Extraktion unter ILA bei einer Phobie-Patientin
Eine 29-jährige Patientin stellte sich im Januar 2014 zur Behandlung in der Abteilung für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie der Universität Rostock vor. Aus der Anamnese der Patientin gingen ein Mitralklappenprolaps, eine Mitralklappeninsuffizienz Grad I, eine Pulmonalklappeninsuffizienz Grad I, paroxysmale Tachykardien sowie eine Typ-IV-Nickelallergie hervor.
Des Weiteren gab sie an, Opfer häuslicher Gewalt geworden zu sein und infolgedessen an einer Angststörung – unter anderem mit ausgeprägter Zahnarztphobie – zu leiden. Diese sei der Grund dafür, dass multiple Versuche einer zahnärztlichen Behandlung in der Niederlassung gescheitert seien.
Die klinische und die radiologische Untersuchung zeigten einen desolaten Gebisszustand (Abbildung 1). In Zusammenarbeit mit den Kollegen der konservierenden und der prothetischen Abteilung wurde die Indikation zur Extraktion von multiplen Zähnen im Ober- und im Unterkiefer, zu einer konservierenden Behandlung der zu erhaltenden Restzähne, zur Verbesserung der Mundhygiene/Patientenmotivation sowie schlussendlich zu einer prothetischen Versorgung gestellt.
Aufgrund der manifesten Angststörung und des Therapieumfangs wurde die initiale chirurgische Sanierung unter Endokarditisprophylaxe in Intubationsnarkose geplant. Nach Vorstellung bei einem Facharzt für Anästhesiologie und Aufklärung über ein bestehendes erhöhtes Narkoserisiko bat die Patientin um Behandlung in lokaler Betäubung. Der Versuch derselben erfolgte kurze Zeit später. Nach Wirkungseintritt einer
Oberflächenanästhesie (Lidocain-Spray) und einer Infiltrationsanästhesie (2 ml vierprozentige Articain-Lösung mit 1:200.000 Adrenalin) im Oberkiefer links verspürte die Patientin ein ausgeprägtes Taubheitsgefühl im Bereich des Gaumens sowie der Wange linksseitig und erlitt eine Panikattacke. Nach der erschwerten Entfernung der zwei Wurzelreste 27 und 28 wurde die weitere Behandlung daher frühzeitig abgebrochen. Bei der im Nachgang erfolgten Befragung gab die Patientin an, vor allem Angst vor der Taubheit der intraoralen Weichgewebe und dem daraus resultierenden erstickungsähnlichen Gefühl zu haben. Infolgedessen lehnte sie alle weiteren Versuche der Extraktion unter lokaler Anästhesie ab.
Drei Monate später stellte sich die Patientin mit akuten Schmerzen und multiplen submukösen Abszessen im Ober- und im Unterkiefer erneut vor. Nach weiteren intensiven Gesprächen mit der Patientin wurde ein erneuter Versuch der Sanierung in Intubationsnarkose unternommen. Dieser fand jedoch mit der Flucht der Patientin vom OP-Tisch kurz vor der Narkoseeinleitung ein jähes Ende. Die Mundhygiene verschlechterte sich in der Folgezeit zusehends und die ohnehin leichtgewichtige Patientin verlor weiter an Körpermasse.
Mitte 2015 wurde die Patientin erneut mit akuten Schmerzen vorstellig (Abbildung 2). Nach mehreren psychologisch betreuten Beratungsgesprächen wurde ein finaler Behandlungsversuch unternommen.
Als Anästhesieform wurde die intraligamentäre Anästhesie gewählt, die sich im Rahmen einer in unserer Abteilung zurzeit stattfindenden klinisch-prospektiven Studie als eine gute und verlässliche Alternative zur Leitungs- und Infiltrationsanästhesie bei der Zahnextraktion bewährt hat. Hierzu wurde ein Spritzensystem vom Pistolentyp mit Druckbegrenzung (Ultraject®, Sanofi-Aventis) mit systemadaptierten Kanülen (0,3 mm / 16 mm mit extra kurzem Anschliff; Heraeus Kulzer) angewandt. Als Lokalanästhetikum wurde eine vierprozentige Articain-Lösung mit Adrenalinzusatz 1:200.000 benutzt. Zehn Sekunden vor jeder Injektion wurde ein Tropfen des Anästhetikums im Bereich des Gingivalsaums appliziert, um den Injektionsschmerz zu reduzieren. Hiernach wurden pro Zahnwurzel etwa 0,2 ml Anästhetikum langsam injiziert (Abbildung 3).
