Der besondere Fall

Orbitaabszess mit dentogener Ursache

Eine 49-jährige Patientin droht das Augenlicht zu verlieren. Der vorliegende Fall demonstriert beispielhaft einen fulminanten Ausbreitungsweg eines dentogenen Abszesses des Unterkiefers.

Eine 49-jährige Patientin stellte sich mit einer seit etwa drei bis vier Tagen bestehenden, schmerzhaften Schwellung im Bereich der gesamten rechten Gesichtshälfte, überwiesen von den dermatologischen Kollegen im Hause, zum Ausschluss eines dentogenen Fokus bei Verdacht auf Erysipel der rechten Gesichtshälfte vor. Eine Schwellung des Ober- und des Unterlides bestand zu diesem Zeitpunkt nicht.

Bei der Patientin war die Mundöffnung auf eine Schneidekantendistanz (SKD) von 15 mm deutlich eingeschränkt. Schluckbeschwerden bestanden nicht. Zahnschmerzen haben – nach Angaben der Patientin – in den Tagen zuvor nicht bestanden.

Intraoral zeigte sich eine Schwellung mit begleitender Rötung und Spontanperforation lingual des Zahnes 47. Der Zahn 47 war nicht perkussionsempfindlich und wies eine Lockerung I.-Grades auf. Die Vitalitätsprobe des Zahnes 47 mit Kältespray war negativ. Die Sondierungstiefen des Zahnes 47 betrugen 7 mm vestibulär, 8 mm lingual, 7 mm mesial und 8 mm distal. Der Mundboden war palpatorisch nicht angehoben und der Unterkieferrand vollständig durchtastbar. Sensomotorisch bestanden keine Auffälligkeiten. Ein Trauma war nach Angaben der Patientin nicht erinnerbar.

Das angefertigte Orthopantomogramm (OPG) zeigte ein prothetisch und konservierend versorgtes Restgebiss. Der Zahn 47 wies eine schüsselförmige Osteolyse auf. Weiterhin war eine generalisierte parodontale Schädigung des Gebisses mit horizontalem Knochenabbau auffällig. Es bestand ein vertikaler Knochenabbau mit Verbreiterung des Parodontalspaltes an den Zähnen 17, 13, 12, 22, 23, 24, 27, 37, 35, 34 und 46. Weiterhin zeigte sich eine vermehrte Sklerosierung im rechten Oberkiefer und im linken Unterkiefer (Abbildung 1).

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Behandlung

Zunächst erfolgte in Lokalanästhesie (mit Ultracain DS® 1:200 000, insgesamt 2 ml) eine Erweiterung der Spontanperforation mit einem Raspatorium über eine marginale, linguale Inzision mit gleichzeitiger Spreizung. Es trat massiv Pus aus und ein mikrobiologischer Abstrich wurde genommen. Der laborchemische Befund bei Aufnahme ergab eine Erhöhung der Entzündungsparameter: Leukozyten 14,9 G/l (Referenzwert: 3,9–10,2 G/l) sowie C-reaktives Protein 21,6 mg/l (Referenzwert: 5 mg/l). Das MRSA-Screening der Patientin war negativ.

Abschließend an die Eröffnung wurde eine Lasche in die Inzisionswunde eingelegt und mittels Naht (Vicryl 4–0) fixiert. Daraufhin wurde die Patientin zur Überwachung und intravenösen Antibiotikatherapie mit Unacid® 3 g 1–1–1 stationär aufgenommen. Am Folgetag persistierte die rechts- seitige Gesichtsschwellung. Zusätzlich war ein ausgeprägtes Ödem des Unter- und Oberlides der rechten Seite zu sehen.

Um eine retropharyngeale Ausbreitung des Abszesses auszuschließen, wurde eine CT-Aufnahme mit Kontrastmittel durchgeführt. Die CT-Aufnahme zeigte keine retropharyngeale Ausbreitung des Abszesses. Im CT konnte der vertikale, parodonatale Knochenabbau bestätigt werden, weswegen zunächst von zwei unabhängigen Entzündungsursachen ausgegangen wurde. Als Ursache für die Zunahme der rechtsseitigen Gesichtsschwellung und das Ober- und Unterlidödem wurde ein Fossa canina- Abszess mit Causa 13 gesehen. Aufgrund dieser zusätzlichen Diagnose wurde die intraorale Inzision mit Drainageeinlage des Fossa canina-Abszesses innerhalb der nächsten zwei Stunden geplant.

Bevor die intraorale Abszessinzision durchgeführt werden konnte, verschlechterte sich das klinische Beschwerdebild der Patientin jedoch deutlich. Es zeigte sich eine zunehmende Schwellung des rechten Auges. Die Patientin klagte zudem über Schmerzen im Bereich des rechten Auges, ein verschwommenes Sehen des rechten Auges und Doppelbilder. Die Patientin wurde daraufhin umgehend den augenärztlichen Kollegen im Hause konsiliarisch vorgestellt.

