Durch den Mund an die Wirbelsäule
Ein 18-jährige Mann ging Ende Juni nachts an den Bahnschienen im Freiburger Stadtgebiet entlang, als ihn ein vorbeifahrender Zug erfasste. Der erste Zugführer, der am nächsten Morgen die Strecke befuhr, entdeckte den schwer verletzten Mann und alarmierte den Rettungsdienst. Beim Kontakt durch den Notarzt war der Patient vigilanzgemindert, kardiorespiratorisch jedoch stabil, mit einem erniedrigten Blutdruck von 80/50 mmHg und einer Herzfrequenz von 100 Schlägen pro Minute. Die Sauerstoffsättigung betrug weniger als 95 Prozent. Der Notarzt diagnostizierte einen Glascow- Coma-Scale von 11. Die klinische Untersuchung ergab grob orientierend eine Prellmarke über dem rechten Auge und dem Jochbein sowie geringgradige Blutungen aus der Nase und dem linken Ohr. Nach Anlage einer Zervikalstütze, eines sogenannten Stiff Necks, erfolgte der sofortige bodengebundene Transport in den Schockraum des Universitären Notfallzentrums. Im Rahmen der interdisziplinären Notfallbehandlung des Patienten wurde ein Ganzkörper-Computertomogramm angefertigt, das eine Reihe von zum Teil lebensbedrohlichen Verletzungen zeigte.
Behandlungsbestimmend waren die knöchernen Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich mit einer um 6 mm nach dorsal dislozierten Fraktur des Dens axis (Jefferson-III-Fraktur) sowie einem offenen Schädel-Hirn-Trauma mit Längsfraktur des linken Felsenbeins. Hier zeigten sich kleine intrakranielle Lufteinschlüsse links temporal und suprasphenoidal. Der Patient erlitt weiterhin eine nicht dislozierte Le Fort-III-Fraktur des Gesichtsschädels mit mehrfragmentärer Orbitafraktur rechts. Als Begleitverletzungen wurden auf der rechten Rumpfseite eine Rippenserienfraktur, eine mehrfragmentäre Akromionfraktur und Frakturen der Lendenwirbelquerfortsätze in Höhe LWK 2 und 3 diagnostiziert. Die Beteiligung der inneren Organe umfasste eine Lungenkontusion, rechts mit schmalem Pneumothorax und Pneumomediastinum. Weiterhin konnten Lazerationen des rechten Leberlappens, beider Nieren und der Milz mit perihepatischer und perisplenischer Hämatoperitoneums nachgewiesen werden.
Nach erster Diagnosestellung war zunächst die niedrige Körpertemperatur des Patienten von 31 Grad Celsius das größte Problem. „Wäre es nachts etwas kälter gewesen, hätte er vermutlich nicht überlebt“, sagt PD Dr. Kilian Reising, Kommissarischer Leitender Oberarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie. „Auch die Behandlung des Patienten war dadurch erschwert. Bei einer so niedrigen Körpertemperatur funktioniert die Blutgerinnung nicht mehr richtig. Unter diesen Umständen wäre eine Operation lebensgefährlich gewesen.“
So bestand die erste Therapie in der Gerinnungsoptimierung und graduellen Anhebung der Körpertemperatur. Dies musste unter ständiger Kontrolle der Gerinnungsparameter erfolgen um eine überschießende Aktivierung der Blutgerinnung zu vermeiden. Hierzu wurde der Patient auf die Intensivstation verlegt. Im weiteren Verlauf erwiesen sich die inneren Verletzungen als stabil und wurden von den konsiliarisch mitbetreuenden Kollegen als nicht operationsbedürftig eingestuft.
###more### ###title### Alternative zur dorsalen internen Fixation ###title### ###more###
Alternative zur dorsalen internen Fixation
In den Behandlungsfokus rückte nun die dringend notwendige Stabilisierung der Wirbelbrüche, um einer drohenden Querschnittslähmung entgegen zu wirken. Der Dens axis, das Verbindungselement des zweiten Halswirbels mit dem Atlas, war frakturiert und stark disloziert. Der dadurch ausgelöste Druck auf das Rückenmark konnte zu einer Querschnittslähmung führen. Die oft in einem solchen Fall durchgeführte dorsale interne Fixation mehrerer Wirbelkörper zur Frakturstabilisierung hätte zwar die erforderliche Stabilität bringen können, der junge Patient hätte aber nie wieder den Kopf drehen, beziehungsweise ausreichend bewegen können. „Das wollten wir dem jungen Mann nicht antun und haben deshalb alternative Lösungen gesucht“, erklärt Unfallchirurg Dr. Reising.
