Wanted: ein neues Versorgungskonzept
• Etwa 40 Prozent der Erwachsenen leiden in Deutschland an einer moderaten Parodontitis. Ungefähr vier bis acht Prozent der 35- bis 44-Jährigen und 14 bis 22 Prozent der Senioren weisen eine schwere Form auf.
• Ohne Therapie steht am Ende meist der Zahnverlust.
• Zunehmend belegt sind Wechselbeziehungen zu systemischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Rheuma und chronischen Atemwegskrankheiten. Das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall gilt als erhöht, Schwangerschaftskomplikationen treten öfter auf.
• Schlecht ausgebildete Menschen mit prekärem sozialen Hintergrund trifft es deshalb härter, weil ihre Compliance oft geringer ausfällt und Stress, Rauchen wie auch Übergewicht die Erkrankung begünstigen.
Die lange Liste zeigt: Die Zusammenhänge zwischen oraler und Allgemeingesundheit sind mittlerweile sehr gut ausgeleuchtet. Wir wissen, welche Rolle die Parodontitis als auslösender oder als adjuvanter Faktor für Allgemeinerkrankungen spielt.
Statement Dr. Eßer
Den Behandlungsbedarf steuern
Die European Federation of Periodontology (EFP), ein Zusammenschluss von 29 nationalen wissenschaftlichen Fachgesellschaften, bestätigt in ihren aktuellen Leitlinien den Stellenwert der UPT – und damit die von KZBV, DG Paro und BZÄK entwickelten Abläufe und Inhalte einer modernen Parodontalbehandlung. Hier ist neben der antiinfektiösen Therapie (AIT) und möglichen chirurgischen Interventionen – im Bema sind das analog die Leistungspositionen P200ff. – die UPT ein unverzichtbarer Bestandteil einer zeitgemäßen qualitätsorientierten Therapie.
Aufgrund der weltweit hohen Prävalenz hält die EFP es für notwendig, die „Prioritäten für die orale Gesundheit neu auszurichten: auf die Primärprävention von Parodontitis (und Periimplantitis) durch die Behandlung von Gingivitis (und periimplantärer Mukositis) und auf die Sekundärprävention mit dem Ziel, das Wiederauftreten der Erkrankung bei bereits therapierten Patienten zu verhindern“.
Wichtig ist ein noch stärkerer Blickwinkel des Berufsstands auf noch mehr Information, Instruktion und Motivation unserer Patienten. Auch damit können wir den künftig eher steigenden Behandlungsbedarf steuern.
Dr. Wolfgang Eßer ist Vorsitzender des Vorstands der KZBV.
„Wir“ heißt aber nicht „alle“. Im Gegenteil: Abseits der Wissenschaft ist die Krankheit nach wie vor nahezu unbekannt. Fragen Sie die Kassiererin im Supermarkt oder den Nachbarn gegenüber: „Paro-was?“ kennt kein Mensch. Eher geläufig ist der – längst überholte – Begriff der „Parodontose“, der aber ebenso wenig mit einer konkreten Krankheit verbunden wird. Das ist keine Überraschung, da eine Parodontitis zunächst fast immer ohne spürbare Beeinträchtigungen oder Schmerzen verläuft. Erst im fortgeschrittenen Zustand, wenn durch den Knochenverlust das Zahnfleisch zurückweicht und die Zähne kippeln, ahnen die Patienten, dass die Symptome doch ernster sind als gedacht. Trotzdem stellt selbst manifestes Zahnfleischbluten erfahrungsgemäß keinen Anlass zur Beunruhigung dar. Nicht ohne Grund sprechen wir von der ’silent disease’.
