Ganz genau hinschauen
„Das IZZ soll einerseits als kompetenter Medienpartner in allen Fragen rund um zahnärztliche und berufspolitische Themenfelder funktionieren und andererseits auch einen vertrauensvollen Dialog zwischen der Zahnärzteschaft und den Medienvertreten ermöglichen“, erklärte Dr. Ute Maier, IZZ-Verwaltungsratsvorsitzende und Vorsitzende des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.
Zum 20. Presseforum hatte das Informationszentrum Zahngesundheit (IZZ) Ende Oktober ins Ulmer Bundeswehrkrankenhaus geladen. Dort erwartete die Journalisten ein umfangreiches Programm mit wissenschaftlichen Vorträgen, die einen Überblick über die relevanten zahnmedizinischen Themen verschaffen sollten. Gemäß dem Motto „Die Mundhöhle ist mehr als ’eine Kiste’ voller Zähne“, wurde der Patient in insgesamt neun Referaten ganzheitlich betrachtet. Laut Maier eine spannende und wichtige Perspektive, denn: „Der Mund ist nur ein Teil des Ganzen.“
Zähne sind oft das Stressventil des Körpers
Oberfeldärztin Dr. Kerstin Kladny ging in ihrem Vortrag „An seinen Zähnen hängt der ganze Mensch“ direkt auf den Titel der Veranstaltung ein und nannte Beispiele für den Zusammenhang von Stress, wie er etwa bei Auslandseinsätzen entsteht, und Zahnproblemen. So seien mehrere Millimeter starke Abrasionen beispielsweise nach einem längeren Afghanistanaufenthalt nicht unüblich. Kladny, die ärztliche Direktorin des Fachzahnärztlichen Zentrums am Standort Ulm, berichtete auch von einer jungen Frau mit „Hamsterbacken“– also einer stark ausgeprägten Kiefergelenkmuskulatur. Das Gebiss der jungen Frau war einwandfrei, doch klagte sie über ständige Kopfschmerzen.
Die Zähne funktionieren, laut Kladny, immer auch als „Stressventil“: Die Patienten knirschen nachts mit den Zähnen und zerstören sich dadurch nicht nur ihren Zahnschmelz, sondern bekommen auch Kopf- und Gesichtsschmerzen. Hier könnten einerseits Knirscherschienen helfen, andererseits sei oft eine Überweisung zum Psychosomatiker notwendig. Auch im Fall der jungen Frau mit den „Hamsterbacken“: „Es stellte sich heraus, dass sie eine handfeste Depression hatte und daher stark mit den Zähnen knirschte.“
Kollegen aus anderen Disziplinen hinzuziehen
In den Bundeswehrkrankenhäusern sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen Abteilungen, laut Kladny „selbstverständlich“. Um Schlimmeres zu verhindern, sei es wichtig, dass der Zahnarzt bei Verdacht auch Fachkollegen anderer Disziplinen hinzuzieht. Chefarzt Armin Kalinowski erklärt das so: „Auch im Auslandseinsatz ist schließlich alles miteinander vernetzt. Deshalb haben unsere Einsatzchirurgen immer eine zweite Facharztausbildung.“ Der Grund dafür: Die großen Lazarette, in denen derzeit deutsche Soldaten in Afghanistan und im Kosovo versorgt werden, müssten schließlich dem hiesigen medizinischen Standard entsprechen. Kalinowski: „Das ist ein politischer Auftrag, den müssen wir erfüllen.“
In der Mundhöhle verstecken sich aber auch für den Hautarzt wertvolle Diagnosen, postulierte Dr. Guido Weisel, Ärztlicher Direktor der Dermatologie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Vor allem gut- und bösartige Tumore der Haut und der Schleimhaut, Infektionen, Autoimmunerkrankungen und chronische Entzündungen zählen dazu. Ein interdisziplinäres Netzwerk sei da „fruchtbar und nützlich“. Chefarzt Kalinowski spricht deshalb nicht ohne Stolz von einer „Kopfklinik“, in der alle Disziplinen vereint sind. „Der Mund-Kiefer-Gesichtschirurg kriegt“, so Prof. Alexander Schramm, Ärztlicher Direktor der Mund-, Kiefer- und Plastischen Gesichtschirurgie am Bundeswehrkrankenhaus, „alleine nix hin.“ Nur als Teamplayer sei er erfolgreich.
Richtige Begleitung, statt schlauer Worte
Einen emotionalen Akzent setzte Dr. Elmar Ludwig mit einem Vortrag über die Behandlung von Mund- und Kieferhöhlentumoren. „Das richtige Begleiten ist bei diesen Menschen oftmals wichtiger, als eine zahnmedizinische Versorgung nach dem Leitfaden.“ Das letzte, was diese Menschen brauchen, seien Vorwürfe gegenüber ihrer Mundhygiene.
„Kieferhöhlentumore werden lange Zeit nicht bemerkt“, erklärt Ludwig, der auch Vorsitzender des Arbeitskreises Alters- und Behindertenzahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg ist. Deshalb sei es so wichtig, dass „wir immer ganz genau hinschauen“.
Für seinen Vortrag brachte Ludwig schockierende Bilder mit. Seit zehn Jahren hat er sich auf die Behandlung von Tumorpatienten spezialisiert. Die Fotos zeigen, mit welcher Klientel er es in seiner Praxis zu tun hat. „Da haben Patienten zu lange den Kopf in den Sand gesteckt, sie kommen viel zu spät.“
Besonders betroffen sei die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen. Ludwig berichtet von einer Frau, die seit zehn Jahren ihre Prothese nicht mehr aus dem Mund genommen hat, weil es angeblich nicht mehr ging. „In Wirklichkeit wollte sie aber gar nicht wissen, wie es unter der Prothese aussah“, sagt Ludwig und wirft Bilder an die Wand, die eine Mundhöhle mit verfärbten Verwachsungen und morschen Zahnstümpfen zeigen. „Dabei war die Frau sogar verheiratet. Sie werden es den Patienten nicht ansehen, sie treffen solche Menschen auf der Straße.”
Ein großes Problem sei, dass die Patienten so spät zum Zahnarzt gehen. Daher habe sich der Reha-Erfolg in den vergangenen zehn Jahren auch nicht verbessert. Seine Erkenntnis aus einem Jahrzehnt Behandlung: Heute macht er bei diesen Patienten weniger als früher. „Diese Menschen brauchen Begleitung, keine schlauen Worte. Da müssen wir noch besser werden. Vielleicht verstirbt der Patient ja schon, bevor wir unsere aufwendigen Zahnbehandlungen abgeschlossen haben.“
Die modernen dreidimensionalen Fertigungsmöglichkeiten künstlicher Gesichtsteile ermöglichten es heute aber diesen Schwerstkranken, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Denn eine schlimme Begleiterscheinung der Tumorerkrankungen, das wurde deutlich, ist oft ein Abrutschen ins gesellschaftliche Abseits.