Wirkungslose Wunderwaffen
Vor 86 Jahren begann der Siegeszug der Antibiotika. Sie waren die ultimative Keule gegen bakterielle Infekte wie Syphilis, Tuberkulose, Typhus oder Lungenentzündung. Millionenfach wurden die kleinen Helfer geschluckt, die Ärzte verschrieben die Wunderwaffe mehr als großzügig. Doch diese Waffe droht stumpf zu werden. Denn immer mehr Keime zeigen ihre Widerstandskraft gegen verschiedene antibiotische Wirkstoffe. So wird die Behandlung von Infektionskrankheiten zunehmend durch das Auftreten von Antibiotika-Resistenzen erschwert. Und es sind längst keine Einzelfälle mehr, dass Krankheitserreger auftreten, die gegen verschiedene oder sogar gegen alle bekannten Antibiotika resistent sind. Multiresistente Erreger (MRE) sorgen vor allem in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen, aber auch in der Tiermast für gravierende Probleme.
Deutsche Antibiotika- Resistenzstrategie (DART) besteht seit 2008
Um koordiniert gegen Resistenzen in der Human- und Tiermedizin vorzugehen, haben die drei zuständigen Bundesministerien – Gesundheit, Landwirtschaft, Forschung – bereits 2008 gemeinsam mit zahlreichen Verbänden die Deutsche Antibiotika- Resistenzstrategie (DART) entwickelt. Seitdem wurden verschiedene Maßnahmen zur Reduktion des Antibiotikaverbrauchs in der Human- und in der Tiermedizin umgesetzt, beispielsweise eine Meldepflicht für Infektionen mit bestimmten multiresistenten Keimen (MRSA), der Ausbau des Überwachungssystems „Antibiotika-Resistenz-Surveillance“ (ARS) am Robert Koch-Institut oder die Etablierung eines Fortbildungsprogramms für die Qualifikation als Berater in Antibiotic Stewardships (ABS).
Doch während in Nachbarländern wie beispielsweise den Niederlanden die Zahl der Krankenhausinfektionen mit multiresistenten Keimen aufgrund verschiedener Maßnahmen in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist, hat sich das Problem in Deutschland seit 2008 immer weiter verschärft. Um die Resistenzen künftig wirkungsvoller zu bekämpfen, hat die Bundesregierung im November des vergangenen Jahres einen Entwurf zur Weiterentwicklung der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie (DART) vorgestellt. „In den letzten Jahren konnten wir gemeinsam mit vielen Partnern viel erreichen. Antibiotikaresistenzen machen uns jedoch auch weiterhin ernste Sorgen. Daher dürfen wir nicht nachlassen, sondern müssen noch intensiver daran arbeiten, die erfolgreichen Strategien umzusetzen und weiterzuentwickeln. Die Überarbeitung der DART leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Alle Verantwortlichen und zuständigen Akteure sind disziplinübergreifend aufgerufen, sich an der Weiterentwicklung der DART zu beteiligen und diese gemeinsam umzusetzen. Nur so können wir langfristig einen Erfolg in der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen erzielen“, erklärte Thomas Ilka, damaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), bei der Präsentation der neuen Resistenzstrategie.
Vermutung: Die Regelungen wurden bisher noch nicht umfassend umgesetzt
Die neue Resistenzstrategie formuliert für die Human- wie auch für die Veterinärmedizin zehn Ziele (siehe Kästen). Allerdings halten sich die damit verbundenen Neuerungen im ersten Entwurf in Grenzen. Auf Nachfrage im Bundesgesundheitsministerium heißt es: „Die Kernelemente der DART werden auch in der weiterentwickelten Strategie bestehen bleiben. Von großer Bedeutung für die kommenden Jahre ist jedoch die Umsetzung von bestehenden Regelungen.“ Gemeint sind damit beispielsweise die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes 2011, des Krankenhausentgeltgesetzes 2013 und des Arzneimittelgesetzes 2013. Hier wurden verschiedene gesetzliche Regelungen im Bereich der Prävention und der Kontrolle von Antibiotika-Resistenzen, der Krankenhaushygiene und des Einsatzes von Antibiotika bei lebensmittelliefernden Tieren auf den Weg gebracht. Doch es scheint, dass diese Regelungen bislang nicht umfassend genug umgesetzt wurden. Deshalb soll mit der neuen DART in den nächsten Jahren die nachhaltige Implementierung von wirksamen Maßnahmen durch Verantwortliche und betroffene Akteure gesichert werden.
