Neue Erkenntnisse bei der Schmerztherapie

Chroniker sind unterversorgt

Viele Menschen leiden unter chronischen Schmerzen, deren Behandlung jedoch ist oft suboptimal. Das soll besser werden: Beim 9. Kongress der europäischen Schmerzföderation (EFIC) in Wien haben die Referenten die neuesten Entwicklungen beim Neuropathischen Schmerz, bei der Behandlung mit Opioiden und beim Tumorschmerz präsentiert.

Wie belastend Schmerzen – vom Zahnschmerz bis zum Wundschmerz – sind, ist jedermann bekannt. Dennoch liegt bei der Schmerztherapie hierzulande offenbar noch einiges im Argen. Das gilt insbesondere für die Behandlung chronischer Schmerzen unabhängig davon, ob es sich um Tumorschmerzen handelt oder um chronische Schmerzen anderer Genese.

Die Zahl der Betroffenen mit chronischen Schmerzen ist größer als allgemein bekannt: „Etwa 20 Prozent der Erwachsenen in Europa – das sind rund 80 Millionen Menschen – leiden unter chronischen Schmerzen“, betonte Dr. Chris Wells aus Liverpool, Präsident der EFIC. Neun Prozent der Bevölkerung haben sogar täglich Schmerzen. Mit 63 Prozent führen Rückenschmerzen die Liste an, gefolgt von Gelenk schmerzen und rheumatischen Beschwerden.

Chronischer Schmerz soll Krankheitsbild werden

Als chronisch werden Schmerzen laut Wells bezeichnet, wenn sie mindestens über drei Monate regelmäßig auftreten. Sie schränken die Lebensqualität erheblich ein und führen nicht selten zum sozialen Rückzug der Betroffenen. Die Kosten durch Arbeitsunfähigkeiten infolge von Schmerzerkrankungen und die daraus folgenden Produktivitätsverluste sind nach Wells enorm: „Immerhin stehen etwa zwei Drittel der chronischen Schmerzpatienten in Europa noch im Arbeitsleben und chronische Schmerzen sind die häufigste Ursache für eine Berufsunfähigkeit oder Frühpension.“

Doch trotz relevanter Therapiefortschritte in jüngster Zeit besteht eine erhebliche Unterversorgung der Patienten. Mehr als die Hälfte der chronischen Schmerzpatienten hat eine Leidensgeschichte von zwei Jahren und mehr hinter sich, bevor die Schmerzen angemessen behandelt werden. Ein Drittel der Betroffenen wird nach EFIC-Angaben überhaupt nicht behandelt und rund 38 Prozent sind der Ansicht, die Behandlung wirke nicht ausreichend oder werde unzureichend durchgeführt.

Deshalb soll der chronische Schmerz nach Vorstellung der EFIC künftig als eigenständiges Krankheitsbild in der internationalen Krankheitsklassifikation ICD-11 der WHO verankert werden. In der neuen internationalen Kodierung, die bis August 2016 in der Praxis getestet werden soll, ist chronischer Schmerz mit speziellen Diagnosen wie beispielsweise dem chronischen primären Schmerz, dem chronischen postoperativen Schmerz, dem chronischen neuropathischen Schmerz sowie dem chronischen Kopf- und Gesichtsschmerz enthalten.

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###more### ###title### Die größte Baustelle – der neuropathische Schmerz ###title### ###more###

Die größte Baustelle – der neuropathische Schmerz

Große Defizite bestehen insbesondere bei der Behandlung von Patienten mit neuropathischen Schmerzen: So dauert es bei dieser Schmerzform laut Wells besonders lange, ehe sie richtig diagnostiziert und adäquat behandelt wird. Die EFIC hat deshalb gemeinsam mit der International Association for the Study of Pain (IASP) das Jahr 2015 zum „Jahr gegen den neuropathischen Schmerz“ erklärt.

Der neuropathische Schmerz (wie der echte Trigeminusschmerz) ist eine quälende und oft schwer zu beschreibende Schmerzform, hieß es beim Kongress in Wien. Er kann einschießend oder brennend sein oder sich in Taubheitsgefühlen und Empfindungsstörungen äußern. Auslöser können Verletzungen sein oder Erkrankungen, die das somatosensorische System beeinträchtigen, zu dem das periphere und das zentrale Nervensystem gehören. Periphere neuropathische Schmerzen können etwa durch Ischias, Gürtelrose, Diabetes, HIV oder chirurgische Eingriffe verursacht werden. Zentrale neuropathische Schmerzen treten oft als Folge von Schlaganfällen, Multipler Sklerose oder einer Rückenmarksverletzung auf. Außerdem können Schmerzen anderer Genese, die primär nozizeptive Schmerzen verursachen, eine neuropathische Komponente haben. Das ist beispielsweise oft bei Rückenschmerzen, einer Osteoarthritis und auch bei Tumorschmerzen der Fall.

Herkömmliche Analgetika sind beim chronischen neuropathischen Schmerz wenig effektiv. Behandelt wird entsprechend der Leitlinien üblicherweise mit Antiepileptika wie Gabapentin oder Pregabalin sowie mit Antidepressiva wie zum Beispiel Amitriptylin oder Duloxetin. Ferner können nicht-medikamentöse Verfahren wie die Neuromodulation zum Einsatz kommen. Noch experimentell sind Verfahren wie die Behandlung mit Botulinum-Toxin sowie topische Anwendungen von Lidocain oder Capsaicin. Erprobt werden ferner derzeit die therapeutischen Möglichkeiten mit Cannabinoiden.

###more### ###title### Behandlung mit Opioiden ###title### ###more###

Behandlung mit Opioiden

Einen festen Stellenwert bei der Behandlung chronischer Schmerzen haben die Opioide. Als erfreulich ist laut Prof. Dr. Bart Morlion, Leuven, zu werten, dass die Wirkstoffe inzwischen nicht mehr so restriktiv wie früher verordnet werden. Allerdings mehren sich warnende Stimmen aus den USA, wo es zu ernsten Komplikationen unter Opioiden gekommen ist. Zu erklären ist dies laut Morlion durch die in den USA oft un- kritische Verordnung der Wirkstoffe, die zum Teil sogar in sogenannten „Pill Mills“ unkontrolliert und ohne Beachtung der Indikation und der Leitlinien abgegeben werden.

Selbstverständlich sind Opioide laut Morlion nicht frei von Nebenwirkungen und sollten nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung im individuellen Fall verordnet werden. Ob der Nutzen der Medikation die potenziellen Risiken überwiegt, ist nur nach einer sehr differenzierten Diagnose zu beantworten. Außerdem müssten nach Angaben des Schmerztherapeuten Begleiterkrankungen und deren Behandlung sowie das Risiko eines Medikamentenmissbrauchs mit in Betracht gezogen werden.

Wenn Patienten auf eine Opioid-Behandlung nicht ansprechen, sollte diese nach Morlion nicht einfach abgebrochen werden. Sinnvoller sei ein Opioid-Wechsel. Schon bei Behandlungsbeginn seien zudem mit dem Patienten mögliche Exit-Strategien zu besprechen. Die Behandlung sollte außerdem laufend überprüft und evaluiert werden. Um Unsicherheiten bei der Opioid-Behandlung schwerer Schmerzustände entgegenzuwirken, werden von einer speziellen Arbeitsgruppe der EFIC zurzeit Empfehlungen für einen angemessenen Umgang mit den Substanzen vor allem in der Langzeitbehandlung chronischer Schmerzen erarbeitet.

Responder identifizieren

Zum kritischen und verantwortungsvollen Umgang bei der Schmerztherapie gehört laut Dr. Andrew Moore aus Oxford aber nicht nur, dass die Wirkstoffe indikationsgerecht und zulassungskonform verordnet werden. Wichtig ist auch, dass Non-Responder rechtzeitig erkannt werden und dass die Therapie dann entsprechend umgestellt wird. Ob ein Patient auf eine Medikation als Responder oder als Non-Responder reagiert, zeigt sich im Allgemeinen bereits frühzeitig. Denn Patienten, die rasch auf eine Medikation ansprechen, lassen sich mit dieser in aller Regel auch langfristig befriedigend behandeln. Wer jedoch initial keine adäquate Schmerzlinderung erfährt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf lange Sicht ein Non-Responder bleiben. „Wenn ein Patient nach zwei bis drei Wochen keine relevante Schmerzreduktion angibt, muss man das praktisch als Stoppsignal für die Behandlung mit der jeweiligen Substanz verstehen“, sagte der Mediziner in Wien.

###more### ###title### Tumorschmerz – nach wie vor eine Herausforderung ###title### ###more###

Tumorschmerz – nach wie vor eine Herausforderung

Ähnlich wie neuropathische Schmerzen sind auch krebsbedingte Schmerzen nach wie vor eine medizinische Herausforderung, wie beim Kongress dargelegt wurde. Trotz großer Bemühungen und neuer Behandlungsmethoden ist der Tumorschmerz weiterhin weit verbreitet: Rund die Hälfte der Krebspatienten leidet unter Schmerzen, mehr als ein Drittel gibt die Schmerzintensität mit mäßig bis stark an, so das Ergebnis einer Metaanalyse einer niederländischen Forschungsgruppe.

Die Literaturanalyse ergab zudem, dass sich der Anteil der Krebspatienten mit Schmerzen in den vergangenen zehn Jahren keineswegs vermindert hat – ein so die Wissenschaftler „ernüchterndes Resultat“. So litt vor zehn Jahren ein Drittel der Tumorpatienten nach einer Krebsbehandlung an Schmerzen. Entsprechend der aktuellen Analyse sind es nunmehr nahezu 38 Prozent.

Leicht verbessert hat sich die Situation während der Behandlung: Vor zehn Jahren hatten 59 Prozent der Krebspatienten während der Behandlung Schmerzen, nunmehr sind es 55 Prozent. Außerdem werden zwei Drittel der Patienten, die im fortgeschrittenen, im metastatischen oder im Finalstadium ihrer Erkrankung sind, laut aktueller Daten von Schmerzen gepeinigt. Vor zehn Jahren waren es 64 Prozent.

###more### ###title### Was zu Schmerzen führt, was Schmerzen fördern ###title### ###more###

Was zu Schmerzen führt, was Schmerzen fördern

Übergewicht: Vor allem Menschen mit Übergewicht und Adipositas klagen oft über Schmerzen und scheinen eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit zu besitzen. Ursache hierfür könnte eine ungesunde Ernährung sein, so das Ergebnis einer US-Studie, die beim EFIC vorgestellt wurde. In der Studie wurde eine Assoziation zwischen dem Body-Mass-Index (BMI), der Ernährungsweise und der Schmerzempfindlichkeit festgestellt. Ursache könnte ein verminderter Verzehr von Lebensmitteln sein, die entzündungshemmende Antioxidantien enthalten, berichtete Studienautor Prof. Dr. Charles Emery aus Ohio.

Eine verminderte Schmerzempfindlichkeit besitzen einer brasilianischen Studie zufolge dagegen Frauen, die die sogenannte Mini-Pille nehmen, die ausschließlich auf Progesteron basiert. Schmerzreize, die mittels einer elektrischen Stimulation am Unterarm gesetzt werden, wurden von diesen Frauen deutlich später wahrgenommen als von Frauen, die keine Pille einnehmen oder mit einer Kombipille aus verschiedenen Hormonen verhüten.

Depressionen: Menschen, die auf anhaltende Schmerzen mit dem Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit reagieren, laufen Gefahr, zusätzlich eine Depression zu entwickeln. Das zeigt eine Studie Bochumer Wissenschaftler bei 164 Rückenschmerzpatienten, in der der Zusammenhang zwischen Schmerz und Depressivität untersucht wurde. Sechs Monate nach der ersten Messung wurde dabei überprüft, ob Schmerzreaktionen, Schmerzintensität und die durch Schmerz erlebten Beeinträchtigungen das Auftreten depressiver Symptome begünstigt haben. Zusätzlich wurde analysiert, über welche Variablen die Schmerzintensität und die schmerzbezogenen Beeinträchtigungen vorhergesagt werden können. Bei Patienten, die sich hilflos und verzagt fühlen und unter schmerzbezogenen Beeinträchtigungen leiden, war die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sie sechs Monate später depressive Symptome zeigen.

Stress: Dagegen können Stress und Ablenkung das Schmerzempfinden mindern, so das Ergebnis eines Forscherteams am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. In der Studie wurde das Schmerzerleben von 17 gesunden Testpersonen geprüft, während sie mit komplizierten Rechenaufgaben unter Stress gesetzt und/oder mit einer Suchaufgabe geistig abgelenkt wurden. Vor und nach den Aufgaben wurde gemessen, ab wann die Probanden einen Reiz als schmerzhaft empfinden und ab welchem Zeitpunkt sie ihn nicht mehr tolerieren. Zusätzlich erfolgte eine Untersuchung mittels Magnetresonanztomografie, während die Probanden schmerzhaften Reizen ausgesetzt waren.

Das Ergebnis: Die Testpersonen erlebten das Kopfrechnen im Gegensatz zur Suchaufgabe als unangenehm und „stressig“. Trotzdem führten beide Aufgaben zu einer höheren Schmerzschwelle und Schmerztoleranz. In der Untersuchung gab es ferner Hinweise, wonach die Gemeinsamkeiten von Stress und kognitiver Ablenkung bei der Schmerzmodulation auf ähnliche neurobiologische Mechanismen zurückzuführen sind.

Die Autorin ist gerne bereit, Fragen zu ihren Beiträgen zu beantworten.

Christine Vetter

Merkenicher Str. 224

50735 Köln

info@christine-vetter.de

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