Wenn Angst die Kontrolle übernimmt
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen – sie sind weiter verbreitet als Depressionen. In Europa leiden rund 60 Millionen Menschen an einer Angsterkrankung, in Deutschland sind es Schätzungen zufolge rund zwölf Millionen. Frauen sind deutlich häufiger betroffen. Angsterkrankungen und Depressionen können unter Umständen allerdings schwer voneinander abzugrenzen sein, und es kann durchaus zu Überlappungen kommen.
Angststörung
Menschen mit einer Angststörung haben vor Dingen oder Situationen Angst, die für andere völlig normal und keineswegs bedrohlich sind. Sie überschätzen Gefahren und es fehlt ihnen an adäquaten Bewältigungsstrategien.
Unbehandelt kann die Angststörung chronifizieren: Es kommt zur „Angst vor der Angst" und somit zu einer Erwartungsangst, die ihrerseits häufig zu einem Vermeidungsverhalten führt. Als Folge ziehen sich die Betroffenen oft immer mehr aus dem Leben zurück. Sie leiden häufig unter mangelndem Vertrauen in die eigene Stärke und unter dem Gefühl des Ausgeliefertseins, wie die Organisation „Neurologen und Psychiater im Netz“ mitteilt. Allerdings wird bei jedem Zweiten die Angsterkrankung nicht erkannt – und folglich nicht behandelt, berichtet die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Charakteristische Symptome einer Angsterkrankung sind neben den genannten Auffälligkeiten körperliche Veränderungen wie Übelkeit, Herzrasen, Atemnot, Kopf- und/oder Rückenschmerzen sowie Schlafstörungen. Die Symptomatik kann so ausgeprägt sein, dass die Betreffenden sich aus dem sozialen Leben weitgehend zurückziehen und möglicherweise zu Alkohol oder Drogen greifen, um ihre Angst zu bekämpfen.
Da es fließende Übergänge zwischen normalen und krankhaften Angstreaktionen gibt, ist es schwierig zu beantworten, ab wann Angst als Krankheit anzusehen ist. Eine manifeste Erkrankung liegt aber zweifelsfrei vor, wenn die Angst keine Schutzfunktion mehr besitzt, sondern zu einem eigenständigen Erleben wird, wenn sie das Leben des Betreffenden beherrscht, ihn in seiner normalen Lebensführung beeinträchtigt und er nicht mehr in der Lage ist, die Angst zu bewältigen.
Panik, Hitzewallungen und Atemnot
Panikstörung
Eine weit verbreitet Angsterkrankung sind Panikstörungen. Die Betroffenen werden von Panikattacken regelrecht „überfallen“. Diese gehen gemäß der Leitlinie zu Angsterkrankungen üblicherweise mit körperlichen Symptomen einher: Herzrasen, ein unregelmäßiger Herzschlag, Schwitzen, Zittern, Mundtrockenheit, Atemnot, Erstickungsgefühle, Schmerzen, Enge in der Brust, Übelkeit, Schwindel, Unsicherheit, ein Gefühl, dass Dinge unwirklich sind und wie im Traum erlebt werden oder dass man selbst „nicht richtig da“ ist, Hitzewallungen oder Kälteschauer, Taubheitsgefühle sowie Angst, die Kontrolle zu verlieren und „wahnsinnig” oder ohnmächtig zu werden, bis hin zur Todesangst.
Panikstörungen können durch bestimmte Situationen ausgelöst sein, wie zum Beispiel durch das Spüren des eigenen Herzschlags bei Anstrengungen. Sie können aber auch urplötzlich aus heiterem Himmel auftreten. Die Attacken können wenige Minuten oder im Extremfall einige Stunden anhalten. Oft leben die Betroffenen danach in ständiger Furcht vor der nächsten Attacke.
Frauen erkranken nach Angaben der „Neurologen und Psychiater im Netz“ zweimal häufiger als Männer an Panikstörungen. Etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung leiden daran. Die meisten Patienten entwickeln die Symptome zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr. Nach dem 45. Lebensjahr verlieren sich die Symptome oft.
