Apps in der Medizin: Helfer oder Horror?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine elektrische Zahnbürste erhebt wichtige Parameter des Mundhygieneverhaltens Ihres Patienten – Häufigkeit, Putzzeit, Andruck, geputzte Mundregionen – und kommuniziert diese mit einer Smartphone-App. Der Patient freut sich, weil ihm die App Tipps gibt, was er verbessern sollte. Vermutlich freuen auch Sie sich als Zahnarzt, denn der Patient wird jetzt endlich zu Hause angehalten, eine gute Mundpflege zu betreiben.
Aber denken wir weiter: Der Bürstenhersteller geht eine Kooperation mit einer Versicherung ein. Die Kasse unterstützt den Erwerb der Bürste gern, denn die gespeicherten Daten lassen sich auf alle denkbaren Korrelationen hin auswerten. Und der Patient merkt von all dem nichts, bis er regelmäßig von seiner Versicherung Schreiben erhält, in denen dargestellt wird, was im Rahmen der professionellen Prophylaxe noch notwendig ist. „Lieber Herr Maier, Ihr Zahnarzt sollte Ihre Zähne bitte nur auf der Außenseite im rechten Oberkiefer reinigen, denn dort haben Sie noch Defizite. Eine Mundhygiene-Aufklärung ist nicht notwendig, denn dafür haben Sie ja unsere App. Ein Zeitrahmen von 15 Minuten wird genügen, alles andere wäre Übertherapie. Auf Anfrage nennen wir Ihnen gerne Zahnärzte, die sich in einem Qualitätsvertrag verpflichtet haben, unseren Empfehlungen zu folgen.“
Musik aus einer bösen Zukunft? Die Bürste gibt es schon, die App auch – und was passiert mit den Daten? Ein solches Szenario, das für uns böse klingt, mag für die Öffentlichkeit positiv erscheinen: Dort könnte es heißen: „Die Zahnärzte argumentieren immer mit dem klinischen Bild und den festgestellten Notwendigkeiten, doch kontrolliert das niemand.“
Aber wer ist so töricht zu glauben, dass Big-Data-Korrelationen nur in eine Richtung funktionieren? Morgen werden vielleicht auch andere Briefe verschickt: „Lieber Herr Müller, wir mussten leider feststellen, dass Sie sich in den vergangenen Monaten auffällig wenig an den Empfehlungen unserer Bürst-App orientiert haben. Unsere Daten-Studien zeigen, dass dies auch im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung stehen könnte. Wir bitten Sie, sich entsprechend untersuchen zu lassen. Vorsorglich sehen wir uns gezwungen, Ihren Kassenanteil bei zukünftigen Zahnersatzleistungen zu reduzieren.“
Wenn sich die Bundeszahnärztekammer auf ihrer jüngsten Klausurtagung – wie übrigens auch die Bundesregierung – mit der Digitalisierung beschäftigt hat, dann sicher nicht, weil wir „Maschinenstürmer“ sein wollen. Gerade die Zahnärzte sind Wegbereiter der Digitalisierung – Röntgen, Datenverarbeitung, CAD-CAM, 3-D-Druck –, aber Big-Data schafft heute Möglichkeiten, denen man nicht blind vertrauen darf. Ziel der BZÄK ist es, dass sich nichts und niemand unkontrolliert in den Kern der Freiberuflichkeit – die Urteilskompetenz des Zahnarztes bezogen auf seinen Patienten – drängt.
Eine Bürst-App kann im Arzt-Patienten- Gespräch hilfreich sein, darf sich aber nicht zur übergeordneten Instanz aufspielen. Auch wissenschaftliche Forschung muss möglich sein, dann aber nur mit Transparenz, ethischer Kontrolle und zahnärztlichem Sachverstand. Ein Informatiker mag sonst allzu leicht Firmennutzen mit Patientennutzen und Korrelation mit Kausalität verwechseln – Sie kennen das: Die Geburten gehen zurück, während und nicht weil die Störche weniger werden.
Aber auch die gesellschaftliche Einstellung muss sich ändern. Als junger Mensch mag es verlockend erscheinen, sich mit eigenen Gesundheitsdaten Vorteile zu erkaufen. Für jeden wird jedoch die Zeit kommen, wenn aus „Gesundheits“-Daten „Krankheits“- Daten werden und deshalb müssen wir alle verhindern, dass „schlechten“ Risiken Entsolidarisierung droht.
Die Bundeszahnärztekammer hat das Thema Digitalisierung daher früh aufgegriffen und wir bleiben dran, damit Daten-Apps Helfer sind und nicht zum Horror mutieren.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Christoph Benz
Vizepräsident der Bundeszahnärztekammmer