Amalgam: Was will die EU?
Fernsehalltag Ende der 90er-Jahre: Eine Frau schildert in einem Bericht schwerwiegende Gedächtnisprobleme, Konzentrationsstörungen und Augenflimmern, anschließend kommt die Staatsanwaltschaft zu Wort, die bei etlichen Patienten ein ähnliches Krankenbild festgestellt haben will und nun gegen die Hersteller von Amalgam ermittelt.
Eine TV-Talkrunde mit prominenten Vertretern aus dem Gesundheitsbereich diskutiert über die „Zeitplombe Amalgam“. Diese Bühne nutzt ein Medizinprofessor, um zu erzählen, dass seine Patienten nach Quecksilberentgiftung und Entfernung aller Amalgamfüllungen komplett beschwerdefrei seien. Der Höhepunkt der Hysterie ist erreicht.
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Zwar erhitzt das quecksilberhaltige Material die Gemüter nicht mehr in dem Maß wie früher, aber es spaltet noch immer. So auch die unterschiedlichen Interessengruppen, die sich in der Europäischen Union nach wie vor über dessen Verwendung streiten. Während sich einige Mitgliedstaaten wie Schweden und Dänemark, die Amalgam bereits auf nationaler Ebene verboten haben, mit der Unterstützung von Umweltverbänden und anderen Gruppen für ein europaweit geltendes Verbot einsetzen, will die Mehrheit der anderen Länder es aus Gründen der Versorgungssicherheit erhalten.
Auch auf EU-Ebene herrscht Uneinigkeit
Die Europäische Kommission hat bislang noch nicht eindeutig Stellung bezogen. Allerdings hat insbesondere deren Generaldirektion Umwelt laut Informationen des Brüsseler Büros der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) eine Präferenz für ein Verbot erkennen lassen. Die Fachbeamten der Generaldirektion Gesundheit neigen hin-gegen eher dazu, Amalgam als Füllungsmaterial erst einmal zu bewahren.
Das ist auch die Richtschnur der Quecksilber- Konvention der Vereinten Nationen, die über 90 Staaten und die Europäische Union im Oktober 2013 in der japanischen Stadt Minamata unterzeichneten. Diese sieht weltweit eine reduzierte Nutzung von Amalgam, ein sogenanntes „Phase down“, vor. Das Übereinkommen tritt in Kraft, wenn mindestens 50 Staaten es ratifiziert haben – das wird voraussichtlich innerhalb der nächsten zwei Jahre der Fall sein.
Das Wissen über Amalgam ist gewachsen
Um die Diskussionsbasis wissenschaftlich zu untermauern, hat die Europäische Kommission in der vergangenen Zeit verschiedene wissenschaftliche Gutachten in Auftrag gegeben. Sowohl das Scientific Committee on Health and Environmental Risks (SCHER) als auch das Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks (SCENIHR) gehen von einer geringen Umwelt- und Gesundheitsgefährdung des im Amalgam enthaltenen Quecksilbers aus. Nur spezielle Sonderfälle seien problematisch.
Erst jüngst veröffentlichte die Europäische Kommission eine neue Fassung der SCENIHR-Stellungnahme, an der unter anderen Prof. Dr. Gottfried Schmalz von der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie des Universitätsklinikums Regensburg mitwirkte.
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„Wir kommen zu dem Ergebnis, dass sowohl Amalgam als auch alternative Zahnfüllungsmaterialien verwendet werden dürfen. Welches Material zum Einsatz kommt, sollte der Zahnarzt im Einzelfall entscheiden“, sagt Schmalz. Denn die Lebensumstände der Patienten und die klinische Situation spielten eine erhebliche Rolle: Handelt es sich um Milchzähne oder um bleibende Zähne? Bestehen Allergien gegen Quecksilber oder Kunststoffe? Liegt eine Schwangerschaft vor?
Alternative Materialien wurden entwickelt
Bei Milchzähnen – mit einem per se zeitlich limitierten Verbleiben in der Mundhöhle – sei Amalgam heute nicht mehr die erste Wahl, hier böten sich andere Werkstoffe wie Glasionomerzemente, Kompomere oder Komposite an. Bei Schwangeren sollten Zahnärzte – wenn möglich – mit einer umfangreichen Intervention bis nach der Geburt des Kindes warten. Das gelte für Komposite wie für Amalgam, aber auch für andere Eingriffe. „Wenn eine Behandlung dringend erforderlich ist, sind am ehesten konventionelle Glasionomere zur Überbrückung anzuraten – und ist nach der Schwangerschaft eine umfassende Restauration vorzunehmen“, rät der Experte.