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Augenärztlicher Befund

Der augenärztliche Befund ergab:

  • Visus des rechten Auges 0,25

  • Visus des linken Auges 0,8

  • Pupillen anisokor

  • direkte und indirekte Pupillenreaktion intakt

  • Relativer afferenter Pupillendefekt (RAPD) gering rechts

  • Exophthalmus rechts

  • Schwellung des Oberlides und Unterlides rechtsseitig

  • Bindehaut sehr chemotisch

  • Motilität des rechten Auges eingeschränkt

  • Doppelbilder

Weiterhin empfahlen die Kollegen eine sofortige MRT-Diagnostik des rechten Auges. Die Magnetresonanztomographie (MRT) wurde mit Kontrastmittel (Gadovist) durchgeführt und ergab folgenden radiologischen Befund (siehe Abbildungen 2 und 3): „Nachweis einer abgekapselten Flüssigkeitsformation von lingual an den Corpus mandibulae rechts angrenzend. Die Verdichtung setzt sich entlang des Ramus mandibulae fort, im weiteren Verlauf zwischen dem Ansatz des M. temporalis und der lateralen Wand des Sinus maxillaris rechts und endet in der Orbita.

Zusätzlich bestand ein Exophthalmus des rechten Bulbus. Auch zeigte sich ein breitbasiger Kontakt zum verdickten M. rectus oculi lateral und inferior rechts. Die Formation setzte sich bis zur Orbitaspitze fort, hier bestand Kontakt zum N. opticus. Ebenso konnte eine reaktive Verdickung des M. temporalis rechts beobachtet werden sowie eine Weichteilschwellung rechts bukkal mit subkutaner Verdichtung.

Zusammenfassend zeigte der ophthalmologische Befund „einen Verdacht auf Abszess von medial angrenzend an der Mandibula rechts, der sich über die Fissura orbitalis inferior in die rechte Orbita fortsetzt.“ Eine zusätzliche Blutuntersuchung zeigte im Gegensatz zu der klinischen Symptomatik eine eher rückläufige laborchemische Entzündungsparameter: Hier waren die Leukozyten 13.4 G/l (Referenzwert: 3,9–10,2 G/l), sowie das C-reaktive Protein 59,5 mg/l (Referenzwert: 5 mg/l). Aufgrund der klinischen Symptomatik und des radiologischen Befundes erfolgte eine notfallmäßige Entlastung des orbitalen Abszessgeschehens in Allgemeinanästhesie. Als Zugangsweg wurde eine subziliäre Schnittführung gewählt. Es erfolgte die Präparation des M. orbicularis oculi mit Darstellung des Infraorbitalrandes und des Septum orbitale. Der Prozess war im MRT eindeutig kaudo-lateral in der Orbita mit direktem Bezug zum M. rectus lateralis lokalisiert. Es folgte die Präparation des Septum orbitale mit intraorbitalem Fettgewebe unter spreizenden Bewegungen mit einer Schere. Nach einer Präparationstiefe von etwa zwei bis 2,5 Zentimetern entleerte sich spontan massiv Pus (Abbildungen 4 und 5). Es erfolgte eine Abstrichentnahme, die Abszesshöhle wurde gespült, und es wurde eine Drainage in die Abszesshöhle eingelegt, welche mit einer Naht fixiert wurde. Eine Nahtadaptation des Zugangsweges wurde nicht vorgenommen.

Aufgrund der Kausalität und des parodontalen Zustandes erfolgte zusätzlich die einfache Extraktion des Zahnes 47 und die Erweiterung der in Lokalanästhesie am Aufnahmetag durchgeführten Abszessinzision in Regio 47. Die Inzision wurde mittels eines Raspatoriums nach pterygo-mandibulär erweitert. Auch hier entleerte sich erneut massiv Pus.

Postoperativ kam es zu einer deutlichen Besserung der Schmerzsymptomatik und einer Verbesserung des Sehens. Den postoperativen klinischen Befund zeigt Abbildung 6. Das Kulturergebnis zeigte eine spärliche Anreicherung von Klebsiella oxytoca und Streptococcus spiridans (vergrünend). Der mikrobiologische Befund ergab zusätzlich eine Resistenz der Erreger auf Ampicillin/Sulbactam, Piperacillin, Erythromycin und Tetrazykline. Die Patientin wurde hieraufhin auf Cefuroxim® 500 mg 1–1–1 intravenös umgestellt.

