Antibiotika in der Zahnmedizin
Die häufigsten unerwünschten Wirkungen einer Antibiotikatherapie sind Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö und andere gastrointestinale Störungen. Darüber hinaus werden insbesondere nach einer Behandlung mit Penicillinen oder Clindamycin häufig Hautreaktionen beobachtet. Dies spiegelt sich in der jährlichen Zusammenfassung der Nebenwirkungsmeldungen an die Arzneimittelkommission der Bundeszahnärztekammer wieder, die in dieser Zeitschrift regelmäßig publiziert wird. Im Gegensatz zu den Störungen des Magen-Darm-Trakts und zu den Veränderungen der Haut werden Nebenwirkungen von Antiinfektiva, die das Nervensystem betreffen, häufig übersehen oder fehlgedeutet.
Die unerwünschten neurotoxischen Wirkungen sind in den überwiegenden Fällen meist leicht und reversibel. Insbesondere leichte, unspezifische ZNS-Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Benommenheit werden häufig beobachtet. Diese Symptome können aber auch Zeichen der Grunderkrankung sein, oder sie haben noch andere Ursachen. Daher ist es in der Regel schwierig und im Einzelfall oft unmöglich, den Kausalzusammenhang mit der Medikation zu erkennen.
Neurotoxische Wirkungen von Antibiotika
Antiinfektiva
Neurotoxische Wirkungen
Mechanismus
Risikofaktoren
Penicilline
Encephalopathie. Krampfanfälle
Inhibition der GABAA-Rezeptoren
Niereninsuffizienz. ZNS-Erkrankung. höheres Lebensalter. hohe Dosierung
Cephalosporine
Encephalopathie. Krampfanfälle. NCSE (non convulsive status epilepticus)
Inhibition der GABAA-Freisetzung. Anstieg von Glutamat. Zytokin‧freisetzung
Niereninsuffizienz. Neugeborene mit Untergewicht
Chinolone
psychotische Reaktionen. Encephalopathie. Krampfanfälle. NCSE (non convulsive status epilepticus). Gesichtsdyskinesien. Ataxie etc.
Inhibition der GABAA-Rezeptoren. Aktivierung von NMDA-Rezeptoren
höheres Lebensalter. eingeschränkte Nierenfunktion. erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke
Metronidazol
Dysarthrie. Gangstörungen. Enzephalo‧pathie. Ataxie. Sehstörungen. Neuropathie
axonale Degeneration. cerebellare Veränderungen im MRT darstellbar
hohe Gesamtdosis. cave: gleich‧zeitige Therapie mit Dopaminagonisten (psychotische Reaktionen)
Makrolide
Kopfschmerzen. Benommenheit. psychotische Störungen. Verwirrtheit. Depression. Halluzinationen. Alpträume. Dysgeusie etc.. Ototoxizität
Mechanismus unbekannt. Cochlea-Schäden möglich
z. B. bei Clarithromycin deutliche Zunahme der Effekte bei höheren Dosierungen
Clindamycin
Paralyse (im Zusammenhang mit einer Narkose)
Mechanismus unklar. hypothetisch durch eine direkte Wirkung auf die Kontraktilität der Muskulatur bzw. neuromuskuläre Blockade
hohe Dosierung. Begleitmedikation (Analgetika. Muskelrelaxantien)
Tetrazykline
Effekte auf die Hirnnerven. vestibuläre Symptome (Schwindel). intrakranielle Hypertension (Pseudo‧tumor cerebri mit Kopfschmerzen. Übelkeit. Erbrechen und Papillenödem). neuromuskuläre Blockade
unbekannt
neurotoxische Wirkungen relativ häufig nach Minocyclin (lipophiler als Tetracyclin oder Doxycyclin)
Schwerwiegendere Wirkungen am ZNS sind zum Beispiel Krampfanfälle oder psychotische Reaktionen. Oftmals wird erst beim Absetzen des Antibiotikums und bei einem zeitnahen Rückgang der Symptome ein Kausalzusammenhang mit der Medikation deutlich. Für die Praxis ist es daher essenziell, einige Risikofaktoren zu kennen, die zu einer arzneimittelinduzierten ZNS-Reaktion beitragen können. Durch die Berücksichtigung solcher Faktoren kann die Therapie mit Antibiotika sicherer gemacht werden [Grill und Maganti, 2011].
