ECC-Fall: Ähnliches Erkrankungsbild bei Zwillingen
Die zweijährigen Zwillinge wurden von ihren Eltern in der Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Greifswald vorgestellt. Die Kinder waren von der Hauszahnärztin wegen ihrer kariösen Gebisse überwiesen worden. Zum Zeitpunkt ihrer Vorstellung hatten sie keine Schmerzen, obwohl ein Kind der Anamnese nach im Verlauf der vergangenen sechs Monate bereits zweimal unter submukösen Abszessen im Bereich der Oberkieferfrontzähne gelitten hatte. Diese waren seinerzeit mit einem Antibiotikum behandelt worden.
Die allgemeine Anamnese war unauffällig, es lagen keine Erkrankungen oder Allergien vor. Die Kooperation der Kinder war altersgemäß sehr gering. Beide Kinder wiesen sehr ähnliche Befunde auf. Der extraorale Befund zeigte keine Auffälligkeiten. Die intraorale Untersuchung ergab jeweils ein kariöses Milchgebiss: Die oberen vier Frontzähne wiesen erhebliche Läsionen mit komplettem Verlust der klinischen Kronen auf (Abbildungen 1a und 1b) und an den Molaren des Ober- und des Unterkiefers fanden sich große Kavitäten. Weitere unversorgte, aktive kariöse Läsionen wurden an den Eckzähnen diagnostiziert.
Aktive, nicht kavitierte Läsionen konnten an der Bukkalfläche der oberen und der unteren Eckzähne sowie an den Molaren festgestellt werden. Bei beiden Kindern lag der d3mf-t bei 11. Die Mundschleimhaut war gesund, das Zahnfleisch wies in der Region 52 bis 62 Entzündungen auf. Bei beiden Kindern fanden sich Fisteln an den Zähnen des Oberkiefers.
Kariesrisikobewertung
In Bezug auf die Ernährungsgewohnheiten berichteten die Eltern über einen hohen und regelmäßigen Konsum von gesüßten Speisen sowie Getränken, etwa sechsmal über den Tag verteilt aus der Nuckelflasche und vor dem Einschlafen. Die Mutter berichtete, dass sie mit fluoriertem Speisesalz koche.
Vor etwa einem Monat hatten die Eltern auf Empfehlung der Erzieherin im Kindergarten begonnen, die Zähne der Kinder zu putzen, jedoch unregelmäßig und sehr ineffektiv. Fluoridhaltige Zahn pasta wurde noch nicht angewendet. Nach Anfärben der Zähne bei beiden Kindern wiesen mehr als 73 Prozent der Approximal- und der Okklusalflächen deutliche Plaque auf. Von den Eltern wurde die Auffassung vertreten, dass es sich bei den Milchzähnen lediglich um temporäre Zähne handele, die ihres Erachtens nach „nicht so wichtig“ seien.
Im vorliegenden Fall können die Karieserfahrung, die kariogenen Ernährungsgewohnheiten, das massive Vorhandensein des Biofilms sowie die geringe Motivation der Eltern als relevante Risikofaktoren gewertet und die Zwillinge als Patienten mit sehr hoher Kariesaktivität eingestuft werden.
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Diagnose und Behandlungsplan
Es handelte sich um einen typischen Fall einer frühkindlichen Karies (Early Childhood Caries, ECCIII oder „severe-ECC“), wobei bei beiden Kindern ähnliche intraorale Charakteristika vorlagen. Der ursächliche Behandlungsplan konzentriert sich auf die Umstellung der schädlichen Ernährungs- und Mundhygienegewohnheiten, die Arretierung der kariösen Läsion sowie die Vermeidung der Entstehung neuer Läsionen. Zusätzlich wird natürlich eine Sanierung erfolgen.
Interventionen auf der Patientenebene
Die Eltern wurden mit einfachen und klaren Worten über die Ursachen der massiven kariösen Läsionen ihrer Kinder informiert und über die Wichtigkeit beziehungsweise die Bedeutung der Milchzähne für eine gesunde Entwicklung der Kinder aufgeklärt sowie diesbezüglich sensibilisiert. Ferner erfolgte eine graduelle Desensibilisierung zur Steigerung der non-operativen Behandlungsfähigkeit der Kinder. Ein zahnärztlicher Kinderpass, der zentrale Informationen zu Ernährung, Zahnpflege, Munderkrankungen sowie Fluoridierungsempfehlungen enthält, wurde den Eltern für jedes Kind mitgegeben. Den Eltern wurden die essenziellen Maßnahmen demonstriert, und sie erhielten spezifische Informationen bezüglich der Therapie ihrer Kinder.
Die Ernährungsberatung umfasste
die Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Kariesentstehung,
die Empfehlung zum Verzicht auf süße Getränke zwischen den Mahlzeiten,
die Empfehlung zum Verzicht auf süße Getränke aus der Nuckelflasche in der Nacht, als Alternative sollen nur ungesüßte Tees oder Wasser gegeben werden,
die Empfehlung zum Ersetzen der Flasche durch die Tasse, ansonsten soll die Flasche nur zu den Mahlzeiten gegeben werden. Die Flasche ist kein Spielzeug oder gar Beruhigungsinstrument für die Kinder,
die Empfehlung zur Verwendung von fluoridiertem Speisesalz..
