Leitartikel

Mitnahmeeffekte? Der Vorwurf trifft die Falschen!

Dietmar Oesterreich

Nach dem Barmer-Zahnreport 2018* erreichten uns zahlreiche Rückmeldungen – verständlicherweise. Vordergründig wollte der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Prof. Christoph Straub, den Zahnärzten keine Mitnahmeeffekte bei der aufsuchenden Betreuung in Alten- und Pflegeeinrichtungen unterstellen – so sagte er.

Dennoch steht der Vorwurf damit latent im Raum – und wurde von Journalisten aufgenommen. Um diese Anschuldigung ins Gegenteil zu kehren, hilft ein Blick in die Historie. Bereits zu Beginn der 90er-Jahre, nach der Einführung der Prophylaxeleistungen, wurde bald sichtbar, dass vulnerable Bevölkerungsgruppen daran nicht partizipierten. 

Engagierte Zahnärztinnen und Zahnärzte versuchten, dieses Defizit durch ehrenamliches Engagement zu beheben. Sie bildeten Ausschüsse für Alters- und Behindertenzahnmedizin in den Kammern. Sie halfen, die Praxen auf die Herausforderungen des demografischen Wandels auszurichten. Dies gipfelte in der Präsentation des Leitfadens „Präventionsorientierte Zahnmedizin unter den besonderen Aspekten des Alterns“ auf der BZÄK-Bundesversammlung 2006. Der damalige Vorsitzende der Altenberichtskommission der Bundesregierung, Prof. Andreas Kruse, lobte die hervorragende Aufstellung des Berufsstands im Hinblick auf die demografischen Veränderungsprozesse in unserer Gesellschaft. Die Wissenschaft reagierte ihrerseits mit der Gründung einer Fachgesellschaft für Alterszahnmedizin – und später der Fachgesellschaft für Behindertenzahnmedizin. Mit dieser Expertise und mit zahlreichen Erkenntnissen aus der Pflegewissenschaft, flankiert durch Best-Practice-Modelle, entwickelten BZÄK und KZBV dann 2010 das Reformkonzept „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ – das AuB-Konzept. Damit begann die „Ochsentour“ durch die gesundheitspolitischen Gremien. Es war nicht leicht, aber unsere Argumente überzeugten, die Vorschläge erschienen praktikabel. 2013 und 2014 wurden erste gesetzliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen zur Versorgung dieser Patientengruppe erreicht. Wir sind dennoch nicht müde, die weiteren Schwachstellen aufzuzeigen und Vorschläge zur Behebung zu unterbreiten. Parallel bieten wir als BZÄK pragmatische Handreichungen für die betreuenden Zahnärzte, für Pflegeberufe und Angehörige: Pflegekalender, YouTube-Filme, Broschüren, Flyer, Fortbildungsangebote etc.

Wenn man in einer nicht repräsentativen Studie nun feststellt, dass sich innerhalb dieser kurzen Zeit in den Abrechnungsdaten noch nicht so viel geändert hat, so darf man durchaus fragen: Warum nicht? Aber genau hier endet die Studie. 

Sollten wir nicht inzwischen wissen, dass Präventions- und Therapieziele bei einer solch vulnerablen Bevölkerungsgruppe zahlreichen Faktoren unterliegen? Die DMS-V-Studie gibt bereits Antworten: Bei der Gruppe der Pflegebedürftigen zeigt sich, dass fast 70 Prozent stark reduziert oder nicht belastbar sind. Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenständigkeit sind also so gut wie nicht mehr vorhanden. Ferner stellen sich immer auch Fragen wie: Sind bei den Komplikationsmöglichkeiten und den hygienischen Voraussetzungen Chairside-Eingriffe überhaupt zu verantworten? Gibt es nicht erhebliche ethische Konfliktlagen für den Zahnarzt mit Blick auf die Patientenpräferenzen? Nicht zuletzt: Sind die Rahmenbedingungen für Transporte und die Versorgung unter stationären Bedingungen ausreichend? Antworten darauf wird man jedenfalls nicht in einer quantitativen Analyse finden. 

Wann wird endlich begriffen, dass ZahnMedizin mehr ist als das Addieren von Leistungen? Bereits jetzt wird von den Krankenkassenvertretern ein dickes Fragezeichen gesetzt, ob die Veränderungen mit dem § 22a SGB V zukünftig überhaupt Verbesserungseffekte bringen. Offensichtlich wird hier nicht wahrgenommen, worauf es bei diesen Patienten ankommt. Wir Zahnärztinnen und Zahnärzte erleben das aber täglich in der Praxis. Und setzen auch auf die Kooperation mit den Pflegeberufen. Wir wissen, welche Widerstände existieren – und welche Rahmenbedingungen fehlen. Dies zu untersuchen wäre einmal ein echter Beitrag zur Versorgungsforschung – und damit zur Verbesserung der Mundgesundheit und Lebensqualität der Pflegebedürftigen gewesen. 

Aber vielleicht ging es ja gar nicht darum.

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der BZÄK

* In ihrem Zahnreport 2018 hält die Barmer den Zahnärzten vor, sie hätten ihr Ziel, die zahnmedizinische Versorgung von Pflegeheimbewohnern zu verbessern, verfehlt.

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Prof. Dr. Dietmar Oesterreich

Langjähriger Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzender Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ), Honorarprofessor für Orale Prävention und Versorgungsforschung an der Universität Greifswald

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