Man muss „bedarfsgerecht steuern“
Eine „bedarfsgerechte Steuerung“ empfiehlt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) in seinem neuen Gutachten. Das Pensum ist gewaltig: Auf rund 780 Seiten gibt er mehr als 70 Einzelempfehlungen. Der Grundgedanke: Trotz aller Reformgesetze der vergangenen Jahre gibt es weiterhin ein Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Deshalb halten die Gutachter eine gezielte – und nicht unbedingt mehr – Steuerung für notwendig. Eine Reform der Notfallversorgung gilt dabei als Leuchtturmprojekt für die sektorenübergreifende Versorgung. Alle Bürger sollen zukünftig rund um die Uhr – möglichst über eine bundeseinheitliche Rufnummer – einfach und schnell kompetente Ansprechpartner in Integrierten Leitstellen (ILS) erreichen. In den ILS sollen sowohl alle akuten Notrufe (112) als auch alle Anrufe für den Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte (116117) zusammenlaufen. Erfahrene Fachkräfte, unterstützt durch breit weitergebildete Ärzte, sollen eine qualifizierte Ersteinschätzung/Sichtung (Triage) vornehmen. Gehfähigen Patienten mit akutem Behandlungsbedarf werden kurzfristig Termine in Praxen niedergelassener Ärzte vermittelt oder sie erhalten von der ILS einen Soforttermin in einem Integrierten Notfallzentrum (INZ), das an einer qualitativ besonders geeigneten, nahe gelegenen Klinik ebenfalls rund um die Uhr erreichbar ist.
Für Reformen im ambulanten Sektor schlagen die Gutachter umfangreiche organisatorische Änderungen vor, um die Inanspruchnahme besser zu steuern. Sie empfehlen, dass Hausärzte die Koordination und den größten Teil der Patientenbetreuung übernehmen. Die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung soll zur Regel werden, als finanziellen Anreiz für die Versicherten soll es Wahltarife geben. Vorgeschlagen ist auch eine Kontaktgebühr für Facharztbesuche ohne Überweisung.
Wo die Zahnmedizin betroffen ist
Zu den Einzelempfehlungen der Gutachter zählen verschiedene Themen, die für den zahnmedizinischen Bereich relevant sind:
Stärkung der Gesundheitskompetenz: Ohne eine umfangreiche evidenzbasierte Patienteninformation und -beteiligung ist für die Gutachter eine bedarfsgerechte Steuerung nicht umsetzbar. Es sei nicht (mehr) ausreichend, Gesundheitskompetenz zur Förderung der eigenen Gesundheit zu besitzen. Es gehe auch darum, die Struktur des Gesundheitssystems zu kennen, um Informationen adäquat einschätzen zu können. Als eine förderliche Maßnahme dazu führen die Gutachter die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ auf, die vom ehemaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe gegründet wurde (und bei der auch BZÄK und KZBV beteiligt sind). Die Allianz für Gesundheitskompetenz könne laut den Gutachtern der Anstoß zu einer national konzertierten Initiative sein, um die Voraussetzungen für die konsequente Umsetzung des im Jahr 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetzes zu schaffen.
Digitalisierung: Sie kann laut Gutachtern zu verbesserten Steuerungsprozessen beitragen, zum Beispiel als ergänzendes telemedizinisches Therapiemonitoring im ländlichen Raum. Die Vernetzung durch eine sektorenübergreifende elektronische Patientenakte ist für sie die Grundvoraussetzung, auf der weitere digitale Anwendungen aufbauen können. Die digitale Vernetzung und Interoperabilität im Rahmen der Telematikinfrastruktur müsse zeitnah umgesetzt werden.
MVZ: Die Gutachter beziehen sich ausschließlich auf MVZ im ärztlichen Bereich. Sie konstatieren, dass nach Inkrafttreten des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Intention einer gut erreichbaren medizinischen Versorgung in den ländlichen Regionen trotz erweiterter Gründungsvoraussetzungen für MVZ nicht eingetreten ist. Zudem sei zu erwarten, dass MVZ weiterhin eher in Kernstädten sowie in Ober-/Mittelzentren angesiedelt sein werden. Ferner sprechen sich die Gutachter für eine zeitliche Begrenzung der Zulassungen auf 30 Jahre aus und plädierten für eine Erweiterung zulässiger Rechtsformen.
Wie geht es weiter?
Das Gutachten des Sachverständigenrats ist jetzt an Bundestag und Bundesrat weitergeleitet worden. Zeitgleich prüfen die Fachabteilungen im BMG, ob und wie die Vorschläge umgesetzt werden können.
„Mit Sorge beobachten wir Konzentrationsprozesse und Kettenbildungen“
Welchen Stellenwert hat für den Sachverständigenrat die Digitalisierung und welche Aspekte sind dabei für den Versorgungsalltag besonders wichtig?
Prof. Dr. Ferdinand Gerlach: Die Digitalisierung wird die medizinische Versorgung der Zukunft tiefgreifend verändern. Besonders weitreichend sind etwa Big-Data-Analysen mithilfe von Künstlicher Intelligenz, neue Anbieterstrukturen und Geschäftsmodelle durch Plattformökonomie sowie Robotik-Anwendungen oder 3-D-Druck. Auch Themen wie Social Bots oder telemedizinische Fernbehandlung werden uns alle noch beschäftigen. Für den Praxisalltag besonders vordringlich ist die dringend notwendige Realisierung einer sektorenübergreifenden Patientenakte, die dann auch die zahnärztliche Versorgung integrieren sollte.
Welche Rolle messen Sie der Stärkung der Gesundheitskompetenz bei – welche Schritte sollten hier erfolgen?
Die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Patienten ist seit Langem ein wichtiges Thema in den Gutachten des Rates. Unsere Empfehlungen reichen von einer Gesundheitsbildung in Schulen über betriebliche Gesundheitsförderung bis hin zur Etablierung eines unabhängigen nationalen Gesundheitsportals, in dem Bürgerinnen und Bürger barrierefrei unabhängige, wissenschaftlich fundierte und zugleich allgemeinverständliche Informationenfinden.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung bei den ärztlichen MVZ? Und können Sie etwas zur Entwicklung bei den MVZ im zahnärztlichen Bereich sagen?
Wir begrüßen grundsätzlich teamorientierte Versorgungsmodelle, in denen verschiedene Disziplinen und Professionen unter einem Dach zusammenarbeiten und die dem ärztlichen Nachwuchs attraktive Tätigkeitsmodelle anbieten können. Mit Sorge beobachten wir Konzentrationsprozesse und Kettenbildungen bis hin zur regionalen Monopolisierung ganzer Versorgungsbereiche. Wir wissen, dass es auch im zahnärztlichen Bereich solche Tendenzen gibt, haben uns im Rahmen des jetzigen Gutachtens aber nicht näher damit beschäftigt.
Prof. Dr. Ferdinand Gerlach ist Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.
Das macht der SVR
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) hat die Aufgabe, im Abstand von in der Regel zwei Jahren Gutachten zur Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu erstellen. Insbesondere soll er unter Berücksichtigung der finanziellen Rahmenbedingungen und vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven Prioritäten für den Abbau von Versorgungsdefiziten und Überversorgungen entwickeln, Vorschläge für medizinische und ökonomische Orientierungsdaten vorlegen und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufzeigen.
Die Gutachten werden dem Bundesgesundheitsministerium übergeben und Bundestag und Bundesrat – vorgelegt.