All American Smile
Alles beginnt mit der vergeblichen Suche nach einem Zahnarzt: Deamontes Mutter suchte verzweifelt nach einem Zahnarzt für Deamontes jüngeren Bruder DaShawn. Der Zehnjährige litt unter starken Schmerzen – aber anders als sein großer Bruder litt er nicht leise. Keiner der Jungen war jemals von einem Zahnarzt routinemäßig untersucht worden, denn Routinebesuche werden von dem Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid nicht abgedeckt. Unter Mithilfe einer Anwältin und mehrerer Unterstützer aus dem Gesundheitsbereich fand Alyce Driver schließlich einen Behandler, der Medicaid unterstützt und DaShawn einige Monate später in Augenschein nehmen wollte. Dann musste plötzlich Deamonte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Zahnextraktion und Gehirn-OP kamen für ihn zu spät.
Das war 2007 und die renommierte Medizinjournalistin Mary Otto recherchierte den Fall für die Washington Post. Jetzt hat Otto die Geschichte von Deamonte Driver zum Anlass genommen, um die Zusammenhänge von Mundgesundheit und sozialer Ungleichheit in den USA zu analysieren. „Teeth. The Story of Beauty, Inequality, and the Struggle for Oral Health in America“ heißt ihr Buch, das bislang nur auf Englisch erschienen ist. Es zeigt, dass der Tod eines Zwölfjährigen auch Folge eines Systems ist, in dem Zahngesundheit Privatsache und nicht Teil einer allgemeinen Gesundheitsversorgung ist, in dem Zahnmedizin und Allgemeinmedizin komplett voneinander abgekoppelt sind und in dem zwischen Zahnarzt und armem(!) Patient ein schwer zu überwindender Graben verläuft.
49 Millionen ohne Zugang zur Grundversorgung
Denn das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid, das in solchen Fällen eigentlich greifen sollte, ist überbürokratisiert und unterversorgt. Viele Zahnärzte nehmen keine Patienten an, die über Medicaid kommen – aus verschiedenen Gründen: Die Abrechnung wird als kompliziert und frustrierend empfunden, die Behandlung bringt auch weniger ein als bei einem Privatzahler. Medicaid-Patienten sind in der Regel alles andere als „Wunschpatienten“. Sie verfügen über wenig Einkommen, darunter viele Kinder, alte Menschen und solche mit Behinderungen – Gruppen, die weniger mobil und flexibel sind als andere.
Die Verbindung zwischen Krankheit und Armut hat eine lange Geschichte – etwa der Pathologe Rudolf Virchow hat im 19. Jahrhundert eindringlich darauf hingewiesen. Otto aber hat ihre Zahlen – erschreckende Zahlen – im heutigen Amerika gesammelt. Laut einer Datenerhebung der HRSA (Health Resources & Services Administration) von 2016 haben 49 Millionen US-Amerikaner keinen Zugang zu einer zahnmedizinischen Grundversorgung. Das betrifft ein Drittel aller weißen Kinder, bei schwarzen Kindern – wie Deamonte Driver – oder Latino-Kindern ist es fast die Hälfte. Das Ausmaß dieser Gesundheitskrise beschrieb David Satcher, ehemaliger oberster Sanitätsinspekteur der Vereinigten Staaten, als „stille Epidemie“. Für Millionen von Kindern und Erwachsenen sind Zahnschmerzen ein Dauerzustand. Viele von ihnen vermeiden es zu lächeln, weil sie sich für ihre Zähne schämen.
Ein vollständiges Lächeln aber wird auf dem Arbeitsmarkt, und nicht nur in Serviceberufen, erwartet. So wird fehlende Zahngesundheit nicht nur zum sozialen Stigma, sie kann auch die ökonomische Sicherheit bedrohen. Wer stellt einen Kellner, eine Empfangskraft, eine Verkäuferin mit braunen Stummeln im Mund ein?
Wer stellt einen Kellner mit Stummeln im Mund ein?