Die stille Krankheit
„Im Kampf gegen Karies waren die Zahnärzte in den vergangenen 20 Jahren sehr erfolgreich, bei der Parodontitis stehen wir dagegen noch ganz am Anfang“, verdeutlicht der KZBV-Vorsitzende Dr. Wolfgang Eßer. „Wenn wir diese Krankheit in den Griff bekommen wollen, muss es uns gelingen, die Gefahren der Parodontitis verständlich zu vermitteln. Erst dann können Prävention, Therapie und Nachsorge erfolgreich sein.“ Das bestätigt BZÄK-Vizepräsident Prof. Dietmar Oesterreich: „Zähne können durch eine gezielte Vorsorge bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Vorausgesetzt, der Patient erkennt mögliche Risiken und achtet auf seine Mundhygiene. Dann können wir in vielen Fällen sogar verhindern, dass überhaupt eine Parodontitis entsteht. Generell gilt: Die Bewältigung der Risikofaktoren und eine Verhaltensänderung des Patienten sind der Schlüssel zum Erfolg! Diese Risiko- und Krankheitswahrnehmung zu verbessern, ist daher Schwerpunkt der neugeplanten BZÄK-Kampagne ’Parodontitis frühzeitig erkennen’.“
Bislang bildet der GKV-Leistungskatalog die notwendigen primären und tertiären Präventionsmaßnahmen wie die wichtige betreute Nachsorge (UPT) allerdings nicht ab. Aktuell ist dort nur die Behandlung im engeren Sinne vorgesehen: also die aktive Therapiephase. Oesterreich: „Damit fehlt das fachlich international anerkannte zweite Standbein einer effektiven und Rezidiven vorbeugenden PAR-Therapie.“
Die Weiterentwicklung und Neubeschreibung der Parodontaltherapie hat deshalb oberste Priorität. Eßer: „Die derzeit ungenügende Ausgestaltung der Parodontalbehandlung in der GKV ist für alle Beteiligten Unbefriedigend.
Ziel muss sein, die Volkskrankheit Parodontitis durch Prävention und moderne PAR-Therapiekonzepte sowie durch Sensibilisierung und Förderung der Eigenverantwortung der Patienten so erfolgreich einzudämmen, wie es uns bei der Karies gelungen ist.“
Gefragt ist also ein neues, ein modernes Versorgungskonzept. Ein Konzept, das neben der Instrumentierung schwerpunktmäßig auf die Sekundär- und eine kontinuierliche Tertiärprävention setzt – und das hiermit darauf abstellt, ein Bewusstsein für die Krankheit in der Bevölkerung zu schaffen. Dies soll unter anderem durch die angestrebte Position des Ärztlichen Gesprächs erfolgen. Hier verweist Oesterreich auf das psychologische Konzept des „Motivierenden Interviewens“ (MI): „Die dort sehr einfach formulierten Gesprächsprinzipien können gerade bei Personen mit labiler Veränderungsbereitschaft sehr wirksam eingesetzt werden.“
Statement Prof. Oesterreich
Pro Früherkennung
Die Aktivitäten von BZÄK und KZBV müssen sich im PAR-Bereich ergänzen. Dabei unterstützt der Vorstand der BZÄK das Konzept der KZBV aus fachlicher Sicht. Schwerpunkt der BZÄK ist insbesondere die Sekundärprävention im Sinne der Früherkennung durch die Kampagne „Parodontitis frühzeitig erkennen“. Hier gilt, die Risiko- und Krankheitswahrnehmung im individual- und bevölkerungsweiten Bezug deutlich zu erhöhen. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer solchen Kampagne sind die Rahmenbedingungen im Versorgungssystem und die Awareness im Berufsstand selbst. Die Erkenntnisse der DMS V werden im Sommer für die Diskussion um die Versorgungsbedarfe und die Ansätze der Prävention weitere wichtige Erkenntnisse liefern.
Prof. Dietmar Oesterreich ist Vizepräsident der BZÄK.
Eine Blaupause für ein Modell einer erfolgreichen Parodontitistherapie haben KZBV und BZÄK mithilfe der Wissenschaft bereits entwickelt. Step by step wird dabei die Behandlung durchdekliniert, in die der Patient durch die Arztgespräche konsequent eingebunden ist:
• Beim Erstkontakt werden der PSI-Befund, der 01-Befund und der Akutbefund erhoben und gegebenenfalls in einem Aufklärungsgespräch erläutert.
• Bei Bedarf wird ein ausführlicher PAR- Basisbefund erstellt.
• Diagnose und Prognose münden dann in einen Therapieplan.
• Hinzu kommt ein zahnärztliches Gespräch über die folgende anti-infektiöse Therapie (AlT).
• Nach der Instrumentierungsphase erfolgt die erste Reevaluation und der Zahnarzt beurteilt in einem weiteren Gespräch mit dem Patienten die Ergebnisse. Falls erforderlich, wird eine weiterführende chirurgische Parodontal-Therapie (CPT) mit anschließendem ärztlichen Gespräch inklusive Reevaluation durchgeführt.
• Nach der Therapiephase setzt abschließend die Nachsorge in Form der strukturierten Unterstützenden Parodontitistherapie (UPT) inklusive weiterer Reevaluationen ein. Diese verhindert die weitere Progression.
Die UPT spielt in der PAR-Therapie eine tragende Rolle. Eßer: „Dank wissenschaftlicher Untersuchungen können wir heute mit Gewissheit sagen, dass der Behandlungserfolg einer Instrumentierungsphase nur durch eine strukturierte Nachsorge im Sinne einer UPT nachhaltig gesichert werden kann. Zur UPT gibt es deshalb keine Alternative. Sie ist eine medizinisch notwendige Behandlung!“
Von defensiv bis offensiv
Therapiestrategien in der Parodontologie
Frage: Was ist das Ziel zahnärztlicher Therapie? Antwort: die langfristige Erhaltung natürlicher Zähne in einem gesunden, funktionellen, ästhetisch akzeptablen und schmerzfreien Zustand. In der Parodontologie erreichen wir dieses Ziel durch die Beherrschung der Infektion. Dadurch wird die fortschreitende Zerstörung des Zahnhalteapparats aufgehalten und der Status quo gewahrt. In bestimmten Defekten ist dann unter günstigen Bedingungen noch die Regeneration des zerstörten Parodonts möglich. Die parodontale Behandlungssequenz fängt defensiv an: Der Patient wird zu effektiver individueller Mundhygiene motiviert und geschult, pathologisch vertiefte Taschen werden nicht-chirurgisch gereinigt („geschlossenes Vorgehen“). Dabei geht es heute primär um Scaling, also die Entfernung von Fremdauflagerungen und nicht um Wurzelglättung. Bei adäquater Therapie reicht dieser Therapieschritt in vielen Fällen aus, um das Therapieziel zu erreichen.
Bedeutet das Persistieren von pathologisch vertieften Taschen, dass das Vorgehen zu defensiv war? Wie geht es mit solchen Stellen weiter? Für Knochentaschen stehen (minimal invasive) regenerative und für durchgängige Furkationen (offensive) resektive chirurgische Verfahren zur Verfügung. Alles mündet in die unvermeidliche Unterstützende Parodontitistherapie (UPT), die offensiv propagiert und defensiv (schonend) durchgeführt wird. Fazit: Parodontaltherapie so defensiv wie möglich und so offensiv/invasiv wie nötig.
Prof. Dr. Peter Eickholz ist Präsident der DG Paro und Direktor der Poliklinik für Parodontologie am Carolinum in Frankfurt am Main. Die DG Paro begleitet das PAR-Therapiekonzept wissenschaftlich.
Ziel ist, die UPT in ein zeitgemäßes PAR- Therapiekonzept zu gießen. Denn am Ende müssen die Inhalte in konkrete zahnärztliche Leistungen übersetzt und gesetzgeberisch verankert werden. Dass sich dort auch die sprechende Zahnmedizin wiederfinden muss, ist für Eßer unabdingbar. Eßer: „Wir müssen den Patienten umfassend aufklären und über die gesamte Behandlungsstrecke inklusive Nachsorge mitnehmen – das macht den Erfolg aus und ist fester Bestandteil des Konzepts, der aber auch vergütet werden muss.“
„Genau hier setzt die BZÄK mit ihrer Kampagne einen Schwerpunkt – der informierte Patient“, ergänzt Oesterreich.
Bereits 2013 stellten die Patientenvertreter im G-BA einen – von der Zahnärzteschaft ausdrücklich begrüßten und begleiteten – Antrag auf Nutzenbewertung. Deshalb wertet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gerade die Studienlage zur Bewertung der systematischen Behandlung von Parodontopathien aus. Ob die UPT dann auch für GKV-versicherte Patienten zur Verfügung stehen wird, hängt maßgeblich vom Ergebnis dieser Begutachtung ab: Sollten die Studien belegen, dass eine UPT den Therapienutzen verbessert, muss sich der G-BA damit beschäftigen, wie GKV-Versicherte daran teilhaben können. Jetzt kommt langsam Bewegung in die Sache: Voraussichtlich noch in diesem Jahr sollen die Ergebnisse des IQWiG vorliegen.
Am 2. Juli steht das Thema auf der Agenda der KZBV-Vertreterversammlung in Köln. Eßer: „Wir müssen diesen Schwung beim Thema Paro nutzen und die Versorgung in der GKV substanziell verbessern.“