Nach der Veröffentlichung des ersten Entwurfs hatten Betroffene aus allen Bereichen des Gesundheitswesens die Möglichkeit, bis Ende Februar dieses Jahres die neue DART zu kommentieren oder Verbesserungsvorschläge einzureichen. Hunderte von Vorschlägen aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, von Fachgesellschaften oder Forschungseinrichtungen werden seitdem ausgewertet. Um den ersten Entwurf einer Strategie zu verfeinern, haben im Anschluss an die Kommentierungsphase die an DART beteiligten Ministerien in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einen moderierten Dialog mit nationalen Experten und be- troffenen Akteuren begonnen – in kleinen Arbeitsgruppen sollen zu einzelnen, noch festzulegenden Aspekten wie beispielsweise Überwachung, Aus-, Weiter- und Fortbildung, Diagnostik oder Qualitätssicherungsmaßnahmen entsprechende Ansätze für die Praxis identifiziert und formuliert werden. Zudem werden in diesen Arbeitsgruppen auch die externen Verbesserungsvorschläge diskutiert, bewertet und bei Bedarf in die DART eingearbeitet. Es bleibt abzuwarten, welche Neuerungen im Rahmen dieses Verfahrens noch in die DART mit aufgenommen werden. Die finale Version der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie soll am europäischen Antibiotikatag im November dieses Jahres veröffentlicht werden.
Gefährlicher als Aids
Die Zeit drängt, das Problem mit den Resistenzen ist nicht zu unterschätzen. Die Europäische Union ordnet Krankenhausinfektionen in ihrem Gefahrenpotenzial sogar noch vor der pandemischen Virusgrippe und vor Aids ein. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums erkranken in Deutschland jedes Jahr bis zu 600 000 Patienten an nosokomialen Infektionen. Dieser Begriff bezeichnet Infektionen, die sich ein Mensch in einer Einrichtung des Gesundheitswesens zuzieht – in der Regel im Krankenhaus, weshalb man auch von Krankenhausinfektionen spricht. Immer öfter handelt es sich dabei um multiresistente Erreger – der bekannteste Vertreter ist der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA). Aber auch weitere multiresistente Keime wie Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) oder multiresistente gramnegative Stäbchenbakterien (3MRGN, 4MRGN) gewinnen an Bedeutung. Infektionen durch multiresistente Keime sind schwierig zu therapieren, verlängern die Behandlungsdauer und weisen eine erhöhte Sterberate auf. Schätzungen des Gesundheitsministeriums zufolge sterben jährlich bis zu 15 000 Patienten an solchen Krankenhausinfektionen – bis zu einem Drittel dieser Todesfälle wären laut BMG allerdings durch eine bessere Einhaltung von Hygieneregeln vermeidbar.
Hauptgrund für die hohe Anzahl resistenter Keime in der Humanmedizin sind die zahlreichen Verordnungen der niedergelassenen Ärzte. Auch wenn Deutschland zusammen mit den Niederlanden und Estland in Europa zu den Ländern mit den geringsten Antibiotikaverordnungen gehört, moniert die Weltgesundheitsorganisation, dass der Verbrauch auch in Deutschland nach wie vor zu hoch sei. 2012 kamen Penicillin Co. in Deutschland mit 40 Millionen Verordnungen pro Jahr auf Platz zwei der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen. Einer Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung zufolge erhalten fast 32 Prozent aller GKV-Versicherten mindestens eine Antibiotikaverordnung pro Jahr. Dabei ist die Verordnungshäufigkeit sowohl stark vom Alter abhängig als auch vom Wohnort. Die Studie belegt, dass Kinder unter 15 Jahren und Senioren über 90 Jahren besonders häufig Antibiotika erhalten – dabei wird in allen Altersgruppen im Westen der Rezeptblock häufiger gezückt als im Osten.
Der Patient will die Pillen
Generell ist zwar die Zahl der Verordnungen nach Angaben des GKV-Arzneimittelindex in den vergangenen 25 Jahren relativ konstant geblieben. Allerdings ist der Anteil der Reserve-Wirkstoffe an allen verschriebenen Antibiotika über die Jahre stetig gestiegen. Lag der Anteil der Präparate, die für schwere Infektionen mit resistenten Keimen vorbehalten sein sollten, 1991 noch bei rund zwölf Prozent, betrug er im Jahr 2010 bereits 48 Prozent.
Oft reagieren die Ärzte auf den Wunsch der Patienten nach einer schnellen und durchschlagenden Behandlung und verschreiben ein Antibiotikum ohne eine vorherige mikrobiologische Untersuchung zur Erregerbestimmung. Dabei sind in 90 Prozent aller Fälle Viren die Auslöser eines Infekts – und die können mit Antibiotika nicht bekämpft werden. Hinzu kommen Probleme mit der Compliance der Patienten – viel zu oft setzen diese die Arzneimittel eigenmächtig ab, sobald es ihnen besser geht. Und fördern damit das Überleben resistenter Keime.
