Der Mensch in der Cloud
Technische Innovation und die Angst vor deren Missbrauch gehen oft Hand in Hand. Könnte es nicht lebensrettend sein, auf der elektronischen Gesundheitskarte bei einem Notfall auf einen Blick zu sehen, welche Arzneimittelunverträglichkeiten, Allergien oder chronischen Krankheiten beim Patienten vorliegen? Wäre es nicht hilfreich, aus den Datensätzen eines Menschen seine Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen vorhersagen und frühzeitig darauf reagieren zu können?
Wenn dann diese individuellen Personendaten ins nächstgrößere System eingespeist werden, lassen sich über geografische und soziale Marker weitere Erkenntnisse gewinnen: In diesem Stadtteil ist die Adipositas-Dichte hoch, für Kinder, die in jener Straße aufwachsen, steigt das Risiko, Opfer von sexueller Gewalt zu werden.
Anderswo wiederum leben die fitten Selbstoptimierer, die mit dem neuesten Gerät am Handgelenk ihre täglich geleisteten Schritte, Herzfrequenz und Kalorienverbrauch messen und sich in sozialen Netzwerken über ihre Erfolgskurven austauschen. Wo wandern all die auf verschiedene Art gewonnen Daten hin? Wer nutzt sie wofür? Wie werden sie unser Gesundheitssystem und unsere Gesellschaft verändern?
Zwischen Paradies und Hölle
„Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit“ war das Thema der aktuellen Jahrestagung des Deutschen Ethikrates. Auf dem Programm standen die Perspektiven und offenen Fragen, die die Datafizierung der Medizin mit sich bringt. „Die digitalisierte Gesundheitsversorgung kann eine der Türen sein, auf deren Klingelschild so vielversprechend ‚Paradies des guten Lebens‘ steht. Hinter der sich aber wohl auch höllische Gefahren verstecken können.“ Mit diesen Worten leitete Christiane Woopen die Konferenz ein. Die Vorsitzende des Ethikrates verwies auf einen Ausspruch des Pay-Pal-Gründers und Facebook-Investors Peter Thiel, der besagt, „dass wir uns in einem Wettrennen auf Leben und Tod zwischen Politik und Technologie befinden“.
Den Wettlauf entscheidet, wer die neuen Entwicklungen unter seine Kontrolle bekommt. Wer sie zum Wohl von Arzt und Patient einsetzt – und dieses Wohl auch selbst definiert. Wer sie für Innovationen nutzt, zur Kommerzialisierung oder vielleicht auch zur Entsolidarisierung einer Bevölkerung aus gläsernen Patienten, die nach „gutem“ und „bösem“ Gesundheitsverhalten bewertet werden. Himmel und Hölle, Leben und Tod – allein die Wortwahl beweist, wie viele Hoffnungen und Ängste mit der digitalen Transformation unserer Gesellschaft und der Gestaltung unserer medizinischen Zukunft verknüpft sind.
Explosion von Nullen und Einsen
Big Data – was ist nun eigentlich mit diesem äußerst modischen und doch recht vagen Begriff gemeint, bei dem immer ein wenig Big Brother mitklingt? Es geht um umfangreiche, komplexe Datenmengen, die sich schnell ändern können und mit anderen als den herkömmlichen Methoden der Datenverarbeitung ausgewertet werden müssen. Explosives Datenwachstum ist ein Charakteristikum der digitalisierten und globalisierten Welt.
„Wir gehen davon aus, dass sich die Datenmenge, die in der Welt gesammelt, gespeichert, auch nutzbar gemacht werden kann, jedes Jahr verdoppelt“, erklärte Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, in seiner Keynote zur Ethik-Konferenz. „Und dass allein in den letzten drei Jahren mehr Daten gesammelt und gespeichert worden sind, als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.“ 2015 werden voraussichtlich 1,8 Zettabyte neue Daten generiert. 1 Zettabyte, das sind 10 hoch 21 Byte. Und nur ein kleiner Teil dieser schwer vorstellbaren Zahl wird überhaupt systematisch archiviert, ein noch geringerer Teil analysiert.
Doch die auf Servern und Festplatten gespeicherten Informationen unterschiedlichster Quellen gelten als Rohstoff der Zukunft. Miteinander verknüpft, nach Relevanz und Qualität gefiltert und von Algorithmen ausgewertet, ermöglichen sie uns ganz neue Einsichten in Wissenschaft und Technik, in menschliches Verhalten und den „datafizierten“ menschlichen Leib. Theoretisch zumindest. Praktisch ist die Analyse und Interpretation von sehr heterogenen Rohdaten, das sogenannte Data Mining, nicht nur aufwendig und teuer, sondern auch fehleranfällig und eine Herausforderung, für die wir noch gar nicht alle Instrumente besitzen.
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Denn sie wissen noch nicht, was sie tun
Wolfgang Marquardt vom Forschungszentrum Jülich erwähnte das Beispiel der „Google Flu Trends“. Der Großkonzern machte Schlagzeilen, als er begann, Grippewellen zu prognostizieren. Die Idee: Anhand von Suchanfragen der Google-Nutzer nach Grippemedikamenten die Ausbreitung der Erkrankungen vorherzusagen. Silicon Valley als medizinisches Frühwarnsystem, das den Einzelnen schützt und volkswirtschaftlichen Schaden durch Massenkrankschreibungen eindämmt.
Doch 2013 führten Googles Algorithmen zu einer enormen Überschätzung der Grippefälle. An Daten hatte es nicht gemangelt. Doch die Frage ist, wie wir aus Datenfluten, mit denen wir nie zuvor operiert haben, wirklich evidente Schlüsse ziehen können. „Wir haben überhaupt keine Möglichkeit, die Vorhersagen bezüglich ihrer Fehlerquellen und Fehlergrößen abzuschätzen. Wir fischen da völlig im Trüben“, so Marquardt.
Bioproben der Nationalen Kohorte
Ein Big-Data-Projekt, das uns die nächsten Jahrzehnte begleiten wird, ist die Nationale Kohorte. Die Langzeitstudie wird von einem Netzwerk deutscher Forschungs- und Bildungseinrichtungen durchgeführt und versucht nichts Geringeres, als den Ursachen von Volkskrankheiten wie Krebs, Diabetes oder Demenz auf den Grund zu gehen, Risikofaktoren auszumachen, Früherkennung und Prävention anzustoßen. Für die bislang größte deutsche Bevölkerungsstudie werden 200 000 Menschen zwischen 20 und 69 Jahren ausführlich medizinisch untersucht, zu ihren Lebensgewohnheiten befragt und in den kommenden Jahren weiter beobachtet.
Ziel ist, mehr über den Einfluss von genetischen Faktoren, Umweltbedingungen, sozialem Umfeld und Lebensstil auf die Entstehung von Krankheiten zu erfahren. Die Probanden entbinden ihre Hausärzte von der Schweigepflicht und gewähren dem Betreiber Nationale Kohorte e.V. Zugriff auf ihre Krankenkassen- und Sozialdaten. Auch dieses ehrgeizige Mammutprojekt trägt einen zukünftigen Wissensschatz in sich.
Genauso wie es Fragen aufwirft: Wie gut geschützt sind die anonymisierten Informationen und Bioproben? Was, wenn einzelne Probanden doch reidentifiziert werden können? Welchen Forschungsprojekten werden die Daten später zur Verfügung gestellt? Kritiker der Nationalen Kohorte befürchten, dass das Material auch unter kommerziellem Gesichtspunkten ausgewertet werden könnte. Wie immer bei Big Data gilt: keine Chance ohne Risiko.
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Dr. Algorithmus – schneller als der Arzt
Verschiedene medizinische Projekte machen sich die Möglichkeiten von Großdatenbanken bereits zunutze. Auf der Neugeborenen-Intensivstation des „Sick Kids Hospital“ in Toronto werden alle Lebenszeichen der Babys permanent überwacht. 1200 Datenpunkte pro Sekunde sammeln die Sensoren und übermitteln sie der automatischen Analyse des Supercomputers. Der Algorithmus warnt, wenn sich der Zustand der Patienten verschlechtert. Seine Rechenleistung reagiert schneller, als ein Arzt das könnte.
Auch das vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) koordinierte INFORM- Projekt setzt auf Big Data-Analytik, um die Überlebenschancen von Kindern zu erhöhen. Bei INFORM wird das gesamte Tumor-Erbgut von Kindern, die einen Rückfall erleiden, sequenziert. So können die Faktoren für das erneute Krebswachstum besser ausfindig gemacht werden, und eine ziel-gerichtete Medikation wird möglich. Über Fachliteratur und Forschungsdatenbanken gesammelte Erkenntnisse fließen ebenfalls in die Therapieempfehlungen mit ein. Big Data – das ist eine ständig wachsende Bibliothek unseres Wissens, in der alles mit allem verbunden ist.
Freie Fahrt für die E-Gesundheit?
Mit dem neuen E-Health-Gesetz, das voraussichtlich 2016 in Kraft treten wird, will das Bundesministerium für Gesundheit das deutsche Gesundheitswesen fit für Big-Data-Anwendungen machen. Der vom Bundeskabinett beschlossene Gesetzesentwurf verfolgt ein Konzept von Belohnung und Strafe, um den Einstieg in die Digitalisierung voranzutreiben. Es sei schon viel zu lange gestritten worden, so Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: „Deshalb machen wir Tempo durch klare gesetzliche Vorgaben, Fristen und Anreize, aber auch Sanktionen, wenn blockiert wird.“
Endlich sollen die technischen Voraussetzungen für die e-medizinische Zukunft geschaffen werden. Immerhin seit zehn Jahren baut die gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte) an der versprochenen „Datenautobahn“, die Arzt- und Zahnarztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und Apotheken miteinander vernetzen soll, um behandlungsrelevante Informationen auszutauschen. Böse Zungen vergleichen den bisherigen Fortschritt bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte mit dem des Berliner Großflughafens.
Fortschritt erzwingen durch Honorarkürzungen
Geplant ist, eine sichere Telematik-Infrastruktur zu schaffen, durch die Patientendaten gesammelt und miteinander verknüpft werden können. Bis Ende Juni 2016 sollen die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen sein. Anwendungen wie das elektronische Rezept, der elektronische Arzt- und Entlassbrief und die digitale Patientenakte mit Notfalldatensatz und Medikationsplan sollen dann Einzug in das immer noch größtenteils Papierbasierte Gesundheitssystem erhalten. Ärzte, die das neue Verfahren nutzen, erhalten Vergütungen. Ab 2018 sind dann auch Honorarkürzungen vorgesehen – zum Beispiel für Ärzte und Zahnärzte, die nicht an der Online-Prüfung der Versichertenstammdaten teilnehmen (siehezm 5/2015, S. 34: E-Health-Gesetz).
Sollte die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte ihre Fristen bei der Einführung der Plattform nicht einhalten können, drohen Haushaltskürzungen bei den Gesellschaftern der gematik, also bei den Spitzenorganisationen der Leistungserbringer und Kostenträger im deutschen Gesundheitswesen. Die kleine Mikroprozessorkarte wird zum Projekt, das alle betrifft.
Zukunftsmedizin mit vielen Szenarien
Auch die Nutzung der Telemedizin soll schrittweise vorangebracht werden. Vorgesehen ist zunächst, ab April 2017 Telekonsile bei der Befundbeurteilung von Röntgen-aufnahmen zu vergüten. Weitere telemedizinische Leistungen wurden im Entwurf des E-Health-Gesetzes allerdings noch nicht konkret benannt – etwa die Fernüber- wachung von kardialen Implantaten oder eine telemedizinische Notfallversorgung. Telemonitoring könnte zudem in medizinisch unterversorgten ländlichen Bereichen eine wichtige Rolle spielen.
Letztlich sind in der medizinischen Zukunft viele Szenarien denkbar: Apps, die Medikationen prüfen, Sensoren, die Gesundheitsdaten direkt an den Arzt übertragen, Behandler, die sich beim Patienten melden, wenn etwas nicht stimmt – und nicht andersherum. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient würde sich wandeln, engmaschiger und komplexer werden. Und durch individualisierte Datenerhebung kann die Medizin personalisierter und effektiver vorgehen. Doch bis es eine neue Maßnahme tatsächlich in die Regelversorgung und in die Gebührenordnung schafft, wird es vermutlich ein langer Weg sein.
Noch ungeklärt ist auch, für welche Angebote und Akteure die telematische Infrastruktur geöffnet werden soll. Außer der Gesundheitsforschung könnten dies auch kommerzielle Anbieter sein. Ein PIN-Schutz ist zwar vorgesehen, doch wie behält der Patient am Ende die Hoheit über seinen Datensatz?
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Technische Plattformen: smart and safe
Die technische Plattform, auf der das modernisierte Gesundheitswesen entsteht, müsse „smart and safe“ sein, erklärte Arno Elmer, Hauptgeschäftsführer der gematik, auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates. In Zeiten verschiedenster Spitzel- und Datenklauaffären um Vertrauen für die Sicherheit von Gesundheitsdaten zu werben, ist nicht gerade leicht. Frank Rieger vom Chaos Computer Club, dem weltweit größten Hackerverein, warnte so auch vor dem allgemeinen Zustand der IT-Security.