Mehr als eine Million Menschen suchen jährlich mit akuten Zahnschmerzen eine Notaufnahme auf, erhalten dort Schmerzmittel und Antibiotika. Die meisten von ihnen haben keinen Zahnarzt, der sie versorgen könnte. Und in der Notaufnahme arbeiten selten Zahnärzte. Otto lässt in ihrem Buch Menschen zu Wort kommen, die sich selbst Zähne gezogen haben, behelfsmäßig narkotisiert mit Alkohol. Und solche, die sich in ihr vermeintliches Schicksal fügen und gegen die Schmerzen nur noch beten.
Otto bgleitete auch einen Hilfseinsatz der Freiwilligen-Initiative RAM (Remote Area Medical). RAM wurde 1985 gegründet, um ärztliche Versorgung in krisengeschüttelte Weltregionen zu bringen. Inzwischen kämpfen die Behandler auch gegen die Krise vor der eigenen Haustür und reisen mit ihren mobilen Einheiten in strukturschwache Gegenden der USA. Dort ziehen sie an einem Wochenende Hunderte, manchmal Tausende Zähne. Am anderen Ende des sozialen Spektrums stehen die finanzstarken Kunden der kosmetischen Zahnmedizin. Nicht umsonst ist das „All American Smile“, das strahlend weiße Lächeln, zur weltweiten Marke geworden – auch der aktuelle Präsident trägt es.
110 Milliarden Dollar setzt die US-Dentalindustrie im Jahr um. Über 1 Milliarde geben US-Bürger jährlich für Bleaching-Produkte aus. Ob Veneers für 1.000 Dollar das Stück, begradigende Spangen, Zahnfleischkorrekturen oder Botoxinjektionen – seit den 1980er-Jahren hat sich die US-Zahnmedizin zunehmend der Schönheitsindustrie geöffnet.
In ihrem Buch stellt Otto der Geschichte von Deamonte Driver ein anderes Extrem aus demselben Bundesstaat entgegen. Mame Adjei wurde 2015 zur Miss Maryland gekürt. Die ghanaisch-amerikanische Studentin hatte, wie es sich für eine Schönheitskönigin gehört, ihr Lächeln trainiert, um es möglichst lange halten zu können. Sie besaß natürlich schöne Zähne. Nach ihrem Sieg sorgten sogenannte „Smile Sponsoren“ dafür, dass Adjeis Zähne für die kommenden, landes- und weltweiten Wettbewerbe der Miss USA und der Miss Universum noch perfekter gerüstet waren – mit Bleaching, einer Laser-Zahnfleischkorrektur und Zahnspangen, die der jungen Frau Kopfweh bereiteten. „Ich bin zu einem Kunstprojekt geworden“, sagte Adjei der Journalistin. Im Nachhinein hätte sie gern die ganz individuelle Optik ihrer eigenen Zähne behalten.
Ohne Veneers für die „Social Six“ geht es nicht
Die Fetischisierung des „American Smile“ hat ihren Ursprung im Hollywoodkino der 1930er-Jahre – und ein Zahnarzt war daran nicht unbeteiligt. Charles Pincus ging gern ins Kino. Dort sah der junge kalifornische Zahnarzt Schauspieler wie James Dean, dessen Zähne auf der großen Leinwand keinen besonders guten Eindruck machten – Dean war ein Farmersjunge mit einigen Lücken im Gebiss. Bald arbeitete Pincus mit den Filmstudios zusammen und sorgte für ein makelloses Lächeln von Stars wie Judy Garland, Montgomery Clift, Mae West oder Shirley Temple. Aus einer Mixtur aus pulverisiertem Plastik und Porzellan formte er aufsetzbare Schalen für die Zähne der Darsteller. So wurde Pincus zu einem der Väter der Veneers. Und Kinderstar Shirley Temple hat niemals ihre Milchzähne verloren – jedenfalls nicht im Kino. Sie trug immer das gleiche Set kleiner, strahlender Perlen im Mund. Heute gelten die sechs Frontzähne in den USA als „The Social Six“ – ein Set Veneers signalisiert den sozialen Status und markiert Erfolg.
