Behandelt wird nur noch in Gegenwart einer weiteren Assistenz!
Wurden Sie schon einmal mit aggressivem Verhalten von Ihren Patienten konfrontiert? zm-online hat im Mai dieses Jahres nachgefragt. Hintergrund ist eine bundesweite Studie aus der hervorgeht, dass 73 Prozent von 831 Hausärzten innerhalb eines Jahres Aggressionen in der Praxis erlebten. Trifft das auch für Zahnärzte zu, fragte die Redaktion. Mit diesem „Erlebnisbericht“ haben wir nicht gerechnet.
Sie baten um eventuelle Gewalterfahrungen von Zahnärzten in ihren Praxen. Gern möchte ich Ihrer Bitte nachkommen. In den letzten Jahren haben sich nach meiner Erfahrung gravierende Veränderungen hinsichtlich des allgemeinen Auftretens einiger Patienten und der Sicherheitslage in den Praxen generell gezeigt. Es ist daher durchaus an der Zeit, dass sich jetzt auch die zm dieses für die Heilberufe in Deutschland brisanten Themas annimmt. Als selbst betroffener Mediziner in einer Zahnarztpraxis, die ich seit 1991 führe, möchte ich einige spezielle „Erlebnisse“ nur aus den vergangenen drei Jahren schildern.
Körperverletzung
Ein körperlich ausgesprochen rüstiger bayrischer Rentner (circa 175 cm, 120 kg) attackierte zuerst verbal meine Zimmerassistentin. Er war der Meinung, dass er nach erfolgter Anästhesie für seine chirurgische Behandlung zu lange (20 Minuten) auf den Beginn seiner Behandlung warten musste, weil ich in einem anderen Zimmer noch einen Akutpatienten operierte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass seine Behandlung gleich wie geplant erfolgen wird, beschimpfte er mich als u. a. „Arschloch“, „Penner“ und „Wichser“. Daraufhin verwies ich ihn der Praxis. Unter weiteren Beschimpfungen verließ er auch das Behandlungszimmer. Nachdem die Tür des Behandlungszimmers bereits geschlossen war, riss der Patient die Tür wieder auf und schlug und trat sofort vehement auf mich ein.
Folge: Platzwunden über dem Auge und an den Händen Prellungen und Hämatome. Danach wurde ich vom Patienten gewürgt, da er die um meinen Hals hängenden Bänder der Lesebrille und die Kabel meiner Lupenbrille zu fassen bekam und diese in Verbindung mit dem Kragen des Poloshirts zum Würgen benutzte. Kurz vor der Bewusstlosigkeit gelang es mir dann aber, durch meine erst dann einsetzende, massive Gegenwehr den Patienten aus der Praxis zu werfen.
Folge: Zerstörte Lupenbrille, zerfetzte Praxiskleidung, blutige und verschmierte Praxiswände, abgebrochener Praxistag, Polizeieinsatz mit Protokollierung, polizeiliche Anzeige wegen Körperverletzung, verstörte Mitarbeiter und Patienten.
Von dem Patienten erfolgte seinerseits ebenfalls eine Anzeige gegen mich wegen Körperverletzung. Danach folgten unzählige Termine und Schriftsätze mit den Anwälten und eine Gerichtsverhandlung, wofür die Praxis einen Tag geschlossen wurde, da ich mit dem gesamten Personal inkl. der am Tag des Vorfalls anwesenden Patienten als Zeugen zur Verhandlung musste.
Die Lebenspartnerin des Patienten musste unter Klageandrohung eine Unterlassungserklärung abgeben, da diese Frau meine Praxis generell, meine Mitarbeiter und mich persönlich verunglimpft hatte.Schlussendlich und nach über einem Jahr wurde der Patient zur Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld verurteilt. Der Patient stottert jetzt für die nächsten Jahre 50 Euro monatlich ab.
Aggressionen
Fall 1: Ein junger Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien benutzte seine eben erhaltene Oberkiefer-Modellgussprothese als Wurfgeschoss auf meine Mitarbeiterin. Grund war das Missfallen des Patienten an den sichtbaren Metallklammern an der Regelversorgung (100-Prozent-Fall)!
Fall 2: Besuch von zwei kräftig gebauten Herren aus den ehemaligen GUS-Staaten, die sich als Verwandte meiner (volljährigen) damaligen Auszubildenden zu erkennen gaben und von mir als Praxisinhaber die Unterschrift unter dem Aufhebungsvertrag für das Ausbildungsverhältnis meiner Auszubildenden „wünschten“ – und nach meiner Rücksprache mit der ZÄK Berlin und der Polizei dann auch bekamen.
Hintergrund: Meiner damaligen Auszubildenden war nach einem Jahr Ausbildung der Weg in die Praxis zu weit. Sie wollte daher sofort in eine für Sie günstiger gelegene Praxis wechseln.
Bedrohungen:
Das absolut respektlose und fordernde Auftreten einer bestimmten Klientel von vorwiegend jungen männlichen Patienten ist meistens kritisch zu betrachten und droht nahezu immer zu eskalieren.
