Der besondere Fall mit CME

Nekrotisierende ulzerierende Gingivitis bei Leukämie

Heftarchiv Zahnmedizin
Ingo Buttchereit
,
Peer W. Kämmerer
Die Behandlung nekrotisierender Parodontopathien erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen. Dieser Fall beschreibt die Therapie einer nekrotisierenden, ulzerierenden Gingivitis bei einem multimorbiden Leukämiepatienten.

Ein 74-jähriger Patient stellte sich erstmalig im April 2015 nach Überweisung durch den behandelnden Hämatoonkologen mit einer seit zwei Tagen bestehenden schmerzhaften Schwellung der Wangen- und der Kinnregion links sowie deutlich reduzierten Allgemeinzustand (Fieber, Atembeschwerden, allgemeine Antriebslosigkeit) in der Poliklinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Rostock vor. Die umfangreiche allgemeine Anamnese ergab Folgendes: eine chronische lymphatische Leukämie (CLL seit 1991), depressive Episoden, multifaktorielle refraktäre Anämie, dilatative Kardiomyopathie, Herzrhythmusstörungen, chronische Niereninsuffizienz, einen Insulin-pflichtigen Diabetes mellitus Typ 2, Zustand nach Lungenembolie (1990), Zustand nach Prostata-Karzinom (ED 2010 mit Radiatio), Dabigatran-Dauertherapie, Hypothyreose (substituiert), Vitamin-D-Mangel sowie eine aktuelle Rituximab-Erhaltungstherapie (vier Zyklen seit 11/2014 – selektiver Zelldepletor). Des Weiteren gab der Patient an, seit circa sechs Monaten Deferasirox zur Behandlung der chronischen transfusionsbedingten Eisenüberladung einzunehmen.

Intraoraler Befund

Der intraorale Befund zeigte neben einer moderat chronischen Parodontitis ein nekrotisierendes und ulzerierendes Schleimhautareal in regio 32 bis 35 (Abbildung 1). Überdies konnte eine Sondierungstiefe von 6 mm zwischen 32 und 33 sowie ein Lockerungsgrad von 1 bis 2 an den Zähnen 32 bis 34 bei positiver Sensibilität erhoben werden, wobei zumindest 2D-radiologisch kein Knochenabbau vorlag (Abbildung 2). Aufgrund des deutlich reduzierten Allgemeinzustandes des Patienten entschieden wir uns für eine stationäre Weiterbehandlung. Ein kurz darauf angefertigtes Blutbild zeigte unter anderem einen Hämoglobin-Wert von 5,2 mmol/l (Referenzbereich 8,6 bis 12 mmol/l), einen Hämatokrit-Wert von 0,24 (Referenzbereich 0,4 bis 0,51), einen Kernschatten-Wert von 40 Prozent (Referenzbereich 1 Prozent ) sowie einen CRP-Wert von 53,1 mg/l (Referenzbereich 5 mg/l).

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Initialtherapie

Die Initialtherapie bestand aus einer anämiebedingten Transfusion mit Erythrozytenkonzentrat, einer intravenösen Kombinationsantibiose (3 x 3 g Ampicillin/Sulbactam und 3 x 500 mg Metronidazol) und der intravenösen Gabe von Analgetika. Im Rahmen des stationären Aufenthalts erfolgte in regio 32 bis 35 ein supra- und subgingivales Debridement mit Ultraschall (Cavitron® SPS, Slimline® Ansätze, Dentsply, Schweiz) und Handinstrumenten (Gracey®-Küretten, Hu-Friedy, Tuttlingen, Schweiz) unter Lokalanästhesie sowie die drei mal tägliche Anwendung von Chlorhexidin-Mundspülung (0,2 Prozent).

Da Gingivanekrosen unter Deferasirox in seltenen Fällen beschrieben sind, wurde das Medikament in Rücksprache mit dem behandelnden Hämatoonkologen pausiert.