β-Laktam- Antibiotika
Penicilline gehören in der zahnärztlichen Praxis zu den Standardantibiotika. Neurotoxische Effekte der Penicilline, Cephalosporine und anderer β-Laktam-Antibiotika sind seit Langem bekannt. Sie werden wahrscheinlich über das GABA-erge-System vermittelt. Die Hemmung des GABA
A
-Rezeptors führt zu exzitatorischen, epileptogenen Effekten. Da β-Laktam-Antibiotika nur ein geringes Verteilungsvolumen besitzen und kaum die Blut-Hirn-Schranke passieren können, muss vor allem bei Patienten mit gestörter Blut-Hirn-Schranken-Funktion – etwa bei Patienten mit Meningitis – mit einem erhöhten Risiko gerechnet werden.
Erregung, Angst, Schlaflosigkeit, Verwirrung, Verhaltensänderungen, Benommenheit, Schwindelgefühle und Dysästhesien wer-den in der Fachinformation für Amoxicillin-haltige Präparate als selten auftretende Nebenwirkungen aufgeführt. Von größter Bedeutung ist eine vorbestehende Niereninsuffizienz als Risikofaktor. Da die meisten β-Laktam-Antibiotika renal eliminiert werden, ist mit erhöhten Plasmakonzentrationen zu rechnen, wenn die Dosierung nicht entsprechend angepasst wird. Darüber hinaus kann durch die Urämie die Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigt sein. Urämietoxine können die Empfindlichkeit des Patienten für ZNS-Reaktionen steigern. Durch einen niedrigen Albumingehalt im Plasma kann die Konzentration des nicht gebundenen Anteils des Antibiotikums erhöht sein.
Chinolone
Auch bei den Chinolonen wird das ZNS-toxische Potenzial mit dem GABA-ergen-System in Verbindung gebracht. Darüber hinaus kann in vitro ein agonistischer Effekt am Glutamat- Rezeptor NMDA nachgewiesen werden. Das Spektrum der ZNS-Störungen, die unter einer Chinolontherapie auftreten können, reicht von leichten Reaktionen wie Kopfschmerzen, Benommenheit, Schwindel, Müdigkeit oder Schlaflosigkeit bis hin zu ernsten Zwischenfällen. Diese sind zwar sehr selten, doch wurden nach Therapie mit allen heute bekannten Fluorchinolonen psychotische Reaktionen mit Halluzinationen oder Depressionen bis hin zu Krampfanfällen beschrieben [Stahlmann und Lode, 2013]. Oftmals werden diese unerwünschten Wirkungen insbesondere bei älteren Menschen nach längerer antibiotischer Behandlung nicht als solche erkannt.
Sehr selten wurden Fälle von Polyneuropathie (beruhend auf beobachteten neurologischen Symptomen wie Schmerzen, Brennen, sensorische Störungen oder Muskelschwäche – allein oder in Kombination) bei Patienten, die mit einem Chinolon behandelt wurden, berichtet. Die Therapie sollte bei Patienten, die derartige Neuropathiesymptome entwickeln, abgebrochen werden, um der Entwicklung einer irreversiblen Schädigung vorzubeugen.
###more### ###title### Metronidazol ###title### ###more###
Metronidazol
Metronidazol findet in der zahnärztlichen Praxis vor allem in Kombination mit Amoxicillin Anwendung, um bei Mischinfektionen auch die anaeroben Bakterien zu erfassen. Es besitzt ebenfalls ein neurotoxisches Potenzial und kann sowohl Störungen des peripheren als auch Störungen des zentralen Nervensystems verursachen. Charakteristische Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel, Ataxie, Taubheitsgefühl oder Kribbeln in den Extremitäten und Krampfanfälle. Bei länger andauernder Therapie sind im MRT feststellbare reversible Hirnläsionen mit Symptomen wie Dysarthrie und Gangstörungen beobachtet worden [Bhattacharyya et al., 2016]. Dies wird eindrucksvoll demonstriert am Fall eines 58-jährigen Patienten, der in seiner Wohnung gestürzt war. Er war mehr als drei Wochen mit Metronidazol wegen einer C.-difficile-Infektion behandelt worden [Farmakiotis et al., 2016].
Die Dosisabhängigkeit dieser toxischen Symptome wird an einer weiteren Kasuistik deutlich: Ein 65-jähriger Patient wurde zunächst mit Metronidazol in einer täglichen Dosis von 2,0 g behandelt. Die Plasmakonzentrationen lagen bei 30 bis 40 mg/l. Nach drei Tagen kam es zu Verwirrtheit, Halluzinationen und Agitation. Die Symptomatik war nach Absetzen des Medikaments innerhalb von nur 48 Stunden reversibel. Derselbe Patient bekam einige Tage später Metronidazol in Tagesdosen von 0,5 g mit Plasmakonzentrationen im empfohlenen Konzentrationsbereich von 5 bis 15 mg/l ohne Verträglichkeitsprobleme [Schentag et al., 1982].