Die Extraktion der Zähne erfolgte unter antibiotischer Endokarditisprophylaxe quadrantenweise mit dem Hebel nach Bein und entsprechenden Periotomen sowie Extraktionszangen. So konnten innerhalb von drei Wochen alle nicht erhaltungswürdigen Zähne entfernt werden (Abbildung 4).
Abschließend erfolgte die konservierende Therapie der zu erhaltenden Restzähne und eine entsprechende prothetische Interimsversorgung. Die definitive prothetische Versorgung wurde nach Konsolidierung der Hart- und Weichgewebssituation unternommen.
Speziell die schmerzlose Injektion des Lokalanästhetikums, die zeitliche und räumliche Begrenzung der lokalen Anästhesie und die schmerzlose Extraktion der Zähne unter intraligamentärer Anästhesie wurden von der Patientin als sehr positiv bewertet. Während und nach der Behandlung konnten keine lokalen beziehungsweise systemischen Komplikationen beobachtet werden.
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Diskussion
Zahnarztphobie ist eine pathologische und unbegründete extreme Angst vor einer Situation, die in keinem Verhältnis zu den Anforderungen der Situation steht und zu einer Vermeidung der notwendigen zahnärztlichen Behandlung führt [Hmud and Walsh, 2009]. Dies ist ein nicht nur bei Kindern, sondern auch ein bei einer nicht unerheblichen Zahl von Erwachsenen beider Geschlechter vorkommendes Phänomen. Etwa fünf bis 15 Prozent der Erwachsenen in den Industrieländern leiden unter Zahnarztphobie [Mehrstedt, 2007]. Die Sorge ist, dass diese an Kinder ängstlicher Erwachsener übertragen werden kann [Nuttall et al., 2008], was zu einem generationsübergreifenden Fortbestand des Problems beitragen kann [Armfield and Milgrom, 2011].
Die Zahnarztphobie stellt ein bedeutendes Hindernis für die zahnärztliche Betreuung dar und kann schwerwiegende Folgen für die Mundgesundheit und die sozio-ökonomische Lebensqualität der Betroffenen haben [Beaton et al., 2014]. Ebenso lassen sich häufig emotionale Faktoren wie Schuld, Scham und der Verlust von Selbstwertgefühl bei Patienten mit Zahnarztphobie finden. In einer Studie von McGrath und Bedi berichteten 73 Prozent der Teilnehmer von einer Beeinflussung ihrer Lebensqualität durch die eigene Mundgesundheit [McGrath and Bedi, 2004].
Die Zahnarztphobie ist ein komplexes multifaktorielles Phänomen. Deren Entwicklung umfasst eine Reihe von exogenen und von endogenen Faktoren. Dazu zählen unter anderem frühere traumatische Erlebnisse, die Persönlichkeit, Angst vor Schmerzen sowie die Übertragung von Angst durch Eltern und Verwandte durch Erzählungen und Beobachtungen im Sinne von Modelllernen [Hmud and Walsh, 2009]. Humphris und King fanden heraus, dass Zahnarztphobie zweieinhalbmal häufiger bei Opfern von sexueller Gewalt auftritt [Humphris and King, 2011].
Die Therapie von Patienten mit ausgeprägter Zahnarztphobie stellt sowohl für den Patienten als auch für den Behandler eine große Herausforderung dar. In der Regel geht die Behandlung von Angstpatienten mit einem großen personellen und zeitlichen Aufwand einher. Mehrere Aspekte der zahnärztlichen Behandlung können Ängste bei den Patienten auslösen [Oosterink et al., 2008], am häufigsten handelt es sich hier um die Injektion des Lokalanästhetikums, wobei nicht nur der Injektionsschmerz, sondern auch die Angst vor dem ausgedehnten Taubheitsgefühl des Weichegewebes ursächlich sein kann [Morse und Cohen, 1983].
Um zahnärztliche Behandlungen optimal auf Angstpatienten abstimmen zu können, scheint es daher sinnvoll zu sein, zwischen Patienten mit Angst vor der Injektion und Patienten mit Angst vor dem Taubheitsgefühl zu unterscheiden. Im vorliegenden Fall dominierte die Angst vor dem Taubheitsgefühl nach der Applikation des Lokalanästhetikums.
Eine zuverlässige Schmerzausschaltung im Operationsfeld ist von wesentlicher Bedeutung, um die erforderliche Kooperation eines Angstpatienten zu gewinnen und die Behandlung erfolgreich abschließen zu können. Techniken wie die Leitungs- oder die Infiltrationsanästhesie haben unter anderem den Nachteil, dass die Injektion in der Regel schmerzhaft und die lokale Betäubung zeitlich und örtlich ausgedehnt ist.
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Die Vorteile
Die intraligamentäre Anästhesie, bei der das Anästhetikum im parodontalen Spalt entlang der Zahnwurzel bis zum Foramen apikale diffundiert und bei der es gleichzeitig zu einer medullären Verteilung des injizierten Anästhetikums im Knochen des Alveolarkamms kommt, bietet viele Vorteile gegenüber den herkömmlichen Anästhesieverfahren, die in der zahnärztlichen Behandlung von Patienten mit Zahnarztphobie von großer Bedeutung sein können:
Der Injektionsschmerz bei der intraliga mentären Änästhesie ist deutlich geringer als bei konventionellen Methoden der lokalen Anästhesie [Kämmerer et al., 2015; Kaufmann et al., 2005].
Die intraligamentäre Anästhesie hat praktisch keine Latenzzeit, so dass die zahnärztliche Behandlung sofort nach der Injektion des Anästhetikums gestartet werden kann [Shabazfar et al., 2014]. Ein unverzüglicher Beginn der Behandlung kann die Dauer der Behandlung und den Patientenaufenthalt auf dem Behandlungsstuhl und folglich die psychische Belastung des Patienten verringern.
Mit intraligamentärer Anästhesie ist es möglich, die Betäubung auf den zu behandelnden Zahn und die angrenzende vestibuläre Gingiva zu limitieren, ohne gleichzeitig die Lippe und/oder die Zunge zu betäuben.
Die Anästhesiedauer der intraligamentären Anästhesie ist im Vergleich zur Leitungs- und Infiltrationsanästhesie geringer, aber dennoch ausreichend für die meisten zahnärztlichen Behandlungen [Shabazfar et al., 2014].
Darüberhinaus ist es möglich, durch die Verwendung graziler Spritzensysteme und feiner Injektionsnadeln die Spritzenangst des Patienten weiterhin abzubauen [Glockmann und Taubenheim, 2010]. Ungeachtet dessen kann auch mit „großkalibrigen“ Spritzsystemen, wie im vorliegenden Fall verwendet, eine sehr gute Änästhesiewirkung im Rahmen der intraligamentären Anästhesie erreicht werden.
Die Qualität der lokalen Anästhesie und der Anästhesieerfolg bei der intraligamentären Anästhesie sind dabei weitestgehend äquivalent zu den konventionellen Methoden der Lokalanästhesie [Heizmann und Gabka, 1994; Shabazfar et al., 2014].
Die intensive Erklärung und Demonstration der Funktionsweise des Spritzensystems vor der eigentlichen Behandlung spielt eine gewichtige Rolle bei der Behandlung von Angstpatienten. Weitere Faktoren wie das Einfühlungsvermögen des Zahnarztes, sein manuelles Geschick bei der Schmerzausschaltung und bei der Behandlung sowie seine Fähigkeit, das Vertrauen des Patienten zu gewinnen, tragen maßgeblich zur Angstminderung des Patienten bei.
Bei Patienten mit Zahnarztphobie kann die Verwendung der intraligamentären Anästhesie bei geringem Injektionsschmerz, schneller und ausreichender Wirkung sowie nur umschriebener Betäubung einen deutlichen therapeutischen Vorteil darstellen.
Ahmed AdubaeDr. med. dent. Ingo ButtchereitPD Dr. med. habil. Dr. med. Peer W. KämmererKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin RostockSchillingallee 35, 18057 Rostockpeer.kaemmerer@uni-rostock.de