Generalisierte Angststörung
Bei der generalisierten Angst treten die Symptome nicht anfallsartig auf wie bei Panikstörungen, sondern sind allgegenwärtig. Die Betroffenen leben in ständiger Anspannung und Furcht. Sie haben Angst, dass sie selbst oder dass Angehörige oder Freunde schwer erkranken, dass sich ein Unfall ereignet, dass sie verarmen oder dass eine Katastrophe eintreten könnte. Möglich ist auch, dass sie nicht konkret sagen können, wovor sie Angst haben.
Analog der Situation bei Panikstörungen kommt es in der Regel zu körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Zittern und Schwindel, aber auch zu Konzentrationsstörungen, zu großer Nervosität sowie zu Schlafstörungen.
Spezifische Phobien
Tiere wie etwa Katzen, Mäuse, Vögel, Spinnen oder allgemein Insekten können Auslöser spezifischer Phobien sein. Auch die weit verbreitete Höhenangst gehört in diese Kategorie, ebenso wie die Flugangst oder die krankhafte Angst vor einem Arztbesuch, vor dem Anblick von Blut oder Verletzungen sowie die Spritzenphobie. Auch hier sind Frauen deutlich häufiger als Männer betroffen.
Aus Sicht der Zahnmedizin
Pathologische Zahnbehandlungsangst
Das mulmige Gefühl in der Magengrube vor dem Zahnarztbesuch ist ein häufiges Symptom, hat aber keinen Krankheitswert. Daraus sollte keine Krankheit abgeleitet oder bescheinigt werden. Es ist keine Indikation für eine unkritische Verordnung einer Vollnarkose, sondern kann durch eine Vielzahl effektiver, vor allem verhaltenstherapeutischer Therapiemaßnahmen abgebaut und somit eine zahnmedizinische Behandlung möglich gemacht werden. Auch medikamentöse minimale Sedierungsmaßnahmen mit kurz wirksamen, vor allem anxiolytisch wirkenden Benzodiazepinen oder Lachgas sind Therapieoptionen.
Etwa 5 bis 15 Prozent der Erwachsenen leiden jedoch an pathologisch hoher Zahnbehandlungsangst. Rund drei Prozent meiden den Zahnarztbesuch vollständig. Die Betroffenen leiden an schweren zahnmedizinischen Folgeerkrankungen und deren psychosozialen Auswirkungen.
In vielen Fällen weisen Patienten mit einer Zahnbehandlungsphobie weitere psychische Störungen auf. Hierzu zählen vor allem posttraumatische Belastungsstörungen, andere Angsterkrankungen und/oder depressive Störungen. Häufig fallen die Patienten dadurch auf, dass sie im Sinne eines Vermeidungsverhaltens kurzfristig die Behandlungstermine absagen oder nicht erscheinen. Die überwiegende Zahl der Betroffenen entwickelte die Erkrankung als Folge von emotionalem oder körperlichem Missbrauch sowie von sexueller Gewalterfahrung in der Kindheit oder in der Jugend. Die sexuelle Gewalterfahrung scheint dabei ein ganz wesentlicher Risikofaktor für die Entstehung und Persistenz von Zahnbehandlungsangst zu sein.
Aufgrund der Komplexität der Störung bei diesen Patienten ist ein interdisziplinäres Vorgehen indiziert. Besteht seitens des Patienten die Bereitschaft, sich mit seiner psychischen Störung auseinanderzusetzen und liegt kein akuter Behandlungsbedarf vor, so ist eine Psychotherapie das geeignete Verfahren. Leider wird diese Option aber nicht von sehr vielen Patienten in Anspruch genommen.
Häufig ist der Behandlungsbedarf aufgrund des jahrelangen Vermeidungsverhaltens so ausgedehnt, dass für die zahnärztliche Gebisssanierung eine Vollnarkose erforderlich ist, oder es ist zu einem akuten entzündlichen Geschehen gekommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch die Vollnarkose die Angst nicht reduziert wird. Unter Umständen kann es aufgrund negativer Erfahrungen sogar zu einer Angstverstärkung im Hinblick auf die zahnärztliche Behandlung kommen. Die Differenzierung von Angst und Phobie ist daher im Hinblick auf Therapie und Prognose ganz wichtig.
Die sorgfältige und gezielte Anamnese gehört daher zur Basisdiagnostik. Der hierarchische Angstfragebogen (HAF) kann bei der Graduierung helfen, alternativ wird die Bewertung der Angst mithilfe einer visuellen Analogskala empfohlen.
Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer
Leitende Oberärztin der Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
daublaen@uni-mainz.de
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der Universität Rostock
Schillingallee 35, 18057 Rostock
Weiterführende Literatur:
Maria Lenk, Hendrik Berth, Peter Joraschky, Katja Petrowski, Kerstin Weidner, Christian Hannig: Zahnbehandlungsangst – ein unterschätztes Symptom bei psychischen Grunderkrankungen (Fear of dental treatment – an underrecognized symptom in people with impaired mental health)Dtsch Arztebl Int 2013; 110(31–32): 517–22; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0517
Ein Trauma, die Gene oder Umweltfaktoren?
Ursachen
Angststörungen entstehen nach derzeitiger Kenntnis auf dem Boden einer genetischen Prädisposition, die jedoch durch verschiedene Risiko-Gene geprägt wird. Als Auslöser der Angst fungieren epigenetische Faktoren, die ihrerseits durch Umweltfaktoren wie Stress oder belastende Lebensereignisse bedingt sein können. Es kann sich dabei auch um Erlebnisse in der Kindheit handeln wie der Tod eines Elternteils oder die Scheidung der Eltern.
Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf haben festgestellt, dass nicht unbedingt eigene traumatische Erlebnisse auslösend sind: Das Beobachten traumatischer Erlebnisse anderer reicht, um in der Folge Angst zu erleben. Angst kann damit regelrecht erlernt werden, ein Effekt, der offenbar durch endogene Opioide vermittelt wird. Evolutionsbiologisch macht das soziale Lernen von Ängsten durchaus Sinn: Wer in der Lage ist, aus den schmerzhaften Erfahrungen anderer zu lernen, ist für künftige Bedrohungen besser gewappnet, ohne zuvor selbst diese schmerzhaften Erfahrungen machen zu müssen, erklärt der Hamburger Neurowissenschaftler Dr. Jan Haaker.
Diagnostik
Angsterkrankungen werden oftmals als solche nicht wahrgenommen und durch das Auftreten somatischer Symptome fehlgedeutet. Da die Angststörung objektiv oft schwer zu fassen ist, spielt die Differenzialdiagnostik eine wichtige Rolle. Den Leitlinien entsprechend sind vor allem Lungenerkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen auszuschließen, ebenso neurologische Erkrankungen, Tumore sowie endokrine Störungen. Gegebenenfalls müssen weitere Krankheitsbilder in Betracht gezogen und abgeklärt werden, zum Beispiel eine periphere Vestibularisstörung und ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel.
Therapien
Wegweisende Schritte sind das Eingeständnis der Angsterkrankung und die Bereitschaft, medizinische Hilfe anzunehmen. Eine eindeutige Behandlungsindikation besteht den Leitlinien der Fachgesellschaft zufolge bei mittlerem bis schwerem Leidensdruck des Patienten, wenn die Gedanken ständig um die Angst kreisen, sowie bei psychosozialen Einschränkungen und möglichen Komplikationen wie einer Chronifizierung und der Entwicklung einer Suchterkrankung.
Als Behandlungsziele werden konkret genannt:
Besserung der Angstsymptome
Minderung des Vermeidungsverhaltens
Reduktion der Rezidivgefahr
Besserung der Bewegungseinschränkungen
Besserung der sozialen Integration
Wiederherstellung der berufliche Leistungsfähigkeit
Besserung der Lebensqualität
Die möglichen Behandlungsmaßnahmen reichen von Entspannungsverfahren wie der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga und Autogenem Training über psychotherapeutische Verfahren (kognitive Verhaltenstherapie) bis zur Behandlung mit Psychopharmaka.
Außerdem können allgemeine Maßnahmen wie regelmäßige sportliche Betätigung Angststörungen mindern und die Effekte einer Psycho- oder Pharmakotherapie unterstützen. Die Patienten und die Angehörigen können zudem in Selbsthilfe- und Angehörigengruppen Unterstützung erhalten.
Weitere Informationen und Quellen
S3-Leitlinie „Behandlung von Angststörungen“: www.awmf.de
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): www.dgppn.de
Neurologen und Psychiater im Netz: www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org