Otto schaut aber nicht nur nach Hollywood, um die Gegenwart Amerikas zu verstehen: Sie wirft immer wieder Schlaglichter auf die gesamte Geschichte der Zahnmedizin in den USA. Denn die heutige „Zahngesundheitskrise“ – so ihre These – wurzelt in der strikten Trennung von Zahnheilkunde und Allgemeinmedizin. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich Chapin Harris, der heute als einer der Gründerväter der US-amerikanischen Zahnmedizin gilt, dafür ein, dass an der medizinischen Fakultät der Universität von Maryland in Baltimore auch ein zahnmedizinischer Studiengang etabliert wird. Doch die Allgemeinmediziner lehnten ab. Sie hielten die Zahnheilkunde für ein rein mechanisches Handwerk, das vom Rest des Körpers abgekoppelt ist.
Darauf gründeten Harris und Mitstreiter 1840 das Baltimore College of Dental Surgery, um dort professionell Zahnärzte auszubilden – heute die weltälteste zahnärztliche Hochschule. Im ersten Jahrgang gab es fünf Studenten, die bei den Professoren zu Hause unterrichtet wurden.
Die Abgrenzung zur Allgemeinmedizin blieb bis heute in der Ausbildung genauso bestehen wie in den Abrechnungs- und Versicherungssystemen. Programme des staatlichen Gesundheitswesens lassen Mundgesundheit in der Regel außen vor. Das beförderte die Entwicklung hin zu einer in weiten Teilen privatisierten Zahnmedizin – exklusiv für zahlungskräftige Patienten.
Prophylaxe ist hier Propaganda
Gleichzeitig haben Standesorganisationen wie die ADA (American Dental Association) ihre professionelle Autonomie durch die Jahrzehnte hartnäckig verteidigt, zum Beispiel gegen die Zahnhygienikerinnen – auch das zeigt Otto. Zahnarzt Alfred Fones gründete 1913 die erste Schule für Zahnhygiene; seine Arzthelferin und Cousine Irene Newman wurde zur ersten Dentalhygienikerin der Welt. Fones war davon überzeugt, dass Dentalhygienikerinnen in Arztpraxen und vor allem in Schulen wertvolle Prophylaxearbeit leisten könnten.
Doch nach ersten Erfolgen im Präventionsbereich schlug nach dem Zweiten Weltkrieg die öffentliche Stimmung um, Ängste vor Kommunismus, Sozialismus und Staatsmedizin griffen um sich. Oralhygiene sei „Propaganda“, sagten die Konservativen, dementsprechende Gesundheitsprogramme wurden wieder eingestampft.
Das gesellschaftliche Klima bekam auch Max Schoen zu spüren. Der New Yorker Zahnarzt glaubte an Präventionsarbeit, besonders für gesellschaftlich Schwache, er führte auf Gewerkschaftsebene eine allgemeine Versicherung für zahnärztliche Leistungen ein und kämpfte zudem gegen die Rassentrennung. All das brachte Schoen ein Verhör vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ (House Committee on Un-American Activities, HCUA) ein, das zu Beginn des Kalten Krieges permanent auf der Suche nach vermeintlichen Kommunisten war. Die Angst vor „Staatsmedizin“ und „Sozialismus“ prägt noch heute das US-Gesundheitssystem, wie der lautstarke Widerstand gegen Obamacare gezeigt hat.
Auch die Standespolitik setzte immer wieder alles daran, sozial engagierte Programme gegen den Gesundheitsnotstand zu kritisieren oder zu vereiteln. Als Präsident Lyndon B. Johnson für eine allgemeine Gesundheitsversorgung warb, war die ADA nicht begeistert – gleiches galt später bei Obamacare. Nach der Einführung von Medicaid 1965 warnten Zahnärzte vor einem sozialistischen Staat. Die Standesorgane haben regelmäßig verhindert, dass eigenständig arbeitende Dentalhygienikerinnen an Schulen und in Altersheimen eingesetzt werden. Begründung: Es bestehe kein Mangel an Zahnärzten, der Markt brauche keine zusätzlichen Gesundheitsanbieter. Wenn stattdessen der Staat die Behandlung von Medicaid-Patienten besser entlohnen würde, dann würden sich auch mehr Zahnärzte in ärmeren Regionen niederlassen.