Auf der Ebene der Zahnpflege
die Etablierung einer adäquaten Mundhygiene nach Anfärben der Zähne und anschließendem Zähneputzen seitens der Eltern zur suffizienten Biofilmentfernung,
die Instruktionen zur „KAI“ Zahnputztechnik (Kauflächen-Außenflächen-Innenflächen) - das Zähneputzen sollte im Liegen erfolgen, um sicherzustellen, dass die Eltern alle Zahnflächen beim Putzen sehen können,
„Lift the Lip“: eine Hand zum Abhalten der Wange oder Lippe und die zweite Hand zum Führen der Zahnbürste
Kariesinaktivierung
Ein intensives Karieskontrollprogramm zur Kariesarretierung mit monatlichen Besuchen für drei Monate und danach zweimonatlich zur Mundhygienekontrolle und zur Fluoridapplikation (Duraphat®: GABA, Hamburg, Deutschland; 22,600 ppm F) wurde etabliert.
Im Laufe des zweiten und des dritten Termins wurden bereits signifikante Reduktionen des sichtbaren dentalen Biofilms auf etwa 45 beziehungsweise 30 Prozent bei beiden Kindern festgestellt. Die Eltern wurden stets mittels entsprechender Mundhygieneübungen motiviert. Nach rund acht Monaten waren die meisten kariösen Läsionen bei beiden Kindern inaktiv. Die Eltern waren sehr motiviert und hielten alle Kontrolltermine ein.
Interventionen auf der Zahnebene
Im Hinblick auf das geringe Alter der Kinder sowie die erforderliche umfangreiche Behandlung wurde die Sanierung der kariösen Zähne unter Narkose durchgeführt. Die Narkosebehandlungen bei den Zwillingen wurden im Abstand von einer Woche durchgeführt. Bei beiden Kindern waren alle Molaren und Eckzähne vital ohne klinische Anzeichen einer irreversiblen Pulpaschädigung.
Beim ersten Kind (Abbildungen 2a bis 2d) erfolgten aufgrund von caries profunda bei den Zähnen 54 und 64 Pulpotomien unter Anwendung von Eisensulfat und Kalziumhydroxid mit anschließender Restauration mittels konfektionierter Stahlkronen. Die Zähne 65, 75, 85 wiesen mehrflächige kariöse Läsionen auf, die nach Kariesentfernung sowie Kronenaufbau mit Glasionomerzement und dann mit konfektionierten Stahlkronen restauriert wurden. Ferner wurden bei 53 und 55 Kompomerfüllungen durchgeführt. Schließlich erfolgte die Extraktion der stark kariösen Frontzähne 51, 52, 61 und 62.
Beim zweiten Kind (Abbildungen 3a bis 3d) wurden aufgrund von caries profunda bei 54, 55, 64 Pulpotomien mit anschließender Restauration mittels konfektionierter Stahlkronen durchgeführt. 65, 75, 85 wurden mithilfe konfektionierter Stahlkronen restauriert, bei Zahn 84 wurde eine Kompomerfüllung gewählt. Abschließend erfolgte die Extraktion von 52 bis 62.
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Nachsorge
Die Recall-Termine wurden quarteilsweise festgelegt, insbesondere um die Einhaltung der Mundhygiene kontrollieren zu können. Da eine deutliche Verringerung der Kariesaktivität aufgrund der effektiven Plaque- entfernung beobachtet wurde, erfolgte eine Verlängerung des Recallabstands auf sechs Monate.
Das Recall beinhaltete immer das Anfärben der Zähne beider Kinder zur Visualisierung des Biofilms sowie zur Motivation und Instruktion der Kinder und der Eltern bezüglich der Zahnpflege, die Untersuchung der Zähne und eine professionelle Zahn- reinigung mit anschließendem Auftragen von fluoridhaltigem Lack.
Über 14 Monate hinweg konnten keine neuen kariösen Läsionen festgestellt werden. Des Weiteren waren keine phonetischen Schwierigkeiten, keine psychischen Beschwerden und keine Komplikationen beim Essen als Folge von Milchzahn- verlusten bei den Kindern zu diagnostizieren.
Diskussion
Die frühkindliche Karies gilt als eine der häufigsten dentalen Erkrankungsformen bei Kleinkindern [Congiu et al., 2014]. Obwohl in Deutschland keine nationale repräsentative Querschnittsstudie existiert, legen regionale epidemiologische Studien zur ECC eine Prävalenz zwischen 7,3 Prozent und 20,3 Prozent nahe [Splieth et al., 2009].
Insbesondere eine hochkariogene Ernährung sowie fehlende oder unzureichende Zahnpflege bei kleinen Kindern führen zur ECC [Misra et al., 2007]. So stellt der exzessive und häufige Konsum zucker- oder säure- haltiger Getränke, die zum Teil in Nuckel- flaschen oder Trinklerntassen mehrmals täglich zwischen den Hauptmahlzeiten seitens der Eltern verfügbar gemacht werden, einen prädisponierenden Faktor für die Entstehung der ECC dar, was verschiedene Studien eindrücklich dokumentiert haben [Tinanoff und Reisine, 2009; Misra et al., 2007; Tinanoff et al., 2002].
