Behindertenzahnheilkunde

Versuch einer Definition

Im ersten Teil der neuen Reihe zur Behandlung von Patienten mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung werden Definitionsversuche, Hintergründe und rechtliche Termini aus dem Themenfeld „Behindertenzahnheilkunde“ erläutert.

Im ersten Teil der neuen Reihe zur Behandlung von Patienten mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung werden Definitionsversuche, Hintergründe und rechtliche Termini aus dem Themenfeld „Behindertenzahnheilkunde“ erläutert. Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition für die „geistige Behinderung“. Die Gruppe der geistig behinderten Menschen ist zu heterogen, als dass man sie mit wenigen Sätzen beschreiben könnte. „Geistige Behinderung“ tritt in vielfältigen Erscheinungsformen und Ausprägungsgraden auf und ist häufig mit anderen Behinderungsformen und psychischen Erkrankungen vergesellschaftet. Als „kleinster gemeinsamer Nenner“ der unterschiedlichen Definitionsversuche gelten intellektuelle Einschränkungen und ein beeinträchtigtes affektives Verhalten. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) [WHO, DIMDI, 2012] spricht von einem Zustand von verzögerter oder un-vollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und unterscheidet von der leichten Intelligenzminderung bis zur dissoziierten Intelligenz (siehe Kasten). Diese Klassifizierungen können um das Ausmaß der Verhaltensstörung (keine beziehungsweise geringfügige, deutliche, sonstige) ergänzt werden.

„Jemand ist behindert“...

Auch wenn eine ICD-Klassifikation noch nichts über die zahnärztliche Behandelbarkeit aussagt, so bietet sie doch im Vorfeld einer Behandlung wichtige Hinweise. Ein Patient mit mittelgradiger geistiger Behinderung und nur geringfügiger Verhaltensstörung wird sich aller Voraussicht nach mit etwas Geduld, Empathie und Verhaltens-führung behandeln lassen. Liegt nur eine leichte Intelligenzminderung vor, allerdings verbunden mit einer deutlichen Verhaltensstörung, kann die Behandlung erheblich schwieriger werden. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) ist ebenfalls eine von der WHO erstellte und heraus- gegebene Klassifikation. Sie beschreibt den funktionalen Gesundheitszustand der Behinderung, die soziale Beeinträchtigung sowie die relevanten Umweltfaktoren. Bei beiden Klassifikationen werden – aus medizinischer Sicht – der Zustand beziehungsweise die Folgen einer Behinderung beschrieben („jemand ist behindert“). Behinderung hat laut diesen Definitionen seine individuelle Ursache.

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... versus „jemand wird behindert“

Betrachtet man das Phänomen aber aus einem gesellschaftlichen Blickwinkel, so kann man Barrieren identifizieren, die zur Ausgrenzung erst führen („jemand wird behindert“). Beide Perspektiven fanden Eingang in das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention)“ von 2008, das von Deutschland 2009 ratifiziert wurde. Die Teilhabe behinderter Menschen wird zu einer Frage des Rechts auf Zugang und ist nicht mehr an körperliche oder geistige Besonderheiten gebunden.

So liefert die Behindertenrechtskonvention auch keine klare Definition, sondern formuliert: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Kern der Behindertenrechtskonvention ist die gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft (Inklusion).

Dieser Inklusionsgedanke umfasst alle Lebensbereiche, wie Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, Barrierefreiheit, Selbstbestimmtheit, Bildung, Arbeit und Gesundheit. Das Motto: „Nicht ohne uns über uns.“ Im Artikel 25 fordert die Behindertenrechtskonvention eine Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie für andere Menschen. Außerdem sollen Gesundheitsleistungen angeboten werden, die Menschen mit Behinderung speziell wegen ihrer Behinderung benötigen. In Deutschland sind die Rechte von Menschen mit Behinderung im Grundgesetz Artikel 3, Absatz 3 („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) seit 1994 verankert.

Im SGB V heißt es im § 2a: „Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen.“ Im SGB IX wird Behinderung im § 2 (1) definiert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist […].“

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Pflegebedürftigkeit und Behinderung differenzieren

Das SGB XI enthält die Vorschriften für die Pflegeversicherung in Deutschland. Da Menschen mit Behinderung per se keine Pflegebedürftigen sind, ist das SGB XI erst dann für behinderte Menschen relevant, wenn diese auch pflegebedürftig sind. Das heißt nur pflegebedürftige Menschen mit Behinderung sind einer Pflegestufe zugeordnet und auch nur dann, wenn sie nicht in einer stationären Wohneinrichtung der Behindertenhilfe leben. Die Schnittstelle Pflegeversicherung-Eingliederungshilfe wird momentan neu diskutiert.