Keine Macht den Dentalhygienikerinnen
Der zähe Kampf, gesundheitliche Versorgung günstiger und flächendeckender zu jenen zu bringen, die unterversorgt sind, zieht sich bis in die Gegenwart. Otto nennt stellvertretend das Beispiel von Tammi Byrd. Die Dentalhygienikerin aus South Carolina, wo rund eine Viertelmillion Kinder aus ländlichen Gegenden keinerlei zahnmedizinische Versorgung erhalten, wollte kostenlose Prophylaxe für Schulkinder anbieten, abgerechnet über Medicaid. Doch die ADA stellte sich dagegen. Auf Byrds Initiative hin wurde schließlich im Jahr 2000 das Gesetz, wonach vor jeder zahnhygienischen Begutachtung immer zuerst ein Zahnarzt die Patienten untersuchen muss, fallen gelassen. Inzwischen werden in manchen Bundesstaaten Dentalhygienikerinnen darin ausgebildet, weitere Aufgaben der Zahnbehandlung zu übernehmen, um den Notstand zu bekämpfen.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist das Modell der „Dentaltherapisten“, das etwa in Alaska, Minnesota, Maine und Vermont erprobt wird. Auch die dental therapists dürfen gesundheitliche Aufklärung an Schulen betreiben, präventiv und behandelnd tätig werden. Auch gegen ihre Einsätze wurde von Standesorganisationen geklagt. Gleichzeitig gaben in einer Studie von 2013 nur 35 Prozent der Zahnarztpraxen an, Patienten zu behandeln, die auf soziale Hilfen angewiesen sind. Wie schwierig es sein kann, im Akutfall eine dieser Praxen in der Nähe zu finden, hat der Fall von Deamonte Driver gezeigt.
Otto weist auch auf den gewaltigen Berg Schulden hin, den ein Student der Zahnmedizin in den USA anhäuft, bevor er überhaupt praktizieren darf. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die meisten Praxen in wohlhabenderen Gegenden ansiedeln und entsprechende Kundschaft bevorzugen. Otto zitiert den Marketing-Guru Robert Levin, der in seinen Seminaren sogar vor Medicaid-Patienten warnt: Sie würden Termine versäumen, im Wartezimmer herumlungern und klauen, was nicht niet- und nagelfest ist.
Die Krise ist wie eine „stille Epidemie“
Es geht ein Riss durch die USA. Im 18. Jahrhundert waren von Karies zerfressene Zähne noch ein Merkmal der Reichen, nur sie konnten sich Süßigkeiten leisten. Damals nahm der Anatom und Chirurg John Hunter Zahntransplantationen von Arm zu Reich vor, mittellose Spender standen Schlange, um ihre Zähne zu verkaufen. Heute bilden sich lange Schlangen, wenn Hilfsprojekte kostenlose Behandlungen für die sozial Abgehängten anbieten. Deamonte Drivers Tod hat einige Reformen angestoßen, wirklich nachhaltige Veränderungen des Systems wird es unter Präsident Trump wohl aber nicht geben. Kürzlich starb ein Sechsjähriger an den Folgen eines entzündeten Zahnes.
Mit ihrer gut recherchierten, fesselnd geschriebenen Reise durch die Geschichte der US-Zahnmedizin zeigt Mary Otto, wie schwer es sein wird, die „stille Epidemie“ zu beenden.
Sonja Schultz
Die Journalistin Mary Otto hat für die Washington Post gearbeitet, wo sie soziale Themen wie Gesundheit und Armut abdeckte. 2010 erhielt sie den „Gies Award“ für ihre Berichterstattung über die Zahnpflege der Armen. Ihr Buch„Teeth. The Story of Beauty, Inequality, and the Struggle for Oral Health in America“ist im März 2017 in den USA bei The New Press erschienen.
