Flüchtlingsversorgung

Unklare Spielräume für Mediziner

Werden Flüchtlinge krank, ist das Asylbewerberleistungsgesetz die Grundlage für medizinische Behandlungen. Da es aber keine bundeseinheitliche Auslegung des Gesetzes gibt, ist es für Ärzte und Zahnärzte schwer, die Paragrafen richtig zu interpretieren und in der Praxis anzuwenden.

Beinahe 200.000 Menschen haben in der Zeit von Januar bis Juli dieses Jahres Asyl in Deutschland beantragt. Knapp 125 Prozent mehr, als noch ein Jahr zuvor, gab das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jüngst bekannt. Viele von ihnen haben Schlimmes erlebt und leiden unter akuten oder chronischen Erkrankungen – dazu zählen auch Beschwerden im Bereich von Mund, Kiefer und Zähnen.

Ein Schein pro Quartal

Wer unter das Asylbewerberleistungsgesetz (Kasten) fällt, ist aber nicht automatisch krankenversichert. In den ersten 15 Monaten erhält ein Asylbewerber – theoretisch – einmal im Quartal einen Behandlungsschein von der jeweiligen Zentralen Anlaufstelle. Dieser Schein dient zur Abrechnung ärzt- licher und zahnärztlicher Leistungen – mit einer gravierenden Einschränkung: Diese Erkrankungen müssen akut sein oder der Patient muss unter akuten Schmerzen leiden.

Danach besteht die Option auf eine Versichertenkarte einer Krankenkasse und damit auf eine wesentlich unkompliziertere Behandlung. Ein Beispiel aus der zahnärztlichen Praxis: „Wenn der Asylbewerber den Schein holt und ihn dem Arzt vorlegt, klappt es eigentlich immer gut mit Behandlungen“, berichtet Dr. Jörg Meyer, Zahnarzt am Klinikum Friedrichshain und Referent des Vorstands für Öffentlichkeitsarbeit bei der KZV Berlin. Allerdings ist dies Meyer zufolge leider häufig nicht der Fall. Dann steht der Arzt vor der schwierigen Entscheidung, den Patienten entweder wegzuschicken oder ihn erst einmal auf eigene Kosten zu behandeln.

Um diese auch ethisch schwierigen Situationen zu aufzulösen, plädiert die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) in ihrem Forderungskatalog an erster Stelle für eine vollwertige Krankenversichertenkarte ab dem ersten Tag der Einreise – unabhängig von Aufenthaltsstatus und -dauer. Auch die Bundesärztekammer hält eine solche Karte für notwendig. Durch die vom Asylbewerberleistungsgesetz vorgegebene Einschränkung auf akute Erkrankungen würden Ärzte „indirekt zu Sozialrichtern am Patienten“, kritisierte jüngst der Ärztepäsident Dr. Frank Ulrich Montgomery.

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Dolmetscherpools fehlen

Zudem müssten auch Dolmetscherleistungen finanziert werden, findet die BAfF, denn an der sprachlichen Verständigung scheitere nicht selten auch die ärztliche und die zahnärztliche Versorgung. Noch mangelt es deutschlandweit an Dolmetscherpools, auf die Ärzte bei Bedarf zurückgreifen können. Ohne Dolmetscher bleibt eine exakte Diagnostik bei Flüchtlingen aber schwer. Mehrsprachige Dokumente für Patienten halten daher viele Kammern und Körperschaften für ihre Ärzte und Zahnärzte bereit.

Statistiken zufolge haben rund 40 Prozent der Flüchtlinge traumatische Situationen erlebt, sei es im Heimatland oder auf der Flucht. Bei minderjährigen Flüchtlingen wird der Anteil auf 25 bis 30 Prozent geschätzt, sagt Urs Fiechtner, Autor und Menschenrechtsexperte.