Die Eingliederungshilfe wird vermutlich 2016 durch ein Bundesteilhabegesetz abgelöst. Im SGB XII finden sich die Vorschriften für die Sozialhilfe in Deutschland. Im Kapitel 6 des SGB XII werden unter der Bezeichnung „Eingliederungshilfe“ die Leistungen für Menschen mit Behinderungen – etwa Bildung, Wohnen, Arbeiten, persönliches Budget – geregelt. Im BEMA taucht die „Eingliederungshilfe“ in der Leistungsbeschreibung Nr. 171 (Zuschlag nach § 87 Abs. 2i SGB V) auf. Diese Leistung darf unter anderem für Versicherte im Fall eines Hausbesuchs abgerechnet werden, die eine Behinderung aufweisen. Behindert sind in diesem Sinne Menschen, die Eingliederungshilfe erhalten.

Das ist im Zusammenhang mit der zahnmedizinischen Versorgung eine sinnvolle Eingrenzung der Patientengruppe, da Menschen, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe erhalten, eine schwerwiegende Behinderung aufweisen und nicht alleine für ihre Unterhaltskosten aufkommen können.

Manchmal ist es schwierig, insbesondere wenn ein gut kommunizierender geistig behinderter Patient ohne Begleitperson die Praxis aufsucht, zu beurteilen, ob der Patient tatsächlich geistig behindert oder nur ein „komischer Typ“ ist. Lässt sich der Patient in einem Gespräch über Zeitvorstellungen „Wann waren Sie denn letztes Mal beim Zahnarzt?“, Entfernungen, „Wie viele Kilometer weit weg wohnen Sie denn?“ oder über den Wert des Geldes „Wie viel kostet eine Busfahrkarte?“ leicht verunsichern und weicht aus beziehungsweise gibt völlig abstruse Antworten, kann eine geistige Behinderung angenommen werden. Man sollte dann direkt fragen, ob eine rechtliche Betreuung eingerichtet ist.

Verändertes Wohnsetting

Die meisten erwachsenen Menschen mit geistiger und/oder Mehrfachbehinderung wohnten noch vor wenigen Jahren zu Hause oder in großen Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. In diesen Einrichtungen lebten die Betroffenen in einer eigenen Welt: 24 Stunden täglich und sieben Tage in der Woche vollversorgt. Diese Versorgungsstrukturen waren nur bedingt an den individuellen Wünschen und Bedarfen des Einzelnen ausgerichtet [Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V., 2008]. Die großen Komplexeinrichtungen werden wegen politischer und gesellschaftlicher Vorgaben zur Inklusion verkleinert und durch neue differenzierte gemeindenahe Wohnformen ersetzt.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Wohnangeboten. Menschen mit geistiger Behinderung wohnen in ihrer Familie, in der eigenen Wohnung ohne direkte Unterstützungsleistungen, in unterstützenden Wohnformen in der eigenen Wohnung, in ambulanten Wohngemeinschaften (ambulant betreutes Wohnen) oder in Wohngemeinschaften (stationäre Einrichtungen und Heime). Menschen mit Behinderung sollen dort wohnen dürfen, wo sie es möchten. In den vergangenen Jahrzehnten konnten durch zahlreiche Projekte und Initiativen Behandlungsräume in großen Behindertenheimen eingerichtet werden, um die zahnärztliche Versorgung vor Ort sicherzustellen.

Da sich die Wohnformen ändern und immer mehr kleine Wohneinheiten über das Land und die Städte verteilt eingerichtet werden, werden die dort wohnenden Menschen mit Behinderung auch die Zahnarztpraxis um die Ecke aufsuchen. Betroffene Zahnarzt-praxen sollten daher Konzepte entwickeln, wie die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit Behinderung in das bestehende Praxiskonzept implementiert werden kann, um die wohnortnahe Versorgung dieser Menschen sicherzustellen. Das Wissen um die Wohnform ist auch für die zahnärztliche Betreuung ein wichtiger Aspekt. Im stationären Bereich (im Wohnheim) ist eine Überwachung beziehungsweise Unterstützung der Zahnpflege besser gewährleistet als in ambulanten Wohn- formen.

###more### ###title### Zuwachs der älteren behinderten Patienten ###title### ###more###

Zuwachs der älteren behinderten Patienten

Während des Naziregimes wurde nahezu eine Generation geistig behinderter Menschen in Deutschland ermordet. Erst allmählich gleicht sich deren demografische Entwicklung an die der Gesamtbevölkerung an. Es gibt somit auch immer mehr alte behinderte Menschen. Die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung ist ebenfalls gestiegen. So lag diese 2012 bei Menschen mit Behinderung bei 68 Jahren (Männer) beziehungsweise 72 Jahren (Frauen) und in der Gesamtbevölkerung bei 77 Jahren beziehungsweise 82 Jahren.

Extrem positiv entwickelte sich die Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom: 1922 lag sie bei 9 Jahren, 1973 bei 30 Jahren und 2002 bei 60 Jahren [Bittles/Glasson, 2007]. Momentan liegt der Altersdurchschnitt von Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen, bei 33,3 Jahren [Statistisches Bundesamt, 2014]. Möglichst lange die eigenen Zähne und die Kaufähigkeit und damit ein wichtiges Stück Lebensqualität zu erhalten, muss daher auch für diese Patientengruppe im Vordergrund zahnärztlicher Bemühungen stehen.

