Gesundheitswirtschaft im Ruhrgebiet

Ein Riese erwacht

Das Ruhrgebiet wird aufgrund seiner montanindustriellen Vergangenheit noch immer gerne als Schmuddelregion mit fehlender wirtschaftlicher Perspektive abgetan. Dabei ist die mit am dichtesten besiedelte Ecke Deutschlands dabei, sich zu einer der führenden Gegenden für Unternehmen der Gesundheitswirtschaft zu mausern.

Die Gesundheitswirtschaft – das machen die Zahlen mehr als deutlich – zählt zu den Siegerbranchen in Deutschland: Elf Prozent macht ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt aus, das Wachstum in den vergangenen Jahren lag im Durchschnitt bei 3,7 Prozent, also weit über dem der Gesamtwirtschaft (2,3 Prozent). Zum positiven Gesamtbild tragen maßgeblich Einrichtungen aus Klinikwirtschaft und Gesundheitsversorgung in einzelnen Regionen bei – und eine dieser Erfolgsregionen, wenngleich bislang auch mäßig beachtet, ist das Ruhrgebiet.

Leif Grundmann kennt diese Region. Als Mitglied der Geschäftsführung der MedEcon Ruhr GmbH, einem Verbund der Gesundheitsregion an der Ruhr, arbeitet er mit Nachdruck daran, das Potenzial der Unternehmen im Pott nachhaltig zu nutzen. Die MedEcon Ruhr GmbH hat sich zum Ziel gesetzt, Unternehmen und Einrichtungen aus dem Bereich der Gesundheitswirtschaft im Ruhrgebiet stärker miteinander zu vernetzen und sie über Sektorengrenzen hinweg zusammenzuführen. Darüber hinaus hat die MedEcon Ruhr GmbH das Regionalmarketing für die Region übernommen und entwickelt Projekte im Verbund, seien es Projekte im Bereich der Gesundheitsforschung oder neue Versorgungskonzepte.

Neue Perspektiven

„Die Gesundheitsregion Ruhr ist ein schlafender Riese, der langsam erwacht“, glaubt Grundmann. Ein Grund für das stetige Wachstum der Gesundheitswirtschaft entlang der Ruhr ist Grundmann zufolge der Rückgang der altindustriellen Arbeitsplätze. Dieser Rückgang habe auch das Land Nordrhein-Westfalen darin bestärkt, die Gesundheitswirtschaft verstärkt in den Fokus zu nehmen. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist nach Ansicht von Grundmann die Dichte an medizinischen Einrichtungen im Revier. Diese Dichte habe auch zu einer verstärkten Spezialisierung der einzelnen Einrichtungen geführt, um sich gegenüber der Konkurrenz behaupten zu können.

Starke Versorgung

Prof. Dr. Josef Hilbert, Geschäftsführender Direktor am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen, hält das Ruhrgebiet insbesondere im ambulanten und im stationären Versorgungsbereich für stark vertreten. „Wir sind die größte Region und gleichzeitig die mit der ältesten Bevölkerung, deshalb ist der Versorgungsbereich bei uns stark“, sagt Hilbert, der gleichzeitig Direktor des Forschungsschwerpunkts Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität am IAT und Sprecher des Netzwerks der deutschen Gesundheitsregionen ist. Allein im Ruhrgebiet gibt es beinahe 130 Krankenhäuser, diese erwirtschaften einen Jahresumsatz von mehr als fünf Milliarden Euro. Darüber hinaus praktizieren hier etwa 9 500 niedergelassene Ärzte, es gibt um die 1 100 Pflegeheime und ambulante Dienste.

Von den 336 000 Menschen, die im Jahr 2013 in der Gesundheitswirtschaft im Ruhrgebiet tätig waren, arbeiten rund 79 Prozent in der ambulanten, in der teilstationären oder in der stationären Versorgung oder in der Altenhilfe. Der allergrößte Teil davon – nämlich gut 275 000 – ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt (Quelle: Bundesagentur für Arbeit, auf Basis der IAT-Gesundheitswirtschaftsabgrenzung). Mit einem Beschäftigungswachstum von 14,7 Prozent liegt die Gesundheitswirtschaft deutlich über dem Wachstum der Gesamtwirtschaft (6,6 Prozent) im Ruhrgebiet.

Schwerpunkt Altersmedizin

Sehr aktiv und an vielen Stellen wegweisend ist Hilbert zufolge der Bereich der Altersmedizin im Ruhrgebiet. So gibt es beispielsweise am Zentrum für Altersmedizin der Kliniken Essen Mitte eine der größten geriatrischen Tageskliniken in NRW. Auch an der Ruhr-Universität Bochum laufen diverse Vorreiterprojekte in diesem Bereich. Besonders interessant ist nach Ansicht von Hilbert der Versuch, bei der Unterstützung des Zu-Hause-Lebens im Alter sektorübergreifend zusammenzuarbeiten und dabei den Brückenschlag zur kommunalen Sozialarbeit und zur Wohnungswirtschaft zu suchen.

Außerdem sind dem IAT-Direktor zufolge verschiedene Projekte im Zuge der Initiative des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes NRW „Altengerechte Quartiere“ im Ruhrgebiet in der Entstehung, seien es altersgerechte Wohnungen und Nachbarschaften für ältere Leute oder Seniorenbüros.

Gesundheitscampus NRW

Eine weitere Besonderheit des Ruhrgebiets ist nach Auffassung von Raphael Jonas die Etablierung des Gesundheitscampus NRW in Bochum. „Dieser Campus soll eine Plattform sein, alle Akteure in NRW miteinander ins Gespräch zu bringen, Kooperationen zu fördern und damit die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen zu initiieren“, sagt der stellvertretende Leiter des Geschäftsbereichs Handel, Stadtentwicklung, Gesundheitswirtschaft und Demografie bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittleres Ruhrgebiet in Bochum. Der Campus könnte zu einem Ausgangspunkt für Know-how-Transfer werden, der die dezentrale Struktur des Bundeslands virtuell verbindet und einen möglichen Standortnachteil gegenüber größeren Metropolen wie München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg und Berlin ausgleicht, glaubt Jonas.

Dentalkongress

Ein zahnmedizinisches Highlight hat die Ruhrgebietsstadt Witten vorzuweisen. Hier gibt es das Zahnmedizinisch-Biowissenschaftliche Forschungs- und Entwicklungszentrum Witten (ZBZ) – ein Zentrum, an dem bundesweit einmalig angewandte Forschung und Entwicklung gemeinsam mit der Zahnklinik der Privaten Uni Witten/Herdecke stattfindet. Im September tagte zum vierten Mal der Dentalkongress Ruhr, ein Kongress, auf dem Zahnmediziner und Zahntechniker zusammenfinden, so Grundmann, der ehemals Geschäftsführer am ZBZ war.

Mit Blick auf die speziellen Kompetenzbereiche, die sich ums Ruhrgebiet angesammelt haben und erfolgreich sind, hafte der Region „durchaus etwas Glamourhaftes an“, findet IAT-Direktor Hilbert. Auch wenn man in einer Region, die mit Maloche – also physisch harter Arbeit – assoziiert wird, eher zurückhaltend mit solchen Begriffen sei.

Martina MertenFachjournalistin für Gesundheitspolitikinfo@martina-merten.de

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