Nach 48 Stunden i.v.-Antibiose und intensiver Hygienisierung (Abbildung 3) erfolgte die Abtragung der Gingivanekrose unter laufender Dabigatran-Medikation. Die sich von Zahn 32 bis 35 vestibulär und interdental erstreckende Nekrose wurde schonend entfernt (Abbildung 4). Eine Mitbeteiligung des Alveolarknochens war nicht erkennbar. Im Anschluss erfolgte eine chemische Dekontamination der Wunde mit Betaisodona-Lösung sowie der primäre Wundverschluss mittels modifiziertem koronalen Verschiebelappen (Nahtmaterial: Resolon 4.0, Resorba Medical GmbH). Die Zähne 32 bis 34 wurden aufgrund ihrer geringgradigen Lockerung belassen und mittels Säure-Ätz-Technik primär durch Schienung stabilisiert. Abschließend erfolgte die Abdeckung des OP-Situs mit einer Verbandsplatte, in welche im vestibulären Bereich eine Aussparung eingearbeitet wurde (Abbildung 5).

In diese Aussparung wurde ein mit Gentamycinsalbe getränkter Gazestreifen eingelegt. Die histopathologische Begutachtung des entfernten Materials ergab eine floride akut-nekrotisierende und chronische Entzündung, die nach Art und Umfang gut mit einer akut nekrotisierenden ulzerierenden Gingivitis (ANUG/NUG) vereinbar ist.

Nach täglichem Streifenwechsel und siebentägiger i.v.-Antibiose konnte der Patient in gutem Allgemeinzustand sowie zeitgerechter Wundheilung nach Hause entlassen werden. Die systemische antibiotische Abschirmung wurde – oral prolongiert bis zum Abklingen klinischer Zeichen einer Keimbelastung – fortgeführt.

Es wurden Recall-Termine in einem anfänglich Zwei-Tages-Abstand vereinbart. Während der ersten zwei Wochen nach den Eingriffen spülte der Patient zweimal täglich mit einer 0,2-prozentigen Chlorhexidinlösung. Am 14. postoperativen Tag fand die Nahtentfernung statt, jedoch ohne Sondierung an den betroffenen Zähnen.

Postoperativ wurde im ersten halben Jahr in Abständen von jeweils zwei Monaten die Mundhygiene kontrolliert sowie supragingivale Beläge und Verfärbungen entfernt und die Zahnoberflächen poliert. Eine Reevaluation sechs Monate nach chirurgischer Therapie ergab lokalisiert Sondierungstiefen von 4 mm oder weniger. Die Rituximab-Erhaltungstherapie wurde wie geplant fortgesetzt. Durch das engmaschige Recall, eine systematische Parodontitis-Therapie und die gute Compliance des Patienten konnte eine Stabilisierung der parodontalen Weichgewebe erreicht werden (Abbildungen 6 und 7).

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Diskussion

Unter den nekrotisierenden Parodontalerkrankungen werden die nekrotisierende ulzerierende Gingivitis (NUG) und die nekrotisierende Parodontitis (NUP) subsumiert (International Workshop 1999). Beide Formen teilen ein klinisch ähnliches Erscheinungsbild, das charakterisiert ist durch interdentale gingivale Nekrosen beziehungsweise Ulzerationen und spontane Blutungen der marginalen Gingiva, starken Foetor ex ore und erhebliche Schmerzen. Bei der NUP kommt es überdies zu einem Verlust von parodontalem Stützgewebe. Radiologisches Korrelat in der Panoramaschichtaufnahme ist ein schnell fortschreitender, generalisierter, horizontaler und vertikaler Knochenabbau. In schweren Fällen können eine Lymphadenopathie, ein allgemeines Krankheitsgefühl und Fieber auftreten (International Workshop 1999). Der rasche Krankheitsverlauf und die akute Schmerzsymptomatik sind wichtige Unterscheidungsmerkmale zu anderen Parodontalerkrankungen [Simon et al., 2008].