Teeth
Ein Buch, das Wellen schlägt
Welche heftigen Reaktionen Ottos Werk „Teeth“ in den USA hervorgerufen hat:
„Etwa 114 Millionen Menschen sind in den USA ohne zahnmedizinische Versorgung, etwa die Hälfte der Kinder haben 2012 über Medicaid keinen einzigen zahnärztlichen Termin erhalten. Wir könnten ein System schaffen, dass Behandlungen universell, also statt auf Grundlage finanzieller Mittel auf Basis gesundheitlicher Bedürfnisse erfolgen. Aber das tun wir nicht. Otto zeichnet die Geschichte der modernen Zahnmedizin von den chirurgischen Experimenten des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung der ersten US-amerikanischen zahnmedizinischen Schule im Jahr 1840 nach – und erklärt, wie die USA stattdessen ein ‘sorgfältig bewachtes, weitgehend privates System‘ entwickelten, das ‘enorm schwer für diejenigen ohne Mobilität oder Geld zu erreichen ist‘. Der Zustand unserer Zähne, argumentiert sie, offenbart und verstärkt die großen Ungleichheiten unserer Gesellschaft.“
Adam Gaffney, The Devastating Effects of Dental Inequality in America (Die verheerende Wirkung dentaler Ungleichheit in Amerika), 25. Mai 2017 in The Republic
„Dies ist die Prämisse, wenn auch von Otto nicht so unverblümt formuliert: Die Trennlinie zwischen den Schichten könnte am stärksten sichtbar sein zwischen denen, die Tausende von Dollar für ein schimmerndes Lächeln ausgeben, und denen, die leiden oder sogar sterben an vermeidbarer Karies.“
Sarah Jaffe, The Tooth Divide: Beauty, Class and the Story of Dentistry (Die Zahnspaltung: Schönheit, Klasse und die Geschichte der Zahnheilkunde), 23. März in The New York Times
„Im Jahr 2007 geriet Marylands Medicaid-Dental-Care-Programm unter Beschuss, nachdem in Prinz George‘s County ein Junge an einer unbehandelten Zahninfektion starb. Fünf Jahre später wird dasselbe System, das den Zwölfjährigen Deamonte Driver fallen ließ, als eines der besten der Nation angepriesen.“
Katherine Driessen, 5 years after boy dies from toothache, Maryland Medicaid dental care is on mend (5 Jahre nachdem ein Junge an Zahnschmerzen stirbt, ist Marylands Medicaid-Zahnprogramm auf dem Weg der Besserung), 15. Februar 2012 in The Washington Post
Statement Dr. Henner Bunke
„In den USA sind schiefe Zähne in der Oberschicht eher nicht akzeptiert“
Traditionell leben viele Menschen in den USA ohne zahnmedizinische Versicherung, was schon immer zu Versorgungsproblemen, insbesondere bei der ärmeren Bevölkerungsschicht geführt hat. Das hat zur Folge, dass ein großer Teil der Bevölkerung zahnmedizinische Leistungen nur gegen Bezahlung erhält. Individuelle Selbstverantwortung wird in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten anders beurteilt als in Europa.
Die Einzelleistungsvergütung für zahnmedizinische Leistungen liegt in den USA schon lange deutlich oberhalb der deutschen Vergütungsbepreisung. Zahnärzte praktizieren in der Regel als Privatzahnärzte, die Medicaid-Patienten annehmen können oder auch nicht. Da aber bei diesen Programmen die Bürokratie hoch ist und die Bezahlung nur bei rund 50 Prozent der Privatpreise liegt, gibt es Gegenden, in denen Medicaid-Patienten wohnortnah keinen Behandler finden. Es gibt in den USA keinen Sicherstellungsauftrag, den eine zahnärztliche Selbstverwaltung organisiert.
Prävention wird in den USA durch über 50 Jahre Trinkwasserfluoridierung und Individualprophylaxe in Zahnarztpraxen organisiert, der Stand der Gruppenprophylaxe entzieht sich meiner Kenntnis. Das „Milken Institute of Public Health“ hat dokumentiert, dass zwischen 2000 und 2012 der Anstieg von präventiven zahnärztlichen Behandlungen bei Medicaid-Patienten in der Altersgruppe 0 bis 20 Jahre von 29 auf 48 Prozent zugenommen hat.