Die Schuldfrage im Fokus
„Wir sind uns alle bewusst, dass wir die Verbreitung von Antibiotikaresistenzen gemeinsam bekämpfen müssen – Veterinär- und Humanmedizin Hand in Hand. Damit die Strategie aufgeht, müssen sich neue Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zur Verbesserung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes darin widerspiegeln“, so Dr. Robert Kloos, Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Der überarbeitete Entwurf der DART stelle nicht nur den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, sondern solle auch einen wichtigen Diskussionsprozess in Gang bringen.
Und tatsächlich hat ein öffentlicher Diskus-sionsprozess zwischen den beiden medizi-nischen Disziplinen begonnen. Allerdings geht der zurzeit in eine völlig andere Richtung. Seit einigen Wochen scheint sich alles um die Frage zu drehen, wer für die Resistenzen hauptsächlich verantwortlich zu machen ist. Denn Ende Mai hatte der 117. Deutsche Ärztetag angesichts der Zunahme der multiresistenten Keime mit seinem Beschluss „Bekämpfung multiresistenter Keime“ die Politik aufgefordert, zeitnah geeignete Maßnahmen zu treffen, um den Einsatz der Antibiotika in der Tiermast zu vermindern.
„Die Verantwortung für die Resistenzlage in der Humanmedizin wird seitens der Humanmediziner mit zunehmender Tendenz allein dem Antibiotikaeinsatz in der Tiermast zugeschoben“, beklagte sich daraufhin Hans-Joachim Götz, Präsident des Bundesverbands der Tiermediziner (bpt), in einem offenen Brief an den Gesundheits- und den Landwirtschaftsminister. Die DART sei nicht allein erarbeitet worden, um der Antibiotika-Resistenzbekämpfung bei Tieren Rechnung zu tragen, sondern auch der bei Menschen. Ein durch das Verschreibungsverhalten der Humanmediziner und die mangelnden Hygienemaßnahmen in deutschen Krankenhäusern verursachter Selektionsdruck und die Verbreitung von resistenten Bakterien würden hingegen im Ärztetag-Beschluss mit keinem Wort erwähnt. „Eine derart einseitige Darstellung, die notwendige Maßnahmen im eigenen Bereich vermissen lässt und zudem den aktuellen Stand der Wissenschaft außer Acht lässt, kann nicht länger hingenommen werden“, so Götz weiter.
Vollgepumpte Hähnchen
Ob das Hin- und Herschieben des schwarzen Peters tatsächlich zielführend ist, darf bezweifelt werden. Klar ist, dass auch die Veterinärmediziner einen großen Anteil am Problem haben. Bei der Behandlung mit Antibiotika sind die deutschen Landwirte im europäischen Vergleich Spitzenreiter. So wurden 2012 nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz fast 1 620 Tonnen Antibiotika in der Tiermast eingesetzt. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung werden Masthähnchen am häufigsten mit Antibiotika behandelt. So bekommt ein Masthähnchen im Schnitt an zehn seiner 39 Lebenstage Antibiotika, ein Mastschwein immer noch an vier von 115 Tagen.
Ganz egal, ob gesund oder krank – bei Tieren in Gruppenhaltung werden fast immer alle Tiere behandelt, um die Ausbreitung einer Krankheit und den damit verbundenen finanziellen Ausfall zu verhindern. Durch die Gülle der Tiere gelangen die resistenten Keime dann zuerst aufs Feld und dann in die Nahrungskette.
Mit der 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes, die im April dieses Jahres in Kraft getreten ist, soll der Umgang mit den lebenswichtigen Medikamenten in der Tiermast nun viel stärker als bisher reguliert werden. Erstmals werden alle Antibiotikaanwendungen von Landwirten in einer bundesweiten Datenbank erfasst. Ein neuer Indikator, die sogenannte Therapiehäufigkeit, soll erkennbar machen, wie oft die Tiere in den einzelnen Landwirtschaftsbetrieben mit Antibiotika behandelt werden.
Dies ermöglicht den zuständigen Überwachungsbehörden der Länder eine umfassende direkte Einsichtnahme in die Daten über den Antibiotika-Einsatz bei landwirtschaftlichen Nutztieren und ist Grundlage für ein Benchmarking des einzelnen Betriebs im Vergleich zum Durchschnitt aller Betriebe. Verschreibt ein Tiermastbetrieb überdurchschnittlich viel, müssen der Tierhalter und sein Tierarzt gemeinsam ein auf den Betrieb angepasstes Konzept entwickeln, um die Menge der Antibiotikagaben zu verringern.
Otmar Müller betreibt ein Redaktionsbüro in Köln mit dem Schwerpunkt Gesundheit/ Gesundheitspolitikmail@otmar-mueller.de