Karte mit Tücken
Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft schneller und tiefgreifender als alle technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Auch im Gesundheitswesen ist der Wandel spürbar. Seit Jahresbeginn ist die elektronische Gesundheitskarte für alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen obligatorisch. Noch besteht der Unterschied zur früheren Versichertenkarte zwar lediglich darin, dass die neue Variante ein Foto hat. Doch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe ist fest entschlossen, die technischen Möglichkeiten, die in der Chipkarte stecken, rasch voranzutreiben: Das reicht vom gespeicherten Medikationsplan über Notfalldaten und die Patientenakte bis hin zum elektronischen Datenabgleich zwischen Praxis und Krankenkasse. Noch in diesem Jahr will der CDU-Politiker ein entsprechendes „Gesetz für sichere digitale Kommunika-tion und Anwendungen im Gesundheitswesen“ beschließen lassen. Der von Gröhe jüngst vorgelegte Referenten-entwurf sieht dabei nicht nur konkrete Fristen vor. Auch Belohnungen für alle, die das Vorhaben vorantreiben, sowie Sanktionen für Verweigerer schweben dem Minister vor.
Damit beginnt ein neues Kapitel der unendlichen Geschichte der elektronischen Gesundheitskarte. Noch ist nicht absehbar, ob Gröhes Vorstoß mehr Erfolg haben wird als die gescheiterten Bemühungen seiner Vorgänger. Seit 2003 wurden Milliarden in das einst so vollmundig gestartete Prestigeprojekt investiert. Doch Krankenkassen, Ärzteschaft, Kliniken und andere Akteure zogen nie an einem Strang. Während die Kassen vor allem auf enorme Einsparmöglichkeiten hofften, warnten Mediziner vor dem „gläsernen Patienten“. Und in der Tat sind die Datenschutzbedenken bis heute nicht ausgeräumt. Dass hochsensible Gesundheits-daten in falsche Hände geraten könnten, ist eine Schreckensvision. Schließlich sind für Arbeitgeber oder Versicherungen solche Informationen bares Geld wert.
Dennoch hat sich die Debatte in den vergangenen Jahren verlagert. So gehen viele Menschen erstaunlich sorglos mit ihren privaten Daten um. Sportler lassen sich über das Internet Trainingsprogramme erstellen, die auf regelmäßigen Messungen von Herzfrequenz, Puls und anderen Daten basieren. Auch Smartphones wissen oft schon mehr über die Gesundheit ihrer Nutzer, als es die Betroffenen selbst tun. Die Konsumgüter- industrie hat hier einen rasant wachsenden Markt aufgetan. Doch auch innerhalb des Gesundheitswesens rücken angesichts neuer technischer Möglichkeiten die Vorteile von E-Health immer stärker in den Fokus. In vielen Regionen Deutschlands herrscht schon heute Arztmangel. Wenn die nächste Praxis oder Klinik weit weg ist, dann kann Telemedizin für die Patienten außerordentlich nützlich sein. Noch erfolgen hierzulande Diagnostik oder Therapie nur äußerst selten über den Computer. Doch auch hier ist die Entwicklung sehr dynamisch.
Die allzu sorglose Begeisterung der Technikfreunde ist jedoch ebenso fehl am Platz wie die düstere Warnung vor der totalen Überwachung von Patienten und Ärzten. Nötig ist vielmehr eine nüchterne Abwägung von Chancen und Risiken. Gröhe will sämtliche Versicherte und Leistungserbringer auf die Datenautobahn bringen. Das aber ist weder ratsam noch nötig. Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn der Einzelne sich dafür entscheidet, möglichst viele Gesundheitsdaten auf seiner Karte zu speichern, um etwa bei einem Unfall optimal versorgt zu werden. Andere werden lieber das Risiko auf sich nehmen, dass im Notfall manche Daten erst ermittelt werden müssen. Das hat nicht nur mit Angst vor Missbrauch zu tun. Es geht auch um das Recht, über derartig private Daten selbst bestimmen zu können. Freiwilligkeit muss deshalb das oberste Gebot lauten. Gröhes Pläne aber lassen vermuten, dass er hier lieber auf Zwang setzt. In diesem Fall werden Ärzteschaft und Datenschützer wohl weiter auf der Bremse stehen.
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