Postoperativ korrelierten die laborchemischen Werte nicht mit der deutlichen klinischen Verbesserung. Am ersten Tag postoperativ betrug der Leukozytenwert 11,7 G/l (Referenzwert: 3,9–10,2 G/l) und das C-reaktive Protein 33,6 mg/l (Referenzwert: 5 mg/l). Die intraorbital eingelegte Drainage konnte bei weiterhin regredienter Schwellung und deutlicher Besserung des ophthalmologischen Befundes am dritten Tag entfernt werden. Die Patientin wurde vier Tage nach der Operation mit einem unauffälligen ophthalmologischen Befund in die ambulante Nachsorge entlassen.

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Diskussion

Die Gefahr einer lebensbedrohlichen Ausbreitung von dentogenen Infektionen als Logenabszess über die anatomische Kontinuität der Faszienräume ist durch eine moderne medizinische Versorgung und Antibiotikatherapie sehr selten geworden. Trotzdem wird immer wieder von Fällen berichtet, bei denen es zu fulminanten Verläufen kommt. Als mögliche lebensbedrohliche Logenausbreitungen sind beispielsweise Atemwegsobstruktionen, cerebrale Abszesse, Mediastinitis, nekrotisierende Mediastinitis, Perikarditis, Pleuraempyem und eine Thrombophlebitis der Vena jugularis interna zu nennen [Pinto et al, 2008; Sakamoto et al, 2000; Sobolewska et al, 1997; Wills, 1981].

Aber auch nicht direkt lebensbedrohliche Ausbreitungen können schwerwiegende Folgen haben. Als Beispiel sei hier eine Abszedierung in der Orbita genannt, die sowohl zu einem Verlust der Sehkraft des betroffenen Auges, als auch zu einer direkten Weiterleitung nach cerebral führen kann [Arunkumar et al, 2016; Bali et al, 2015]. Ein Abszess in der Orbita kann prinzipiell über lokale Gewebeebenen, über eine hämatologische Streuung und über die paranasalen Sinus fortgeleitet werden. Das Septum orbitale unterteilt diese Infektionen in prä- und postseptale Abszessgeschehen, wobei postseptale Abszesse schwerwiegende Komplikationen über eine weitere Ausbreitung nach zentral verursachen können [Bullock et al, 1985].

Die oben genannten Fälle erfordern alle eine sofortige chirurgische Intervention und eine systemische antimikrobielle Therapie, wobei eine frühzeitige Diagnose und eine chirurgische Therapie für das Outcome des Patienten von entscheidender Bedeutung sind.

Dentogene Infektionen können sich über die anatomisch zusammenhängenden Faszienräume als sogenannte Logenabszesse ausbreiten. Üblicherweise geschieht dies – der Schwerkraft folgend – nach kaudal. Der oben geschilderte Fall zeigt jedoch beispielhaft, dass auch eine Ausbreitung über knöcherne Fissuren als Passagen entgegen der Schwerkraft nach kranial möglich ist.

Auch ist die oben beschriebene Kasuistik von besonderer Beispielhaftigkeit, da sie aufgrund ihres klinischen Erscheinungs- bildes und ihrer Seltenheit besonders schwierig war, richtig diagnostiziert zu werden. Zunächst schien für den aufnehmenden Arzt eine intraorale Spontanperforation in Regio 47 mit massivem Pusabgang im Sinne eines Abszesses mit pterygo- mandibulärer Ausbreitungstendenz ursächlich für die Schwellung der rechten Gesichtshälfte. Als am zweiten Tag ein diagnostisches OPG durchgeführt wurde und die Schwellung persistierte und sogar eine Schwellung des Unter- und Oberlides hinzukam, konnte dies als Fossa canina-Abszess im Sinne eines zweiten Abszessgeschehens mit dem Zahn 13 als Ursache begründet werden. Lediglich die spontan einsetzenden Schmerzen im Bereich des rechten Auges mit einem Exophthalmus und ophthalmologischer Symptomatik konnten nicht mit einem Fossa canina-Abszess erklärt werden.

Der Auffassungsgabe des diensthabenden Arztes ist es zu verdanken, dass unverzüglich die korrekten diagnostischen und therapeutischen Mittel eingeleitet wurden. Nur so konnte die korrekte Diagnose eines rechtsseitigen Abszesses der Orbita mit dentogener Ursache des Zahnes 47 und Ausbreitung entgegen der Schwerkraft nach kranial gestellt und somit das Augenlicht der Patientin gerettet werden.

Dr. Dr. Frank-Hendric Kretschmer, Dr. Dr. Christine MollKlinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum MarburgBaldingerstraße, 35043 Marburg, E-mail:Désirée SchwabPoliklinik für Zahnerhaltung, Zentrum der ZMK-Heilkunde (Carolinum), Universitätszahnklinik FrankfurtTheodor-Stern-Kai 7, 60596 Frankfurt a.M.

Eleftherios Giallouros,Klinik für Augenheilkunde, Universitätsklinikum MarburgBaldingerstraße, 35043 Marburg

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