Man habe „eigentlich gerade die weiße Fahne geschwenkt“, so verwundbar seien die schnell wachsenden digitalen Netze, so angreifbar die zumeist verwendete Software. Und Günther Oettinger betonte: „Der Angriff von morgen auf eine Gesellschaft ist der auf ihre Datensysteme. Es ist eine neue Form der Wirtschafts- und Gesellschaftsspionage und des Kriegs.“ Daher setzt sich Oettinger auch für eine europäische Datenschutzverordnung ein. Noch sind Big Data und ein strenges Datenschutzrecht nicht miteinander vereinbar. Vielleicht werden sie es nie sein.
Self-Tracking und Life-Logging
Ein weiteres viel diskutiertes Feld betrifft das sogenannte Self-Tracking und Life-Logging. Die flotten Anglizismen bezeichnen den Trend, das eigene Leben freiwillig mit Sensoren zu vermessen. Smartphone, Smartwatch und am Körper getragene Wearables zeichnen etwa Herzfrequenz, Blutzuckerwerte und Schlafgewohnheiten auf. Auch die jeweilige Tagesverfassung kann mittels Stimmanalyse ermittelt werden. Apps zählen den Kalorienverbrauch, die zurückgelegten Kilometer und Treppenstufen. Laufrouten können live bei Facebook verfolgt und Ergebnisse mit denen anderer Nutzer verglichen werden. In Netzwerken wie der „Quantified Self“-Bewegung haben sich die „Self-Tracker“ zusammengeschlossen.
Ihnen geht es darum, ihr körperliches und emotionales Wohlbefinden zu verbessern und das eigene Verhalten zu reflektieren. Ein zu begrüßender Vitalitätswettbewerb also, der mehr Schwung in die Gesellschaft bringt? Eine kurzzeitige Mode? Oder führt das tägliche Erfassen von Daten zu Kontrollsucht und zur Reduzierung des Lebens auf messbare Erfolgskurven?
Manche Konzerne setzen das Fitness- Tracking bereits zur Motivierung ihrer Mitarbeiter ein. Die einen empfinden das als gesundheitsfördernden Spaß, die anderen als Überwachung durch den Arbeitgeber.
Ähnlich verhält es sich mit Versicherungen, die günstige Tarife anbieten, wenn Kunden ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen. In manchen Ländern wird ein gesunder Lebenswandel bereits finanziell entlohnt. „Was der Prämienvorteil für den einen ist, ist der Prämiennachteil für den anderen“, kommentierte Christiane Woopen vom Deutschen Ethikrat und plädierte für eine weniger datenfixierte Zukunft: „Lassen Sie uns – das ist der Aufruf – gemeinsam daran arbeiten, dass die Menschen sich durch eine biologisierte und nummerifizierte Selbstwahrnehmung sowie durch einen datengetriebenen Effizienzhype und Optimierungswahn nicht hinter sich lassen, sondern in einem erfüllten Leben zu sich und zueinander kommen.“
Chancen und Risiken sind noch offen
In Zeiten des digitalen Umbruchs blühen die Utopien genauso wie die Schreckensszenarien. Wo Daten gesammelt werden, werden sie auch gehandelt. Datenschutz soll uns vor dem gläsernen Patienten bewahren, gleichzeitig kann er medizinische Hilfe blockieren. Die Innovation des einen, ist die Bedrohung des anderen. Das Phänomen Big Data ist zu vielfältig und steht noch zu sehr am Anfang seiner Möglichkeiten, als dass sich Chancen und Risiken klar von-einander abgrenzen ließen. Sicher ist: Die Technik ist nicht aufzuhalten. In Ländern wie China, den USA oder Indien wird sie bereits stark vorangetrieben.
In Deutschland stehen die öffentlichen Diskussionen um Big Data erst am Anfang. Wir müssen uns darauf einigen, wie wir die Werkzeuge der digitalen Revolution nutzen wollen. Dazu bräuchte es mehr Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – da waren sich die Redner der Ethik-Konferenz weitgehend einig. „Daten sind noch kein Wissen“, betonte schließlich Frank Rieger. Hinter all den Algorithmen steht immer ein Mensch mit seiner ganz persönlichen Urteilskraft.
Sonja SchultzFachjournalistinsonjam.schultz@yahoo.de