Hauptproblem der Versorgung von Traumapatienten ist ein Mangel an Fachkräften. Vielen Ärzten in Deutschland fehle schlicht weg die Qualifikation, um traumatisierte Flüchtlinge richtig zu behandeln, beobachtet Dr. Ernst-Ludwig Iskenius, Mitglied im Aktionsnetz Heilberufe von Amnesty International. Seit rund 15 Jahren gibt es ein Fortbildungscurriculum, in dem Standards zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren einschließlich Istanbul-Protokoll fest-gelegt sind. Das Istanbul-Protokoll der Vereinten Nationen ist ein Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer Grausamkeiten. Einige Kammern bieten auf dieser Basis Fortbildungen an.

Angst vor der 18

Ein kontrovers diskutiertes Problem im Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen ist die Art und Weise, wie Fachleute deren Alter einschätzen. Tatsächlich hängt der ärztliche und psychosoziale Versorgungsspielraum eines Flüchtlings nämlich von seinem Alter ab. Hintergrund: Minderjährige Flüchtlinge unterliegen nicht dem Asylbewerberleistungsgesetz. Sondern sie sind automatisch über das Jugendamt krankenversichert, kommen nicht in Gemeinschaftsunterkünfte, erhalten einen Deutschkurs und dürfen als Gruppe der besonders schutzbedürftigen Menschen nicht abgeschoben werden. „Viele minderjährige Flüchtlinge haben Angst, volljährig zu sein, weil dann ihr Schutzstatus wegfällt und das Damoklesschwert des Abschiebens über ihnen schwebt“, berichtet der Menschenrechtler Fiechtner.

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Der Kampf um die Minderjährigkeit

Können junge, unbegleitete Flüchtlinge ihr Alter nicht durch Papiere nachweisen, muss das zuständige Jugendamt eine Alterseinschätzung vornehmen. Das Verfahren reicht von Interviews und psychosozialen Clearings bis hin zu aufwendigen medizinischen Altersgutachten. Für letztere sind körperliche Untersuchungen einschließlich der äußeren Geschlechtsorgane sowie Röntgenuntersuchungen der Hand, des Gebisses und eine Computertomografie der Schlüsselbeine vorgesehen. Diese Unter- suchungen nehmen Rechtsmediziner, Zahnärzte, Kinderärzte oder Radiologen vor – zum Unmut vieler Medizinvereinigungen, Ärzte und Wissenschaftler.

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) hat gemeinsam mit der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) im Juni eine Berliner Erklärung an nationale wie europäische Entscheidungsträger gerichtet. Darin fordern sie, die körperliche wie psychische Unversehrtheit und Menschenwürde der jungen Flüchtlinge zu wahren. Sie lehnen die Anwendung ionisierender Strahlen außerhalb einer medizinischen Indikation ab. „Das Krebsrisiko, insbesondere im Kindesalter, ist einfach zu hoch“, kritisiert Dr. Thomas Novotny, Kinder- und Jugendarzt sowie IPPNW-Mitglied. Das sieht man auch bei der Bundesärztekammer so: „Röntgen stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Flüchtlinge dar“, sagt Montgomery.

Bundesländer wie Bremen, Hamburg und Thüringen haben Flüchtlingen nun eine Gesundheitskarte gegeben. Dieser Zugang zum System verursacht den beteiligten Krankenkassen zufolge keine Zusatzkosten. Vielleicht auch, weil die Asylbewerber auf besondere Behandlungen chronischer Krankheiten und auf freiwillige Zusatzleistungen der Kassen weiterhin verzichten müssen. Auch Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis 90 / Die Grünen) hat jetzt eine Rahmenvereinbarung mit acht gesetzlichen Krankenkassen unterzeichnet, nach der Flüchtlinge ab 2016 einen GKV-Versicherungsnachweis („G-Karte NRW“) erhalten können. Damit würde ein direkter Arzt- besuch möglich, ohne das bisherige Genehmigungsprozedere bei den Behörden durchlaufen zu müssen.

Martina MertenFachjournalistin für Gesundheitspolitikinfo@martina-merten.de

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