Unterkieferosteomyelitis bei einem Kind
Anamnestisch wurde mitgeteilt, dass die Patientin seit August 2014 in Deutschland sei und im Bereich des rechten Unterkiefers eitriges Sekret aus perkutanen Fisteln austrete. Konkretere Angaben über Vorerkrankungen oder über bisherige Behandlungsversuche konnten nicht gemacht werden. Des Weiteren sei im mikrobiologischen Vorbefund Staphylokokkus aureus nachgewiesen worden.
Nachdem konservative Maßnahmen inklusive antibiotischer Therapie mit Amoxicillinsaft 250 Milligramm dreimal täglich seit circa drei Wochen zu keiner wesentlichen Besserung geführt hatten, wurde uns die junge Patientin im Oktober 2014 konsiliarisch von den Kollegen der Kinderklinik zur Planung einer chirurgischen Sanierung der Osteomyelitis vorgestellt.
Das Mädchen war bei einer Größe von 101 Zentimetern und einem Gewicht von 14,5 Kilogramm in einem altersentsprechenden Allgemein- und Ernährungszustand. Sie war bei Aufnahme fieberfrei. Allgemeinmedizinisch wurde eine abgelaufene Hepatitis A festgestellt. Laborchemisch waren keine Leukozytose (7,5/nl) oder sonstige Auffälligkeiten erkennbar.
Röntgenologische und klinische Diagnosestellung
Die klinische Untersuchung zeigte eine überwärmte und druckschmerzhafte Weichteilschwellung im Wangenbereich und submandibulär rechts. Des Weiteren konnten drei sezernierende perkutane Fisteln submandibulär rechts diagnostiziert werden (Abbildung 2). Enoral zeigte sich keine erkennbare Schwellung, die Zähne im Ober- und im Unterkiefer waren jedoch teilweise kariös zerstört. Das präoperativ erstellte Orthopantomogramm zeigte im Seitenvergleich eine deutlich rarefizierte Darstellung des rechten Ramus mandibulae, wobei der Processus articularis nicht mehr eindeutig abgrenzbar war, sowie eine Osteolyse im Bereich der Milchmolaren rechts (Abbildung 1).
Aufgrund dieser Befunde und der klinischen Untersuchung wurde zur weiteren Abklärung eine Computertomografie (CT) des Mittelgesichts veranlasst. Im CT des Gesichtsschädels zeigte sich eine ausgedehnte osteolytische Destruktion der bukkalen und lingualen Kortikalis mit Sequesterbildung im Bereich der rechten Milchmolaren und des rechten aufsteigenden Unterkieferastes. Zusätzlich waren eine pathologische Fraktur am rechten Kieferwinkel mit umgebender heterotoper Ossifikation und mit einer weichteiligen Gewebevermehrung sowie die Destruktion des rechten Kiefergelenkköpfchens mit Abkippung nach ventrokaudal zu erkennen (Abbildungen 3 und 4).
Aufgrund des Computertomografiebefunds und der akuten Symptomatik mit eitriger Sekretion über die extraoralen Fisteln ergab sich die dringliche Indikation zur chirurgischen Intervention in Intubationsnarkose.
###more### ###title### Sequesterotomie über extraoralen Zugang ###title### ###more###
Sequesterotomie über extraoralen Zugang
In oraler Intubationsnarkose wurden zunächst ein mikrobiologischer Abstrich aus der anterioren Fistel und die Kürettage der drei Fisteln mit einem scharfen Löffel vorgenommen. Sodann erfolgten die extraorale submandibuläre Schnittführung, wobei die drei Fisteln miteinander verbunden wurden, sowie die teils stumpfe, teils scharfe Präparation auf den rechten Unterkieferast zu. Danach erfolgte das Ablösen des Periosts bukkal und lingual von regio 84/85 bis hin zum rechten aufsteigenden Ast (Abbildung 5). Im horizontalen Anteil wurde ein lingual liegender Knochensequester inklusive des im Sequester liegenden Zahnkeimes 46 entfernt und zur pathohistologischen Untersuchung asserviert (Abbildung 6).
Bei der weiteren Exploration zeigte sich der aufsteigende Unterkieferast rechts durch eine reaktive Knochenneubildung deutlich aufgetrieben. Intraoperativ stellte sich dieser neu gebildete Knochen als Begrenzung einer Totenlade heraus, in deren Innerem sich ein weiterer Sequester, bestehend aus großen Teilen des aufsteigenden Astes, des Processus articularis und des Processus muscularis fand. Nach kompletter Entfernung dieses ausgedehnten Sequesters wurden eine sorgfältige Kürettage und eine Spülung des Operationsgebiets durchgeführt (Abbildung 7). Danach erfolgten die Einlage einer Redonsaugdrainage sowie der schichtweise Wundverschluss. Die kariösen Milchzähne wurden vorerst belassen, um enoral keine weiteren Wunden zu schaffen.
Postoperative Therapie
Die intraoperativ eingeleitete hoch dosierte intravenöse Antibiose mit Ampicillin dreimal täglich wurde nach Erhalt des Antibiogramms durch die Kollegen der Kinderklinik auf Unacid und Clindamycin intravenös dreimal täglich umgestellt und während des gesamten vierzehntägigen stationären Aufenthalts weitergeführt. Im intraoperativ entnommenen Abszessabstrich gelang der Nachweis von anaeroben gramnegativen Stäbchenbakterien sowie von Streptokokkus species pluralis (Verdacht auf Streptokokkusmilleri-Gruppe), die auf beide Antibiosen sensibel reagieren. Staphylokokkus aureus, der im Vorbefund nachgewiesen wurde, konnte nicht mehr isoliert werden.
Unter dieser Therapie kam es zur raschen Regredienz der Entzündungssymptomatik, so dass die Redonsaugdrainage am vierten postoperativen Tag entfernt werden konnte.
Nach vierzehn Tagen konnte das junge Mädchen nach Entfernung der Nähte bei weitgehend reizlosen Wundverhältnissen in stabilem Allgemeinzustand in die ambulante Nachsorge entlassen werden. Die Antibiose wurde auf Clindamycin oral viermal 75 Milligramm pro Tag reduziert und für weitere sieben Tage fortgeführt.
Die Histologie des kleineren Knochensequesters ergab ein weitestgehend nekrotisches, kompaktes und spongiöses lamelläres Knochengewebe, passend zu einem Sequester. Die Histologie des zweiten, größeren entnommenen Knochensequesters ergab lamelläres Knochengewebe mit Destruktion und Umbau sowie mit Apposition von jungen Geflechtknochen und fibrosierten Markräumen. Weiterhin zeigte sich eine Infiltration durch Lymphozyten, Plasmazellen und wenige neutrophile Granulozyten, passend zu einer chronischen und geringgradigen floriden Osteomyelitis.
###more### ###title### Diskussion ###title### ###more###
Diskussion
Der Begriff Osteomyelitis wird wörtlich mit „Infektion des Knochenmarks“ übersetzt, wobei es sich klinisch um eine pyogene bakterielle Infektion des gesamten Knochens (Knochenmark, Kortikalis und Periost) handelt. Eine empfehlenswerte Einteilung der Osteomyelitis [Baltensperger, Eyrich, 2009; Baltensperger, 2013; Al-Nawas, Kämmerer, 2009] bietet die Züricher Klassifikation:
• akute Osteomyelitis
• sekundär-chronische Osteomyelitis
• primär-chronische Osteomyelitis („early“ und „adult onset“)
Auf mund-, kiefer- und gesichtschirurgischem Gebiet sind die Ursachen der akuten und der sekundär-chronischen Osteomyelitis zumeist lokale Infektionen odontogener Herkunft beziehungsweise nicht adäquat versorgte Frakturen. Selten entstehen sie auch durch eine hämatogene Ausbreitung bei geschwächter Immunabwehr.
Sowohl die akute als auch die sekundär-chronische Osteomyelitis kommen in allen Altersgruppen vor. Männer sind jedoch doppelt so oft betroffen wie Frauen. Die akute und die sekundär-chronische Osteomyelitis sind die unterschiedlichen Verlaufsformen der gleichen infektiösen Erkrankungen, sie unterscheiden sich in der Krankheitsdauer.
Von einer sekundär-chronischen Osteomyelitis spricht man bei einer Dauer länger als einen Monat; es handelt sich demzufolge um eine Chronifizierung der akuten Erkrankung. Bei diesen beiden Formen der Osteomyelitis ist die Ursache in einer bakteriellen Infektion der Kieferknochen (wie zum Beispiel eine odontogene Infektion, eine Parodontitis oder eine Fraktur) zu sehen. Charakteristisch ist eine Weichteilschwellung mit Fistelungen sowie der Ausbildung von Sequestern.
Die Symptome zeigen eine unterschiedliche Ausprägung in Abhängigkeit von der Intensität und der Dauer des Infekts wie auch von der jeweiligen Abwehrlage eines Patienten. Ein klassisches anfängliches Symptom der akuten Osteomyelitis – noch ohne äußerlich auffällige Entzündungszeichen – ist das Vincent-Syndrom (Hypästhesie des N. alveolaris inferior). Zusätzlich können dabei Zahnlockerungen auftreten.
Im beschriebenen Fall handelt es sich um eine sekundär-chronische Osteomyelitis mit Pusaustritt aus der extraoralen Fistelung. Die Ursache bleibt bis zuletzt unklar. Am ehesten könnten die kariösen Milchzähne die Ursache sein oder eine hämatogene Streuung eines Infektionsherds außerhalb der Mundhöhle zum Beispiel einer Tonsillitis und die reduzierte Abwehrlage im Hinblick auf die Herkunft des Kindes.
Die genannten charakteristischen Symptome finden sich bei der primär-chronischen Osteomyelitis nicht. Hierbei handelt es sich um eine eher sehr seltene, nicht eitrige Entzündung, wobei die Ätiologie noch nicht eindeutig geklärt ist. Unterteilt wird sie in „early“ und „adult onset“, abhängig vom Patientenalter, von der Histologie, von der Bildgebung und vom klinischen Erscheinungsbild/Verlauf [Al-Nawas, Kämmerer, 2009; Baltensperger, 2013; Baltensperger, 2003].
Die Therapie der akuten und der sekundär-chronischen Osteomyelitis beruht generell auf der Eradikation und Entfernung des Infektfokus, der Entfernung des nekrotischen Knochens, der Schmerzminderung, der Verhinderung des Fortschreitens und der Ausbreitung, dem Erhalt von wichtigen Strukturen und der Wiederherstellung der normalen Anatomie und Funktion.
Es handelt sich hierbei meist um ein Zusammenspiel aus konservativer (Breitspektrumantibiose) und operativer Therapie (Sequesterotomie/Dekortikation und/oder Inzision/Drainage), wobei bei der akuten Osteomyelitis primär nur die konservative Therapie angewendet werden sollte. Erst wenn diese chronifiziert, kommt die operative Therapie in Betracht [Kim, Jang, 2001; Al-Nawas, Kämmerer, 2009; Baltensperger, 2013].
Im beschriebenen Fall wurde ebenfalls die operative Therapie in Kombination mit der konservativen durchgeführt. Die alleinige konservative Therapie der sekundär-chronischen Osteomyelitis führt oft zu keinem Langzeiteffekt und es kann nach kurzzeitiger Remission zu rezidivierenden Abszessgeschehen kommen. Dann wird ebenfalls eine Kombination aus konservativen und operativen Therapien angewendet [Suei et al., 1993; Al-Nawas, Kämmerer, 2009].
Fazit
Bei allen Entzündungen im Bereich der Kiefer, die nach adäquater Therapie einen protrahierten oder rezidivierenden Verlauf zeigen, sollte differenzialdiagnostisch an das Vorliegen einer Osteomyelitis gedacht und eine entsprechende Diagnostik eingeleitet werden. Hierbei kann ein Vincent-Syndrom richtungsweisend sein.
Susanne Schnabel, Dr. Simone Bojer, Dr. Dr. Herbert RodemerKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieKlinikum Saarbrücken gGmbhWinterberg 1, 66119 Saarbrückensbojer@klinikum-saarbruecken.de