Grundsätzlich fordern die Wissenschaftler, neue Materialien mit einem hohen Grad von Biokompatibilität zu entwickeln. Erheblichen Forschungsbedarf sehen sie außerdem bei alternativen Werkstoffen wie den Kompositen. „Denn über deren Verträglichkeit wissen wir im Gegensatz zu Amalgam vergleichsweise weniger“, gibt Schmalz zu bedenken.
Der Knackpunkt: In Kompositen steckt Bisphenol A – eine Substanz mit östrogenartiger Wirkung. Der politische Druck auf die Europäische Kommission, endokrine Disruptoren zu verbieten, ist laut dem Brüsseler Büro der BZÄK deutlich gewachsen. Daher hatte die Kommission SCENIHR mit einem weiteren Gutachten beauftragt – das Ergebnis veröffentlichte der Beratungsausschuss Anfang dieses Jahres.
Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass das Legen einer Kompositfüllung im Mundraum des Patienten kurzfristig und nachweisbar Bisphenol A freisetze. Längerfristig stellten Bisphenol-A-haltige Dentalmaterialien jedoch „ein zu vernachlässigendes Gesundheitsrisiko“ dar.
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Vom Quecksilber zum Plastikzeitalter
„Das Plastikzeitalter, in dem wir leben, wird zurecht kritisch diskutiert, einschließlich zahnmedizinischer Werkstoffe, die Bisphenol A freisetzen“, sagt Prof. Dr. Georg Meyer, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Endodontologie der Universitätsmedizin Greifswald und als Mitglied im Science Committee der FDI World Dental Federation seit Langem mit dem Thema Amalgam und Alternativen betraut. Er verweist auf eine Studie, die sich mit der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) beschäftigt – einem Phänomen, das bei jungen Menschen stark zunimmt.
Forscher hatten trächtigen Ratten in einem bestimmten Fenster der Schwangerschaft ganz geringe Mengen Bisphenol A verabreicht. In Folge entwickelten die Nachkommen eine MIH. Die Untersuchung war im Bereich der Zoologie und der Pathologie angesiedelt. „Die MIH dient hier als Indikator, wie stark die Nachkommen embryonal mit Weichmachern belastet wurden. Das könnte auch die Zahnmedizin als Indikator einer Weichplastikaufnahme betreffen“, sagt Meyer.
Darüber hinaus können die Nanopartikel in Kompositen laut dem Münchner Dentaltoxikologen Prof. Dr. Franz-Xaver Reichl kritisch sein, weil sie Zellen beschädigen und Mutationen begünstigen. „Wir haben derzeit noch keine Probleme mit diesen Materialien, aber eines ist bereits jetzt eindeutig: Patienten allein aus biologischen Gründen Amalgam zu entfernen und durch Komposit zu ersetzen, ist wissenschaftlich heute nicht mehr haltbar“, lautet Meyers Fazit.
Wissenschaftler Schmalz fühlt sich an die Diskussion ums Amalgam erinnert: „In beiden Fällen kommt etwas aus dem Material heraus: aus Amalgam zum Beispiel Quecksilber, aus Kompositen beispielsweise Bisphenol A. Beide Substanzen können in Laborversuchen schädigende Reaktionen hervorrufen. Aber in beiden Fällen sind die jeweiligen Konzentrationen wesentlich geringer als die vorgegebenen Grenzwerte, so dass wir nach heutigem Kenntnisstand keine Bedenken haben müssen.“ Natürlich könne es beim Bisphenol A einen additiven Effekt geben: Bisphenol A aus anderen Quellen werde zu dem von den Kompositen aufaddiert. „Aber, um es deutlich zu sagen, das bedeutet nicht, dass man jetzt Komposite – wie von mancher Seite Amalgam – verteufeln sollte“, sagt Schmalz.
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Zwei Szenarien sind denkbar
Grundsätzlich ist nicht anzunehmen, dass die Komposit-Diskussion das Amalgam rehabilitieren könnte. Wie geht es also mit dem umstrittenen Werkstoff weiter? Nach Einschätzung des BZÄK-Büros Brüssel sind zwei Szenarien denkbar:
• Szenario eins: Die EU setzt die Vorgaben von Minamata um, Amalgam kommt auch weiterhin zum Einsatz – und wird allmählich von anderen Werkstoffen abgelöst. Für dieses wahrscheinlichere Szenario spricht der Schwebezustand: Die Europäische Kommission hat keinen Handlungsdruck, da die Gutachten die Gefährlichkeit von Amalgam nicht bestätigt haben. Überdies hat die Kommission gewechselt und justiert sich neu, im Mittelpunkt ihres Handelns stehen zurzeit drängende wirtschaftliche Fragen der Gemeinschaft. Zudem war bereits 2011 ein von Schweden propagiertes Verbot am Widerstand der meisten anderen Mitglieder gescheitert.