Aufklärung auch für den rechtlichen Betreuer

Die meisten erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht oder nur bedingt einwilligungs- und geschäftsfähig. Mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres wird dann ein rechtlicher Betreuer (selten auch mehrere) vom Betreuungs- gericht bestellt. Häufig sind dies Angehörige wie Eltern oder Geschwister, Ehrenamtliche, Berufsbetreuer oder Betreuer von Amtswegen. Der Aufgabenkreis kann sich auf die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögens-, Renten-, Wohnungs- oder/und Gesundheitssorge erstrecken. Mitarbeiter der Wohneinrichtung oder Werkstatt, in der der Betroffene lebt beziehungsweise arbeitet, dürfen nicht als rechtliche Betreuer eingesetzt sein. Im Zweifel lässt man sich den Betreuungsausweis vorlegen.

Auch das Patientenrechtegesetz hat selbstverständlich Gültigkeit für Menschen mit Behinderung. Das heißt sowohl der Patient als auch der rechtliche Betreuer müssen rechtzeitig persönlich über den geplanten Eingriff aufgeklärt werden [LZKBW, 2014]. Unter Berücksichtigung des Betreuungsrechts und des Patientenrechtegesetzes muss auch vor zahnärztlichen Eingriffen ein Aufklärungsgespräch mit dem Patienten und seinem rechtlichen Betreuer durchgeführt, die Einwilligung eingeholt und beides dokumentiert werden. Wenn, wie häufig vorkommend, die Begleitperson nicht der rechtliche Betreuer ist, da meist die Mitarbeiter von Wohneinrichtungen die Patienten begleiten, bedeutet dies einen erheblichen Beratungsmehraufwand. Auch wenn es zu Therapieverzögerungen kommt, weil erst noch der rechtliche Betreuer informiert werden muss, sollte keine Behandlung ohne rechtsverbindliche Einwilligung erfolgen.

###more### ###title### Behinderung als menschliche Seinsweise ###title### ###more###

Behinderung als menschliche Seinsweise

Die Lebenshilfe formuliert in ihren ethischen Grundaussagen: „Es ist normal, verschieden zu sein.  Behinderung allein prägt nicht das Wesen eines Menschen. Menschen mit einer Behinderung können ebenso sinnerfüllt und glücklich leben wie es nicht behinderte Menschen können. Behinderung ist keine Krankheit.“ Behinderung ist somit eine Form menschlicher Seinsweise. Dies beschreibt letztlich die Forderung und Erwartung, Menschen mit Behinderung nicht mit Mitleid, sondern auf Augenhöhe zu begegnen: Empathie ja, aber keine Bevormundung aus falsch verstandener oder anerzogener Fürsorge.

Viel zu oft treten (Zahn-)Ärzte noch paternalistisch geprägt auf („Ich weiß, was für dich gut ist.“) und lassen Patienten mit Behinderung nicht an der Wahl der Therapieform partizipieren. Patienten mit Behinderung sollen direkt angesprochen werden, es sollte nicht nur mit der Begleitperson über die Patienten gesprochen werden. Auch sollten sie nicht wie selbstverständlich geduzt werden.

Probleme in der medizinischen Versorgung

In der Gesundheitsversorgung gibt es zwei Problemfelder: erstens einen behinderungsunspezifischen Versorgungsbedarf bei gesundheitlichen Problemen, an denen jeder Mensch erkranken kann. Die Behinderung ist hier lediglich eine Begleiterscheinung, die es zu beachten gilt. Hierunter fallen zum Beispiel Karies und Parodontitis. Und zweitens gibt es einen Versorgungsbedarf, der unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängt, etwa Nichtanlagen bei diversen Syndromen. Daher sollen nach Artikel 25 der Behindertenrechtskonvention zusätzlich Gesundheitsleistungen angeboten werden, die Menschen wegen ihrer Behinderung benötigen.

Hier ist die Behinderung Gegenstand und Kontext der Behandlung. Für Kinder mit Behinderung gibt es ergänzend zur ambulanten Versorgung durch niedergelassene Ärzte die sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), die interdisziplinär Kinder und Jugendliche mit Behinderung betreuen. Für erwachsene Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung werden solche Kompetenzzentren noch nicht angeboten. Im Interesse der Versorgungskontinuität für Erwachsene mit Behinderung ist im Entwurf des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vorgesehen, dass Medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) gegründet werden können.

In einer Stellungnahme der Fachverbände für Menschen mit Behinderung wird eine Zusammenarbeit mit Zahnärzten ausdrücklich erwähnt [Die Fachverbände, 2014]. Auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) und die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) begrüßen grundsätzlich die Einrichtung von MZEB. Eine adäquate zahnmedizinische Versorgung für Menschen mit geistiger und schweren Mehrfachbehinderungen kann nur interdisziplinär erfolgen. Dabei muss unter anderem eine  ausreichende anästhesiologische Versorgung sichergestellt werden.

Dr. Guido ElsäßerReferent für Behindertenzahnheilkunde derLandeszahnärztekammer Baden-WürttembergSchlossberg 3571394 Kerneninfo@dr-guido-elsaesser.de

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