Die Mediziner entschlossen sich zu einer anderen Vorgehensweise. Über einen ventralen extraoralen Zugang auf Höhe des Kehlkopfes wurde die Wirbelsäule nach Verdrängung von Ösophagus und Trachea sowie der großen Halsgefäße dargestellt. Unter Röntgenkontrolle wurde der zweite Halswirbel aufgesucht, die Densfraktur reponiert und mit einer sechs Zentimeter langen Osteosyntheseschraube versorgt. Die abschließende Röntgenkontrolle bestätigte ein suffizientes, lagestabiles Repositionsergebnis. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass die Schraube den Wirbel nicht dauerhaft stabilisierte und aus dem kaudalen Anteil des zweiten Halswirbels ausgebrochen war. Die Mediziner suchten daher einen neuen Weg, weiterhin in der Hoffnung, die drohende Querschnittslähmung abzuwenden und die Beweglichkeit des jungen Patienten zu erhalten. Professor Dr. Dr. Rainer Schmelzeisen, Ärztlicher Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Freiburg, schlug als Alternative vor, transoral über die Präparation der praevertebralen Faszie, an die Wirbelsäule zu gelangen, eine Technik, die weltweit insgesamt sehr selten durchgeführt wird. „Die Halswirbelsäule und der gebrochene zweite Halswirbel liegen unmittelbar hinter der Rachenhinterwand, knapp unterhalb der Schädelbasis, es ist der hinterste Bereich des Rachenraumes. Vorteile dieser Operation sind ein direkter Einblick auf den vorderen Bereich der Halswirbelsäule und insbesondere auf die Wirbel, unmittelbar unterhalb des Schädels. Über diesen Zugang ist eine anatomische Stabilisierung besonders gut möglich,“ erklärt der Operateur.
Ein weiteres Problem: Neben der operativ/chirurgischen Herausforderung waren aufgrund der Seltenheit des Eingriffs keine spezifischen Instrumente verfügbar. Das eigentliche Operationsgebiet liegt weit entfernt von der Mundöffnung. Viele chirurgische Instrumente sind eigentlich nicht lang genug für die Arbeit „in der Tiefe“. Mit einer Osteosyntheseplatte aus der Handchirurgie, entwickelt zur Versteifung komplexer Handknochenbrüche und den in der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie verfügbaren modernsten Operationstechniken, wie navigiertes Operieren unter endoskopischer Kontrolle, konnte unter größter Anstrengung die Operation durchgeführt werden.
Mit einem feinen Faden wurde zunächst der weiche Gaumen mit der Uvula nach vorne und zur Seite bewegt und damit der Blick auf die Rachenhinterwand freigelegt. Nach einem etwa sechs Zentimeter langen Schnitt durch die Rachenschleimhaut und die Rachenmuskulatur konnte die praevertebrale Faszien-Schicht vor der Wirbelsäule freigelegt und ebenfalls eingeschnitten werden, bis die knöcherne Fläche der Wirbel erschien. Die anatomischen Bedingungen bei dem jungen Mann erlaubten es, auf eine Spaltung des weichen Gaumens in der Mitte, die sonst oft erst eine bessere Übersicht gibt, zu verzichten. Durch vorsichtige Präparation gelang es dem Chirurgenteam, eine Verletzung lebenswichtiger Gefäße, wie der beidseits seitlich verlaufenden A. carotis interna, zu vermeiden. Während der Operation erfolgte die computergestützte Navigation zur Positionsbestimmung für die Chirurgen. Die Computertomografie sowie die Röntgendaten des Patienten stehen während der Operation ständig zur Verfügung.
###more### ###title### Präzisionsarbeit dank Infrarotkamera und DVT ###title### ###more###
Präzisionsarbeit dank Infrarotkamera und DVT
Die Spitze bestimmter Instrumente lässt sich während der Operation mit einer Infrarotkamera identifizieren, was dem Operateur die Positionsbestimmung erlaubt. Und das auch bei eingeschränkter Genauigkeit des Systems am Hals gegenüber einer sonst üblichen Navigation am Gesichtsschädel. Das Operationsergebnis konnte dann mit einer Glasfaseroptik durch ein Endoskop überprüft werden und wurde während der Operation auf einen großen Bildschirm im Operationssaal übertragen. Der gebrochene Wirbel ließ sich gut erkennen. Nachdem er von den MKG-Chirurgen freipräpariert werden konnte, konnten die Orthopäden die Fixierung vornehmen. Dabei wurde die t-förmige Metallplatte mit Hilfe von fünf Schrauben an dem Wirbel angebracht.
Schließlich wurde die Rachenhinterwand wieder mehrschichtig plastisch vernäht. Die intraoperativ durchgeführte 3-D-Bildgebung mittels eines DVT-C-Bogens bestätigte eine suffiziente Reposition und eine jetzt lagestabile Osteosynthese der Fraktur. Gut drei Wochen nach dem schweren Unfall konnte der Patient mit einer sehr guten Gesundheitsprognose das Krankenhaus verlassen.
Dr. Dr. Fabian Duttenhöfer, Arzt und wissenschaftlicher MitarbeiterWiebke Semper-Hogg, Zahnärztin, Leitung Sektion Bildgebung und implantologische Diagnostik,Professor Dr. Dr. Marc C. Metzger,Leitender OberarztUniprof. Dr. Dr. Rainer Schmelzeisen, Ärztlicher DirektorKlinik für MMKG-Chirurgie, Universitätsklinikum FreiburgHugstetter Straße 55, 79106 Freiburg E-mail:PD Dr. Kilian Reising, Kommissarischer Leitender Oberarzt,Uniprof. Professor Dr. Norbert Südkamp, Ärztlicher Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Uniklinikums FreiburgHugstetter Str. 55, 79106 Freiburg im Breisgau