Die kleinen Sorgen der großen Kaiserin
Katharina die Große ist ein Synonym für die Macht des Zarenhofes. Sie war allerdings nur eine von mehreren Herrscherinnen. Die Damenriege verlief folgendermaßen: Auf Katharina I. folgte Anna Iwanowa, dieser als Regentin dann ihre Nichte Anna Leopoldowna, dann Elisabeth I. (1709 – 1762), die Tochter Peters des Großen, und schließlich die große Katharina (1729 – 1796). Einer der Männer, die dafür sorgten, dass die Frauen ihre Ämter erhielten, war der deutsche Hugenotte Jean Armand (Johann Hermann) Léstocq (1692 – 1767). Die Familie Léstocq stammte ursprünglich aus Frankreich. Sein Vater war der königlich britische und braunschweig-lüneburgische Generalchirurg Jean (Johann) Léstocq, der 1647 bis 1732 lebte. Zusammen mit dem französischen Gesandten in St. Petersburg, Marquis de la Chétardie, war Léstocq maßgeblich an der Machtübernahme Elisabeths I. beteiligt. Vor allem das Militär war der Regentschaft von Anna Leopoldowna, für Ivan VI. nach dem Tod von Zarin Anna Iwanowa in Oktober 1740, überdrüssig. Zudem war Elisabeth die Tochter Peters des Großen, aber der kindliche Zar Ivan VI. (1740 – 1764) lediglich ein Halburgroßneffe Peters. Ivan wurde von Elisabeth auf der Festung Schlüsselburg festgesetzt, was Katharina verlängerte. Dort starb er angeblich bei einem Fluchtversuch 1764.
Elisabeth wurde mithilfe der ihr ergebenen Regimenter zur Kaiserin von Russland erhoben. Nach dem erfolgreichen „Staatsstreich“ versuchte Léstocq eine herausragende Stellung an der Seite der Zarin zu behalten, aber Elisabeth ließ sich zeitlebens nicht von Männern aus ihrer Machtposition verdrängen. Als Dank für die Hilfe wurde er dann 1744 in den Grafenstand erhoben. Léstocq verdankt seine Position als Leibarzt der Kaiserin vielleicht mehr der Unterstützung bei ihrer Thronbesteigung als seinen Fähigkeiten als Arzt. So beschreibt der russische Historiker Wladimir Fedorowski Léstocq nur als „Heiler, Bader, Magnetopath und Spiritist“. Fedorowski berichtet in seinem Werk auch darüber, dass Kaiserin Elisabeth „schöne Zähne“ gehabt habe [Fedorowski, 2001]. Im November 1747 heiratete Léstocq die Hofdame der Kaiserin Elisabeth, Maria Mengden, die von Großfürstin Katharina persönlich auf Bitten der Zarin zur lutherischen Kirche in St. Petersburg begleitet wurde. Die Gunst der Herrscherin ging aber bereits 1748 verloren. Am 13. November wurde er verhaftet, gefoltert und sein Vermögen konfisziert. Léstocq wurde vorgeworfen, er habe für Preußens König Friedrich II. gearbeitet. Die Jahre bis 1753 musste der Mediziner in der Verbannung in Sibirien verbringen.
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Herman Kaau-Boerhaaves, niederländische Mediziner
Léstocq folgte 1748 der niederländische Arzt Herman Kaau-Boerhaaves (1705 – 1753) als erster Leibmedicus, Geheimrat und Direktor der medizinischen Kanzlei. Kaiserin Elisabeth gewährte ihm auch siebentausend Rubel Gehalt und freie Unterkunft und „Equipage vom Hofe“ [Cohen, 1941]. In den Memoiren Katharina II. wird er während ihrer Zeit als Großfürstin öfter erwähnt. Sein Bruder Abraham Kaau-Boerhaaves (1715 – 1758) war seit 1746 ebenfalls in Russland tätig und hatte zunächst als Arzt am Krankenhaus der Admiralität gearbeitet und erhielt 1747 einen Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie an der Akademie der Wissenschaften. Der sephardisch-stämmige Arzt António Nunes Ribeiro Sanches (1699 – 1783) war Schüler von Herman Kaau-Boerhaaves Onkel, Herman Boerhaave (1668 – 1738), in Leiden gewesen, bevor dieser ihn 1731 an den Zarenhof nach St. Petersburg weiterempfahl. In Russland war er als Medicus des Senats der Stadt Moskau tätig. 1739 wurde er Doktor des kaiserlichen Kadettenkorps in St. Petersburg und Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften. Seine Fähigkeiten brachten ihm die Berufung zum Leibarzt der Zarin Anna Iwanowa ein. Seine jüdische Abstammung wurde ihm schließlich im antisemitischen orthodoxen Russland zum Verhängnis. Nachdem ihn zwei Ärzte bei Kaiserin Elisabeth, die trotz ihrer zahl- reichen Amouren ihre Religiosität hochhielt, als Juden offenbarten, wurde er des Landes verwiesen und im folgenden Jahr auch aus der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Dabei hatte er 1744 Katharina das Leben gerettet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ribeiro Sanches mit in die Intrigen um Léstocq geraten war.
Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Russland war Katharina von Anhalt-Zerbst im Alter von fünfzehn Jahren an einer Rippenfellentzündung erkrankt. Die Zeit der Krank-heit beschreibt Katharina detailliert in ihren Memoiren. „Siebenundzwanzig Tage schwebte ich zwischen Tod und Leben […] Ich war bewußtlos, hatte glühendes Fieber und Schmerzen […] Endlich öffnete sich dank der Bemühungen des portugiesischen Arztes Sanchez der Abszeß, den ich in der rechten Seite hatte, ich brach ihn aus, und von dem Augenblick an kehrte mein Bewußtsein zurück“ [Memoiren, 1991]. Im zweiten Band ihrer Erinnerungen schrieb Katharina dann noch: „Die Ärzte Sanchez und Boerhaave verließen mich nicht, und nächst Gott habe ich ihren Bemühungen die Erhaltung meines Lebens zu verdanken“ [Memoiren, 1990]. Katharina die Große dankte es Ribeiro Sanches später mit einer Rente, die sie ihm gewährte [Nabais, 2002]. Im Zusammenhang mit der Erkrankung der späteren Kaiserin Katharina II. steht auch die Geschichte, sie habe den religiösen Beistand eines Lutheraners abgelehnt und stattdessen den orthodoxen Priester Simon Teodorski kommen lassen. Mit diesem und ähnlichem Verhalten machte sich die deutsche Katharina bei den Russen sehr beliebt. Dadurch glückte ihr der Griff zur Macht im Jahr 1762, denn viele Russen waren die Deutschtümelei ihres Gatten, Zar Peter III., leid.
Jean Guyon – Handicap beim Zähneziehen
Großfürstin Katharina beschreibt in ihrem ersten Band der Memoiren sehr anschaulich, wie sie von Zahnschmerzen geplagt die Hilfe ihrer Ärzte aufsucht. „Am 15. Dezember brachen wir von Moskau nach St. Petersburg auf. Wir reisten Tag und Nacht im offenen Schlitten. Auf halben Wege bekam ich wieder heftiges Zahnweh; trotzdem erlaubte der Großfürst [Peter Fjodorowitsch, ab 1762 Peter III., Anm. des Autors] nicht, den Schlitten zu schließen. Es kostete mich Mühe zu erreichen, dass er mir gestattete, den Vorhang des Schlittens ein wenig zuzuziehen, um mich vor dem kalten und feuchten Winde zu schützen, der mir in das Gesicht wehte. Endlich kamen wir nach Zarskoje Selo, ein Schlosskomplex bei St. Peterburg, wo die Kaiserin [Elisabeth I.] bereits eingetroffen war. […] Sowie ich aus dem Schlitten gestiegen war, begab ich mich in die uns zugewiesenen Gemächer und schickte nach Boerhaave, dem Leibarzt der Kaiserin, […] und bat ihn, mir den Zahn ziehen zu lassen, der mich nun schon vier oder fünf Monate quälte. […] Er ließ schließlich meinen Chirurgen Guyon holen. Ich setze mich auf den Boden, Boerhaave auf einer Seite, Tschoglokow [Kammerherr] auf die andere, und Guyon zog mir den Zahn. Aber in dem Augenblick, als er ihn herauszog, wurden meine Augen, meine Nase und mein Mund zu einer Fontäne: Blut stürzte mir aus dem Mund und Wasser aus Nase und Augen. Boerhaave, der viel gesunden Menschenverstand besaß, rief: ’Ungeschickter Kerl!’ […] ’Das habe ich befürchtet, deshalb wollte ich ihn nicht ziehen lassen!’ Guyon hatte beim Ausziehen des Zahns ein Stück vom Unterkiefer mit herausgerissen, in dem der Zahn gesessen hatte. […] Ich verließ mein Zimmer erst Mitte Januar 1750, weil an meiner Backe lange Zeit Herrn Guyons fünf Finger, in blauen und gelben Flecken abgedrückt, sichtbar waren“ [Memoiren, 1990].
Mehr medizinisches Können zeigte Jean Guyon im Jahr 1748, als Katharina kurz vor ihrem 19. Geburtstag erneut erkrankte. „Der Arzt Boerhaave wurde herbeigeholt: Graf Léstocq, der erste Leibarzt der Kaiserin, kam, und alles dachte, ich hätte die Pocken. Mein Chirurg Guyon meinte aber, das sei noch sehr zweifelhaft, es könne auch ein anderer Ausschlag sein, wie Masern oder das, was man deutsch ’Rote Friesel’ nennt, russisch, glaube ich, ’lapucha’. Es stellte sich heraus, daß nur er sich nicht geirrt hatte, und ich kam also noch mit dem Schrecken davon“ [Memoiren, 1. Bd.]. Die Angst vor den Pocken war in dieser Zeit sehr groß. Die Krankheit machte auch vor den Palästen Europas keinen Halt. Katharinas Gatte, Peter Fjodorowitsch, befiel die Krankheit, er überlebte narbenentstellt. Andere Herrscher hatten weniger Glück. So starb 1711 der Deutsche Kaiser Joseph I. an den Pocken, die spanischen Habsburger wurden durch die Seuche dezimiert und starben aus. Sehr tragisch verlor Kaiser Joseph II. seine erste Frau Isabella von Bourbon-Parma (geboren 1741) 1763 an den Pocken, die zuvor noch ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, das kurz darauf dann aber starb.
###more### ###title### Lange Tradition fremder Ärzte im Zarenreich ###title### ###more###
Lange Tradition fremder Ärzte im Zarenreich
Da Katharina die Folgen der Pocken bei ihrem Gatten gesehen hatte, zeigte sie im Jahre 1768 Vertrauen in die Medizin der Zeit. Sie lud den britischen Arzt Thomas Dimsdale (1712 – 1800) nach Russland ein und ließ sich und ihren Sohn Paul Petrowitsch gegen die Pocken impfen. Mit dieser Aktion wollte Katharina II. ihre Aufgeschlossenheit der Wissenschaft gegenüber zeigen. Zu einer breiten Pockenimpfung innerhalb der russischen Bevölkerung kam es allerdings nicht. Während ihrer Regierungszeit förderte die Kaiserin die Gründung von Krankenhäusern, und besonders begabte Insassen des Findelhauses in Moskau (gegründet am Geburtstag Katharinas 1764) wurden in den 1770er-Jahren gezielt zum Studium der Medizin an die Universität Straßburg geschickt. Die Tradition ausländischer Ärzte oder auch Apotheker im russischen Reich setzt sich noch bis ins 19. Jahrhundert fort. So ist der Arzt Wilhelm Michael von Richter Leibmedicus der aus Württemberg stammenden Zarin Maria Fjodorowna (1759 – 1828) gewesen. Auch ihre Schwiegertochter, die spätere Zarin Alexandra Fjodorowna (1798 – 1860), eine Tochter der Königin Luise von Preußen, ließ sich von dem Professor für Geburtshilfe behandeln. Richter hatte zunächst in Moskau studiert und 1788 seinen Doktor an der Universität Erlangen erworben. Bereits Peter der Große schätzte die Fähigkeit von Medizinern aus dem westeuropäischen Ausland. Für ihn war der schottische Arzt Robert Erskine (1677 – 1718) tätig.
Auch der letzte Leibarzt von Zar Nikolaus II., Jewgeni Sergejewitsch Botkin (1865 – 1918) hatte sich in den 1890er-Jahren durch Studienaufenthalte in Berlin und Heidelberg fortgebildet. Er besuchte unter anderem Vorlesungen bei Rudolf Virchow (1821 – 1902) in Pathologie und für Chirurgie bei Ernst von Bergmann (1836 – 1907) an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Seit 1908 war Botkin nach dem Tod des Leib-arztes Dr. Gustav Reinhold von Hirsch (1828 – 1907) für die medizinische Betreuung der kaiserlichen Familie zuständig. Er bezahlte seine Treue zur Zarenfamilie mit dem Tod. Zusammen mit den Romanows wurde er im Juli 1918 im Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg erschossen.
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