Primär geht es dabei in der Regel immer um Diskussionen im Zusammenhang mit der Termineinhaltung. Diese Patientenklientel erscheint häufig zu spät, kommt nicht zum Termin oder kommt gern auch außerhalb der Praxiszeiten, besteht dann aber auf einer sofortigen Behandlung, auch bei nichtigen Behandlungsgründen.Auf die dann folgenden verbalen Attacken und unflätigsten Beschimpfungen in Verbindung mit den „freundlichen“ Vorschlägen, was man speziell mit den weiblichen Mitarbeitern zu tun gedenkt, möchte ich hier nicht explizit eingehen.
„Spannend“ wird es immer dann, wenn die zumeist jungen Männer provokant in ihre Hosen- oder Jackentasche greifen und metallische Geräusche hörbar werden. Auch hierbei musste bereits wiederholt die Polizei gerufen werden.
Diebstahl und Einbruch:
Die in meiner Praxis erfolgten Diebstähle möchte ich nur beiläufig erwähnen, da diese – im Gegensatz zu den anderen Praxen des Hauses – geradezu kuriose Lappalien darstellen.
Gestohlen wurden innerhalb der Praxis unter anderem ein Blue-Ray-Player, Regenschirme, Patientenkleidung aus dem Garderobenbereich, Wertsachen aus der Patientenkleidung an der Garderobe. Aber selbst Sauberlaufmatten, Toilettenpapierrollen und sogar Flüssigseife werden gestohlen!Meine Praxis liegt nicht in einem „Problemviertel“, sondern (...) in einem gutbürgerlichen Wohnbezirk im Nordosten von Berlin.Meine bereits gut gesicherte Praxis befindet sich in einem Komplex aus zwei Ärztehäusern, wobei in anderen Praxen und Kellern laufend eingebrochen und Inventar gestohlen oder beschädigt wird.
In einigen Praxen wurde bereits zum wiederholten Mal eingebrochen, wobei kostenintensive medizinische Geräte und Computer gestohlen, Tresore aufgebrochen oder komplett entwendet wurden, oder wo man im Anschluss die Praxiseinrichtung verwüstete. Aus diesem Grund hat der Betreiber der Ärztehäuser inzwischen einen ständigen Concierge-Dienst eingerichtet und nachts und am Wochenende sorgt eine Wachschutzfirma für Präsenz.
Alle Artikel der Titelgeschichte zum Thema Videoüberwachung
Videoüberwachung in der Zahnarztpraxis: So urteilt das Gericht
Es ist der klassische Drahtseilakt: Auf der einen Seite soll die Kamera im Wartebereichvor kriminellen Übergriffen schützen – auf der anderen Seite gilt es,den Datenschutz der Patienten zu beachten. Nicht jeder Praxisinhaber kanndie Balance halten, wie ein aktuelles Urteil zeigt.
Interview: Das sagt der Datenschützer
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden: Videoüberwachungin Behandlungszimmern ist erlaubt, da es sich hierbei nicht um einen öffentlichen Raum handelt. Für Dr. Thomas H. Lenhard, Datenschutzbeauftragter der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), „absolut nicht nachvollziehbar“.
Fazit
Die für meine Praxis daraus resultierenden Konsequenzen: Die Behandlung von Patienten erfolgt nur noch in Gegenwart von einer weiteren Assistenz als Zeuge und gegebenenfalls als Hilfe. Ständige Neubewertung der „Gefühlslage“ der Patienten, sobald diese bereits die Praxis betreten. Entfernung von als Wurfgeschoss, Hieb- oder Stichwaffen zu gebrauchenden Gegenständen aus der Griffnähe des Patienten im gesamten Bereich der Praxis.
Verstärkung der mechanischen und technischen Sicherheit der Praxis – Panzerglas, einbruchhemmende Türen, Sicherheitsrollo, Notrufaufschaltung zur Polizei, Überfallmelder an verschiedenen Stellen innerhalb der Praxis, mehrfache Videoüberwachung innerhalb und außerhalb der Praxis, Eingangskontrolle am Praxiseingang, einzelner Einlass von Patienten nur nach Klingeln und Sichtkontrolle, kein Einlass von mehr als drei Personen, kein Einlass von Patienten vor und nach der Praxisöffnung, Kommunikation nur über die Türsprechanlage, Notrufverbindung zum Concierge-Dienst des Ärztehauses, Videoüberwachung des Ärztehauses, Concierge-Dienst am Tag und eine Wachschutzfirma in der Nacht und am Wochenende, um hier nur einige Maßnahmen zu nennen.
Meine Mitarbeiterinnen gehen aus Sicherheitsgründen nicht mehr allein in die Materiallagerräume im Keller oder zur Entsorgungsstelle auf dem Parkplatz des Hauses. Nach der Spätsprechstunde (21–22 Uhr) verlassen die Mitarbeiterinnen nur in der Gruppe die Praxis.
Ich möchte abschließend betonen, dass unsere Praxis in der Bundeshauptstadt Berlin nicht in einem sogenannten „Problemviertel“, einem „Hot-Spot“, einer „No-go-Area“, einem „Kriminalitätsschwerpunkt“, einem „unsicheren Ort“ oder wie immer man bestimmte Gegenden bezeichnet mag, liegt, sondern in einem gut bürgerlichen Wohnbezirk im Nordosten von Berlin mit rund 46.000 Einwohnern!
Die in den letzten Jahren festgestellte Tendenz der Verrohung der Sitten hat einen beängstigenden Grad erreicht und wir dürfen gespannt sein, wohin das noch führen wird.
NN (Verfasser ist der Redaktion bekannt)