Ästhetische Zahnmedizin in Form von generellem Bleaching und „white restorations“ ist in den USA schon zeitlich früher und stärker ausgeprägt gewesen als in Deutschland. In dem Artikel wird von Investitionen von 1 Milliarde Dollar gesprochen – bei Gesamtausgaben von über 100 Milliarden Dollar. Das sind unter ein Prozent der Gesamtausgaben!
Die Kosten eines Zahnmedizin-/Medizinstudiums sind sehr hoch, Schuldenstände in deutlich sechsstelliger Höhe am Ende der Ausbildung sind eher die Regel als die Ausnahme.
Der Bericht der Britin Hannah T.-P. (S. 46) ist sehr tendenziös, aber als langjähriger Beobachter der amerikanischen und der englischen zahnärztlichen Versorgung (zahlreiche Verwandte leben in England) kann ich einen gravierenden Unterschied in der Versorgung erkennen. Während in GB schiefe Zähne und Zahnlücken im sichtbaren Bereich in allen Schichten anzufinden sind, sind beide Attribute in den USA in der Mittel- und in der Oberschicht eher nicht akzeptiert und unüblich.
Henner Bunke
Doctor of Dental Medicine/Univ. of Florida/USA
Präsident der ZÄK Niedersachsen
Wie US-Zahnärzte die Lage beurteilen
„Es ist noch schlimmer als auf Haiti!“
„Viele meiner Patienten sind eingewandert und erhalten nicht die Vorsorge, die sie benötigen. Es gibt einfach viel zu viel tun. Es ist erschütternd.“
Janice in Boston, Massachusetts, angestellte Zahnärztin in einer Klinik
„Wenn Sie Probleme mit den Zähnen haben, gibt es keinen Versicherungsschutz. Ihre Zähne sind aber integraler Bestandteil ihrer Allgemeingesundheit – wir wissen das jetzt in der Medizin und in der Zahnheilkunde. Deshalb ist es eine Schande, das wir diese Diskussion führen.
Beth in Charlotte, North Carolina, Ärztin
„Es ist sogar noch viel schlimmer als auf Haiti. Auf Haiti sehe ich bei den Patienten vielleicht ein paar Zähne, die entfernt werden müssen. Aber hier im ländlichen Tennessee müssen alle Zähne extrahiert werden und die Menschen benötigen Vollprothesen.“
Eileen in Nashville, Tennessee, Zahnärztin im öffentlichen Gesundheitsdienst
Der Bostoner Newskanal 90.9 WBUR-FM rief im Juni 2017 Zahnärzte in den USA auf, die zahnärztliche Versorgung im Land zu kommentieren.
Statement PD Dr. Stefan Fickl
„Da war eine große Kluft zwischen Privatpraxis und Poliklinik“
Während meines Aufenthalts in New York von 2007–2009 durfte ich als Clinical Assistant Professor an der New York University Studenten und Postgraduierte im Bereich der Parodontologie und der Implantologie betreuen und konnte so – aus zahnmedizinischem Blickwinkel – einen guten Einblick in das amerikanische Gesundheitssystem bekommen.
Es existierte eine große Kluft zwischen dem, was ich bei meinem damaligen Chef, Dr. Dennis Tarnow, in seiner Privatpraxis gesehen habe, und dem, was ich in meiner täglichen Arbeit in der universitären Poliklinik mitbekommen habe: In der Praxis wurden hochwertige Behandlungen mit dem Fokus der Ästhetik für das Zwei- bis Dreifache des in Deutschland üblichen Preises abgerechnet. Ganz anders an der Universität: Hier standen die Patienten Schlange für einfachen Zahnersatz, denn viele sahen keinen anderen Ausweg, als von Studenten oder Postgraduierten für einen stark reduzierten Preis behandelt zu werden. Ein „Privatzahnarzt“ war vielen einfach zu teuer.