• Szenario zwei: Die EU versucht als ambitionierter Quecksilbergegner, über die Vorgaben von Minamata hinauszugehen und setzt ein europaweites Verbot durch. Auf diese Option deuten laut dem Brüsseler BZÄK-Büro zumindest Fragen hin, die die Kommission im Rahmen einer öffentlichen Konsultation zur Umsetzung des Abkommens stellte. Außerdem unterstützt die Kommission Amalgam trotz der SCENIHR-Studie nicht vorbehaltlos. So kommentierte sie: „Letztendlich – auch wenn diese Sicht wissenschaftlich nicht bewiesen ist – werden Patienten Dentalamalgam möglicherweise als gefährlich empfinden und ihre Zahnärzte bitten, es nicht zu verwenden.“
Der Umgang mit Amalgam im Praxisalltag
Forscher Schmalz hält ein generelles Verbot für eher unwahrscheinlich. Die EU werde auf Basis der beiden Gutachten „sehr weise und zurückhaltend“ vorgehen und die Empfehlungen von SCENIHR übernehmen. Das bedeutet etwa, dass Amalgam bei Milchzähnen nicht mehr die erste Wahl ist. Außerdem werde sie die Vorgaben von Minamata umsetzen, also etwa die Einführung von Amalgamabscheidern weiter forcieren. In Deutschland und in vielen anderen Ländern ist dies bereits geschehen.
„Damit kann man einen sehr großen Teil, je nach Gerät über 95 Prozent, all dessen abfangen, was sonst an Quecksilber in die Umwelt gelangen würde“, so Schmalz. „Natürlich kann man heute auch ohne Amalgam auskommen und bei größeren Kavitäten beispielsweise Gold- oder Keramikfüllungen oder Kronen einsetzen. Das ist aber zum Teil weniger zahnschonend und naturgemäß mit erheblichen Kosten verbunden.“
Prof. Meyer befürchtet im Falle eines Verbots zudem mehr Sekundär- und Wurzelkaries. Bereits heute lasse sich beobachten: „Insgesamt ist die Zahl der Füllungen dank der präventiven Bemühungen deutlich zurückgegangen. Aber trotzdem steigt die Zahl der Wurzelbehandlungen. Endodontologen gehen davon aus, dass dies auch auf die wachsende Zahl von Kunststofffüllungen zurückzuführen ist, die irgendwann – besonders unter Randspaltbedingungen – bakterienfreundlich werden.“
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wird sich das Problem laut Meyer weiter verschärfen. „Wenn wir in der Alterszahnheilkunde mehr Amalgam verwenden, werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit eine deutlich kostengünstigere Versorgung erreichen als mit Kompositen.“
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Patienten wollen weiße Füllungen
Dass sich Amalgam in Deutschland seit Jahren auf dem Rückzug befindet, hat verschiedene Gründe. Hauptsächlich liegt der Trend zum Komposit wohl aber am Wunsch der Patienten nach zahnfarbenen Restaurationen. Daher werde auch die Verwendung von Amalgam in vielen Ländern weiter zurückgehen.
Gängige Praxis sei inzwischen vielmehr, dass Patient und Zahnarzt gemeinsam – nach fachlicher Empfehlung durch den Zahnarzt – aus einer ganzen Reihe von Werkstoffen den passenden auswählen. „Das halte ich für eine gute Entwicklung. Es schafft Freiräume, die der Vielfalt der klinischen Situationen gerecht werden, und bei denen zusammen mit dem mündigen Patienten schließlich das im Einzelfall optimale Material ausgewählt werden kann“, sagt Schmalz. In den nächsten Jahren würden andere Werkstoffe diese Palette ergänzen, die mehr „auf einer Anorganik“ beruhen. Wesentlich verbesserte Glasionomerzemente zum Beispiel.
Die Anorganik könne in Zukunft auch deshalb eine größere Rolle spielen, da sogenannte biomimetische Werkstoffe, die also weitgehend den Körpersubstanzen – etwa Hydroxylapatit – entsprechen, entwickelt und getestet werden. Schmalz: „Die Entwicklung neuer Werkstoffe ist ein wesentliches Element des Minamata-Abkommens. Im Übrigen das erste internationale Abkommen, in dem der Forschungsbedarf in der Zahnheilkunde offiziell genannt und anerkannt wird – für uns Zahnärzte eine Selbstverständlichkeit – in unserem politischen Umfeld leider nicht immer.“
Johanna HergtFachautorinhergt.johanna@gmail.com