Makrolide
Die Verordnung des klassischen Makrolids, Erythromycin, ist stark zurückgegangen, da es heute neuere Derivate wie Clarithromycin oder Azithromycin gibt, die besser bioverfügbar sind und auch besser vertragen werden. Relativ häufig kann es bei einer Therapie mit diesen Makroliden zu Geschmacksstörungen (Dysgeusie) und Kopfschmerzen kommen, aber auch zu Schlaflosigkeit und Ängstlichkeit, in Einzelfällen wurden auch psychotische Störungen, Verwirrtheit und Alpträume beobachtet. Bei hoher Dosierung können unter einer Makrolid-Therapie ototoxische Symptome bis hin zu einem reversiblen Hörverlust auftreten.
Clindamycin
Die häufigsten Nebenwirkungen, die durch Clindamycin verursacht werden, betreffen den Gastrointestinaltrakt oder die Haut. Neurotoxische Wirkungen sind eher ungewöhnlich. Neuromuskuläre Blockaden sind allerdings beschrieben worden, die vor allem im Zusammenhang mit parenteraler Gabe im Rahmen einer Narkose aufgetreten sind. So führten Ärzte in Shanghai, China, den Atemstillstand einer Patientin auf eine Kombinationswirkung von Clindamycin mit Fentanyl zurück. Allerdings hatte die nur 37 kg wiegende Patientin mit 1,2 g Clindamycin eine sehr hohe Dosis erhalten [Wu et al., 2015].
In einem anderen Fall aus einer Klinik für Gesichtschirurgie im Staat New York wurde über eine Patientin berichtet, die fünf Stunden nach einem operativen Eingriff und etwa 20 Minuten nach der Injektion von 600 mg Clindamycin Lähmungssymptome entwickelte, die sich zunächst durch eine Ptosis, Sprachstörungen und Atmungsbeschwerden äußerten. Klinisch wurde eine neuromuskuläre Blockade festgestellt, die auf Gabe des Acetylcholinesteraseinhibitors Neostigmin ansprach. Da ein enger zeitlicher Zusammenhang mit der Injektion des Antibiotikums bestand, vermuten die Autoren einen Kausalzusammenhang [Best et al., 1999].
Tetrazykline
Aus der Gruppe der Tetrazyklin-Antibiotika wird heute praktisch nur noch Doxycyclin verwendet, das in der Zahnmedizin eine untergeordnete Rolle spielt. Laut Fachinfo kann es bei diesem Arzneimittel in seltenen Fällen zu einer intrakraniellen Drucksteigerung (Pseudotumor cerebri) kommen, die nach Beendigung der Therapie reversibel ist.
Diese äußert sich durch Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und möglicherweise durch eine Sehstörung durch ein Papillenödem. Parästhesien werden als weitere unerwünschte Reaktionen des Nervensystems genannt. Minocyclin ist ein weiteres lipophiles Tetracyclin. Da es aufgrund der höheren ZNS-Gängigkeit häufiger Schwindel, Übelkeit und auch Ataxie verursachen kann, wird es nur selten verordnet. Bei Frauen treten die Symptome häufiger auf. Dies könnte mit dem durchschnittlich geringeren Körpergewicht erklärt werden.
Fazit
Fast alle gängigen – auch zahnärztlich beziehungsweise kieferchirurgisch verordneten – Antibiotika können unerwünschte Wirkungen entfalten, die das zentrale oder das periphere Nervensystem betreffen. Neuropsychiatrische Grunderkrankungen, entsprechende Begleitmedikationen sowie eine Niereninsuffizienz bei renal eliminierten Antibiotika sind als Risikofaktoren anzusehen. Eine Beachtung dieser Gegebenheiten kann zu einer insgesamt besseren Verträglichkeit der Antibiotikatherapie beitragen.
Prof. Dr. med. Ralf StahlmannInstitut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité-Universitätsmedizin BerlinLuisenstr. 7, 10117 Berlin E-mail:Prof. Dr. med. Christoph SchindlerClinical Research Center Hannover, Medizinische Hochschule HannoverFeodor-Lynen-Str. 15, 30625 Hannover E-mail: