Editorial

Hat Zahnmedizin Evidenz?

Natürlich hat sie das. Es fragt sich nur welche Klasse, also eher Bundesliga oder doch Regionalliga?

Als höchst verfügbare Evidenz gilt Klasse 1. Um in dieser Liga spielen zu können, sind methodisch hochwertige Studien, sogenannte RCTs – Randomized Controlled Trials – erforderlich, die neben kontrollierten klinischen Bedingungen auch eine randomisierte Verteilung der Patienten auf die jeweiligen Studiengruppen erfordern. Legt man die Elle für die großen pharmazeutischen Interventionsstudien an, ist zudem eine doppelte Verblindung gefordert. Letztere geht in der Zahnmedizin nur schwerlich, da hilft auch ein im doppelten Wortsinne blinder Zahnarzt nicht weiter (Ironie aus).

Aber darum geht es auch gar nicht. Denn selbst der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) fordert in seinen Richtlinien nicht zwingend Studien mit doppelter Verblindung (Behandler wie auch Patient kennen weder Verum noch Placebo), sondern randomisierte klinische Studien, die der Stufe 1b entsprechen. Sind diese nicht vorhanden, steigt man zur Entscheidungsfindung quasi die Evidenztreppe herab. Bis in den Keller auf Stufe 5 – hier gibt es nur Fallserien oder Expertenmeinungen – geht der „Abstieg“ nur im Einzelfall, z. B. bei seltenen Erkrankungen. Wobei die Regel gilt, dass je mehr von Stufe 1 abgewichen wird, umso größer die Begründungspflicht vor allem im Hinblick auf die Risiken wird. Um im Bilde zu bleiben: Je näher man auf der Evidenztreppe dem Keller kommt, umso lauter werden die Rufe der „Kellergeister“ (prickelndes weinhaltiges Getränk mit Kopfschmerzgarantie) aus dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG, die den „observational bias“ oder die Befangenheit des Untersuchers, mit anderen Worten den zu hohen Eminenzfaktor beklagen. Dr. Rainer Hess, der ehemalige unparteiische Vorsitzende des G-BA, hatte es dagegen so auf den Punkt gebracht: „Wir entscheiden nicht nach der höchsten, sondern nach der höchst verfügbaren Evidenzklasse.“

Aus zahnmedizinischer Sicht betrachtet mag das beruhigend klingen, ist es aber nicht wirklich. Denn die abgeschwächten Anforderungen für seltene Erkrankungen wird man auch nur selten in Anspruch nehmen können. Es kommt daher zunehmend darauf an, dass auch in der Zahnmedizin den gegebenen Qualitätskriterien entsprechende Studien aufgelegt werden. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es gibt auch in der Zahnmedizin Studien der Stufe 1b. Für den im Herbst erwarteten Bericht des IQWiG zum Thema „Systematische Behandlung von Parodontopathien“ wurde seitens des Instituts angekündigt, dass „ausschließlich RCTs als relevante wissenschaftliche Literatur in die Nutzenbewertung einfließen“. Aber das liegt wohl eher daran, das Parodontopathien systemischer Natur sind …

Führt man sich vor Augen, wie das jetzige Konzept der evidenzbasierten Medizin in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA aufgrund der Explosion pharmazeutischer Studien mit fragwürdigen Ergebnissen entstanden ist, kann man sich in der Zahnmedizin durchaus fragen, warum bei den fachimmanent sichtbaren Ergebnissen zahnärztlicher Tätigkeit der G-BA Studien der Stufe 1b fordert. Gefühlt macht es ja einen großen Unterschied, ob ein neues Pharmakon systemisch angewendet wird und deshalb doppelblind angelegte Studien gefordert sind oder ob ein neuer Werkstoff in bzw. an einem Zahn Verwendung findet, wo jeder der sehen will, auch alles sehen kann. Nur leider besteht das Problem bei jeder invasiven Maßnahme, Nutzen und Risiken darlegen und bewerten zu müssen. Und deshalb wird die EBMisierung auch vor der Zahnmedizin nicht halt machen. Oder sollte ich besser sagen: IQWiGisierung? Denn das Institut fokussiert auf die externe Evidenz. Die interne Evidenz, die individuelle klinische Expertise des Zahnarztes wie auch die Patientenpräferenz fällt bei dieser Sichtweise durch den Rost. Somit bestimmt das IQWiG die „Liga“. Leider!

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