Als weiterer und vielleicht entscheidender Risikofaktor für die Entstehung einer ECC ist die unregelmäßige und mangelhafte Mundhygiene zu nennen [Twetman, 2008]. Unter der Voraussetzung, dass eine gute Mundhygiene vor dem Durchbruch der Milchzähne praktiziert wird und häufig Fluorid zur Anwendung gelangt, bleiben die Zähne selbst dann intakt, wenn häufig kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel konsumiert werden.
Neben den Kausalfaktoren beeinflussen weitere Risikofaktoren aus dem Sozial- und Verhaltensbereich indirekt die ECC-Entstehung. So ist das ECC-Risiko bei Kindern aus Familien mit geringerem sozioökonomischem Status beziehungsweise bei Kindern aus Migrantenfamilien sehr erhöht [Splieth et al., 2009; Martens et al., 2006].
Obwohl es möglich war, die restaurative Therapie bei den betroffenen Kindern in Narkose durchzuführen, wurde im vorliegenden Fall versucht, zunächst die negativen Verhaltensfaktoren zu eliminieren, und zwar durch die Aufklärung der Eltern über Ernährung und Mundhygiene sowie durch die Durchführung von Kontrollterminen. Infolgedessen wurde die Arretierung der Kariesläsionen gewährleistet und gleichzeitig die Kooperation der Kinder und der Eltern optimiert, wobei dies für die Prognose und Therapieplanung entscheidend war. Durch mechanische Beeinflussung des Biofilms war in diesem Fall die Karieskontrolle möglich.
Wissenschaftlich ist inzwischen eindeutig belegt, dass initiale Kariesläsionen mit intakten Oberflächen unter Anwendung von Fluoriden und Plaquekontrollen arretiert werden können [Featherstone, 2008]. Ferner wurde im Rahmen diverser Studien zur Kariestherapie verifiziert, dass die Progression einer kavitierten kariösen Läsion durch Biofilmentfernung auch verlangsamt oder angehaltet werden kann [Ricketts, 2009; Innes, 2007].
Daher ist von zentraler Relevanz, zusätzlich zur restaurativen Therapie der ECC ein Intensivprophylaxekonzept zu implementieren, um eine Kontrolle der Risikofaktoren zu gewährleisten. Im Hinblick auf diese Patienten war es möglich, viele kariöse Läsionen vor der Narkosesanierung zu arretieren, wodurch eine signifikante Reduktion der Pulpaexposition sowie eine Vitalerhaltung vieler kariöser Zähne realisiert werden konnte.
Im Rahmen von Kariesprävention und -therapie ist die Verwendung von Fluoridprodukten (Zahnpasta, Mundspülung, Gel, Kochsalz) essenziell. Bei der ECC sollte gewährleistet sein, dass die Eltern ein- bis zweimal täglich fluoridierte Kinderzahnpasta (500 ppm F) bei ihrem Kind einputzen. Zahnpasta mit einer höheren Fluoridkonzentration ( 1000 ppm) ist bei Kindern mit erhöhtem Kariesrisiko geeignet [Walsch et al., 2010], was allerdings voraussetzt, dass das Kind diese Zahnpasta selbstständig ausspucken kann.
Bei den Zwillingen wiesen die meisten Molaren einen umfangreichen Verlust an Zahnhartsubstanz auf, weswegen konfektionierte Stahlkronen als restauratives Material zur Anwendung gelangten. Sie garantieren nicht nur die Wiederherstellung der Funktion geschädigter Zähne, sondern machen auch eine optimale Überlebensdauer der Zähne bis zum Beginn der physiologischen Exfoliation wahrscheinlich [DGZMK, 2002]. Seitens der DGZMK und der internationalen Gesellschaften für Kinderzahnheilkunde [Threlfall et al., 2005] wird beispielsweise im Rahmen einer Therapie mehrflächiger Kavitäten oder pulpotomierter Zähne die Anwendung konfektionierter Stahlkronen vorgeschlagen.
Fazit
Bei der ECC handelt es sich um eine aggressiv und akut verlaufende Kariesform im Milchgebiss, durch die ein signifikanter negativer Einfluss auf die Lebensqualität der Kinder und ihrer Eltern hervorgerufen wird. Eine effektive ECC-Therapie kann nur durch die Beseitigung kariogener Faktoren garantiert werden. Frühzeitige präventive Maßnahmen und motivierende Gespräche mit Eltern und Patienten fungieren als Schlüsselfaktoren, denen eine zentrale Bedeutung für die Überwindung kultureller und sozioökonomischer Barrieren bei der ECC-Therapie zukommt.
Dr. Ruth M. Santamaria, Prof. Dr. Christian H. SpliethAbt. für Präventive Zahnmedizin und KinderzahnheilkundeErnst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldRotgerberstr. 8, 17487 Greifswaldruth.santamaria@uni-greifswald.de