheorie aus der wirtschaftlichen Boomphase Chinas Anfang der 2000er-Jahre klingt. Es lautet: Chinesische Unternehmen haben begonnen, deutsche Dentallabore aufzukaufen und fräsen seitdem ihren Zahnersatz im Dreischichtbetrieb in Deutschland. Dazu Guido Braun: „Dass gekauft wird, kann ich mir gut vorstellen – der Markt ist da. Es gibt viele ältere Labor-betreiber, die aufgeben.“