Doch auch die universitäre Gebühr – gerade im Bereich der Implantologie – stellte für viele eine große Hürde dar. So habe ich oft erlebt, dass Patienten versucht haben, ihre Implantatbehandlung über verschiedene Kreditkarten abzurechnen, weil das Kreditlimit der vorigen Karte überzogen war. Man mag diese Situation sicher damit begründen, dass es – wenigstens damals, vor Obamacare – keine verpflichtende Krankenversicherung gab. Auf der anderen Seite tickt der Amerikaner einfach anders. Auf die Frage, ob es es mit einer Krankenversicherung denn nicht besser wäre, antworteten mir viele: „Ich lasse mir doch nicht meine persönliche Freiheit durch eine ‘Zwangsversicherung‘ nehmen.“
PD Dr. Stefan Fickl
Abteilung für Parodontologie in der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Universitätsklinikum Würzburg
Pleicherwall 2, 97070 Würzburg
Als Britin in New York
Im Club der geraden Zähne
„Amerikas Zähne haben mich immer fasziniert. Als ich in den USA ankam, war ich im selben Maße fasziniert wie entnervt über das Ausmaß an Perfektion und Hingabe, mit der man sich hier um seine Zähne kümmert: Flossing, Begradigen, Bleaching, alle sechs Monate Check-ups – und alles mit einer Art religiösen Eifers.
Ich habe Freunde, die Kaffee mit Strohhalm trinken, um Flecken auf den Zähnen zu vermeiden.
Die Leute geben riesige Summen aus, um sicherzustellen, dass ihre Zähne denen ihrer Kollegen entsprechen. Ich weiß das, weil auch ich genau das getan habe.
Am Ende habe ich mich für meine absolut gesunden, aber mittelmäßigen NHS-Zähne geschämt. Ich konnte merken, wie die Leute sie anstarrten, während ich sprach, und fragte mich, warum sie nicht strahlend weiß waren, warum sie trotz jahrelanger Brackets – um meinen eigenen Zahnarzt zu zitieren – von einer perfekten Ausrichtung ‘weit entfernt‘ waren.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass in New York City meine Zähne für alles standen, was falsch war. Ich hatte das Glück, das ‘Problem‘ beheben zu können. Aber ich habe verstanden, dass eine besondere Art von Lächeln in diesem Land so viel mehr bedeutet als optische Vorzüge oder ein tolles Instagram-Spiel. Richtig gerade, weiße Zähne sind in Wirklichkeit eine starke soziale Währung. Sie sind ein Pass, ein ständig auf dem Display aufleuchtender Anhaltspunkt für Reichtum, Chancen und ein stabiles Zuhause, umgeben von Menschen, die es sich leisten können, für ihre Zähne in jeder Hinsicht zu sorgen.
Der Besitz dieses wertvollen Vermögens identifiziert Sie als präsentabel, würdig, ‘normal‘. Er öffnet Türen für attraktive Arbeitsplätze, Machtpositionen, nützliche Beziehungen und vieles mehr.
Reisen Sie in ärmere Teilen des Landes, finden Sie Menschen, die nachts im Auto vor einem Gemeinschaftszentrum campieren, mit unvorstellbaren Schmerzen, und die darauf warten, dass ihnen dort am nächsten Tag von ehrenamtlich tätigen Zahnärzten endlich der Zahn gezogen wird. Diese freiwilligen Feldzahnärzte sehen Tausende von Menschen in 48 Stunden, viele gelähmt von völlig vermeidbaren Schmerzen und Leiden.
Sie sehen: Es ist so schwierig und teuer, hier eine anständige Zahnversicherung zu bekommen – viele mit niedrigem Einkommen können sich das einfach nicht leisten.
Jetzt starrt mich mein eigener Beitrag in diesem Zyklus der Ungerechtigkeit an, sobald ich in den Spiegel schaue. Man kann das nicht rückgängig machen, aber ich bin ohnehin zu egoistisch, um so etwas zu tun – meine Mitgliedschaft im Club der geraden Zähne hat zu viele Vorteile in zu vieler Hinsicht. So funktioniert das.
Denken Sie darüber nach, wenn Sie das nächste Mal das amerikanische, gerade, weiße Grinsen bestaunen. Es repräsentiert mehr als nur ein schönes Lächeln.“
Diese Fassung ist eine gekürzte Übersetzung des Kommentars von Hannah Thomas-Peter auf Sky Views vom 25. Juni 2017. Thomas-Peter ist US-Correspondentin für Sky News.