Als mikrobiologische Ursache dürfte eine anaerobe Mischflora mit Treponema- und Selenomonas-Stämmen sowie Prevotella intermedia, Porphyromonas gingivalis und Fusobacterium-Stämme für die Infektion verantwortlich sein. Auch eine mögliche Mitbeteiligung von Cytomegalie-Viren wird in der Literatur diskutiert [Ebner et al., 1999]. Im Allgemeinen treten Nekrotisierende Parodontopathien in allen Altersgruppen auf, der Häufigkeitsgipfel der Erkrankungen liegt jedoch im jungen Erwachsenenalter. Da eine eingeschränkte Immunabwehr ein prädisponierender Risikofaktor für die NUG/NUP darstellt, sind HIV-positive Patienten häufiger von der Erkrankung betroffen. Jedoch auch weitere systemische Erkrankungen mit negativem Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des Immunsystems, wie beispielsweise leukozytäre Defekte einschließlich der Leukämien – mit entsprechender Begleitmedikation – stehen im Zusammenhang mit dem vermehrten Auftreten.

Differenzialdiagnostisch muss das klinische Bild einer NUG/NUP von der akuten herpetischen Gingivitis, der chronischen desquamativen Gingivitis oder der chronischen Parodontitis unterschieden werden. Weniger häufig kann es sich auch um eine aphthöse Stomatitis, eine bakteriell bedingte Gingivostomatitis, eine Monoliasis, eine Agranulozytose oder eine orale Manifestation einer Dermatose handeln [Melnick et al., 1988]. Vor Therapiebeginn empfehlen sich unter anderem die Anfertigung eines Differenzialblutbildes und ein HIV-Test zum Ausschluss einer der oben genannten hämatologischen Erkrankung beziehungsweise einer HIV-Infektion.

Die Therapie nekrotisierender Parodontalerkrankungen gliedert sich in die Therapie der akuten Entzündungssymptomatik und die nachfolgende Erhaltungs- und Präventionstherapie auf. Sie unterscheidet sich daher im Wesentlichen nicht von der Therapie anderer Parodontopathien.

Ziel der Akuttherapie ist die rasche Eindämmung der Krankheitsaktivität, um ein weiteres Ausbreiten der Gewebenekrosen zu verhindern und somit auch die Schmerzsymptomatik zu beseitigen. Die Keimelimination erfolgt mechanisch und medikamentös. Der Einsatz von Antibiotika, zusätzlich zur mechanischen Reinigung der Zahnoberflächen, kann bei stark ausgeprägten nekrotisierenden Parodontalerkrankungen sinnvoll sein. Als gut wirksame Kombination für die systemische Gabe hat sich die kalkulierte Gabe von Amoxicillin plus Metronidazol erwiesen. Liegt eine Penizillinallergie vor, kann Amoxicillin durch Ciprofloxacin ersetzt werden.

Im Grenzfall ist trotz gastrointestinaler Nebenwirkungen und Sensibilisierungsgefahr eine systemische Darreichungsform gegenüber einer lokalen Antibiotika-Applikation vorzuziehen. Hintergrund ist, dass systemisch verabreichte Medikamente nicht nur die Bakterien in der Zahnfleischtasche, sondern den gesamten Mund-Rachen-Raum erfassen. Somit ist mit einem besseren therapeutischen Effekt zu rechnen.

Eine alleinige Antibiotikagabe ohne vorherige gründliche mechanische Entfernung des Biofilms ist kontraindiziert, da das Medikament durch die Biofilmbarriere nicht ausreichend wirken kann. Zudem besteht die Gefahr einer Resistenzbildung gegen das verschriebene Antibiotikum [Bechthold et al., 2012].

Um während der Antibiose den Patienten vor einer möglichen antibiotika-induzierten Superinfektion mit Candida zu schützen, sollte parallel das Antiseptikum Chlorhexidin-Mundspülung (0,2 Prozent) verabreicht werden [Harks et al., 2012]. Vor allem bei Patienten mit eingeschränkter Immunabwehr sollte die Gefahr einer derartigen opportunistischen Infektion – auch im Zuge der systemischen Antibiotikagabe – nicht unterschätzt werden. In diesen Fällen empfiehlt es sich, da eventuell zusätzlich Antimykotika verordnet werden müssen, die Antibiotikatherapie mit dem behandelnden Internisten abzusprechen, [Simon et al., 2008].

Unterstützend sollte ein gängiges Analgetikum (Paracetamol, Ibuprofen) verordnet werden. Die akuten Schmerzen klingen nach der Initialtherapie normalerweise schnell ab.

Dr. Ingo Buttchereit, PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, MA, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin RostockSchillingallee 35, 18055 Rostock E-mail:

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