Elektronische Patientenakte: Deutschland fällt weiter zurück
Das Ergebnis einer Studie der Stiftung Münch, die vom Institut für Angewandte Versorgungsforschung (inav) durchgeführt wurde, zeigt: Deutschland hat bei der Implementierung der elektronischen Patientenakte in den vergangenen zwei Jahren weiter den Anschluss an andere europäische Länder verloren und liegt nun auf Platz 13 von 20 untersuchten Ländern. Im Jahr 2016 lag Deutschland noch auf Platz elf.
Zur Methodik
Um die Länder miteinander vergleichen und die Entwicklung über die Zeit messen zu können, entwickelten die Forscher eine sogenannte Scorecard, die nach einem Ampelschema den Stand der Implementierung aufzeigt. Dafür wurden Indikatoren erarbeitet, die laut Studienautoren die „Komplexität der ePA-Implementierung angemessen widerspiegelten“.
So liegt beispielsweise dem Indikator „Hochschulabschluss in MINT-Fächern“ die These zugrunde, dass eine Nation mit einem hohen Anteil an MINT-Akademikern eher fortschrittsaffin ist als ein Land mit einem nur geringen Anteil.
Die Indikatoren wurden in insgesamt fünf Teilkategorien zusammengefasst:
Infrastrukturelle Voraussetzungen (dazu zählt beispielsweise der Indikator „Breitband-Internetzugang“ oder der Indikator „Hochschulabschluss in MINT-Fächern“)
Nutzungseigenschaften und Gesundheitskompetenz (dazu zählt der Indikator „Frequenz der Internetnutzung pro Woche“ oder auch der Indikator „Personen, die das Internet in den letzten drei Monaten genutzt haben, um Informationen über die eigene Gesundheit zu erhalten“)
politische und rechtliche Rahmenbedingungen (dazu zählt der Indikator „Pläne oder Strategien der einzelnen Länder in Bezug auf eine ePA“)
Nutzung und Implementierung der ePA (dazu zählt der Indikator „Verwendung einer ePA durch Hausärzte“)
Inhalte und Funktionen der ePA (dazu zählen zum Beispiel der Indikator „Möglichkeit von Online Terminbuchungen“ sowie „E-Rezept“ oder „Medikationsplan“)
Innerhalb der einzelnen Indikatoren fand ein subkategorienspezifisches Scoring statt, das heißt, den Ländern wurden Punktwerte zwischen 1 und 3 zugeteilt (1 Punkt „geringer Fortschritt“; 2 Punkte „mäßiger Fortschritt“; 3 Punkte „größter Fortschritt“).
Durch die Addition aller Indikatoren innerhalb der jeweiligen Teilkategorien der Scorecard ergaben sich entsprechende Zwischensummen. Diese Zwischensummen wurden anschließend addier, so dass zunächst eine ungewichtete Gruppierung der betrachteten Länder entstand.
Da jedoch insbesondere die Teilkategorie „Inhalte und Funktionen der ePA“ nach Ansicht der Autoren die höchste Fortschrittlichkeit bei der ePA suggeriert, wurde diese für die Gruppierung der Länder doppelt gewichtet – also mit dem Faktor 2 multipliziert.
Anschließend erfolgte an die Scorebildung eine Einteilung der betrachteten Ländern entlang eines intuitiv verständlichen Ampelschemas. Das heißt, die Länder wurden einer von drei Gruppen zugeordnet: rot (wenig fortgeschritten), gelb (mäßig fortgeschritten) sowie grün (weit fortgeschritten).
Spitzenreiter im Ranking bleiben die skandinavischen Länder. Dänemark findet sich wie bereits 2016 auf Platz 1, gefolgt von Finnland und Schweden (jeweils Platz 2). Estland verliert einen Rang und befindet sich auf dem vierten Platz. Daneben rangiert noch Spanien (Verbesserung um drei Ränge) auf Platz vier.
Skandinavische Länder auf Spitzenposition - hier sind ePA nicht nur auf Gesundheitsdaten beschränkt
Die Autoren begründen die Spitzenpositionen Dänemarks und der weiteren, sehr fortgeschrittenen Länder Finnland, Schweden und Estland außer mit „den hervorragenden infrastrukturellen Voraussetzungen“ (wie der nahezu vollständigen Abdeckung mit Breitbandinternet und einer hohen Internetaffinität der Bevölkerung) insbesondere auch mit der „Fortschrittlichkeit in Bezug auf Nutzung, gebotene Inhalte und vorgehaltene Funktionen der jeweiligen ePA“.
So sind diese ePA nicht nur auf Gesundheitsdaten beschränkt. Es erfolgt eine Sekundärnutzung von ePA-Daten und es existieren verbindliche Standards zur Interoperabilität.
Ferner wird die ePA in allen Krankenhäusern, darunter auch stets in den Notaufnahmen, verwendet. Es gibt eine sehr gute Einbindung von Haus- und Fachärzten, e-Rezepte können ausgestellt werden und alle Patienten genießen vollen Zugang zur eigenen ePA.
Fast alle spanischen Hausärzte nutzen die ePA
Spanien, die Schweiz und das Vereinigte Königreich konnten in den vergangenen zwei Jahren von der gelben in die grüne Gruppe aufsteigen. Das positivere Abschneiden Spaniens wird insbesondere mit der mittlerweile guten Verbreitung der ePA im Gesundheitswesen begründet: So verwenden gegenwärtig nahezu alle Hausärzte eine ePA und davon wiederum über die Hälfte diese zur Rezeptausstellung. Ebenso nutzen etwa 70 Prozent der spanischen Fachärzte eine ePA.
Vollständiger Breitbandinternetausbau in der Schweiz:
Die relative Verbesserung der Schweiz um drei Ränge erklärt sich unter anderem aus einem vollständigen Breitbandinternetausbau mit entsprechend verbundener hohen Frequenz der Internetnutzung durch die Bevölkerung sowie durch die mittlerweile implementierte Sekundärdatennutzung von ePA-Daten.
Briten punkten mit hoher (E-)Gesundheitskompetenz
Das Vereinigte Königreich, das im Ranking den größten Sprung um sieben Ränge machte, konnte insbesondere durch infrastrukturelle Faktoren punkten, beispielsweise aufgrund einer hohen (E-)Gesundheitskompetenz und einem geringen Anteil älterer Ärzte auf der einen Seite sowie verbesserten spezifischen Vorschriften für die Inhalte der ePA, wie die Aufführung durchgeführter Prozeduren oder den Zugang zur eigenen ePA, auf der anderen Seite.
Franzosen setzen ePA flächendeckend in ihren Notaufnahmen ein
Auf dem zehnten Platz liegt Frankreich, das – neben dem Vereinigten Königreich – mit sechs Plätzen den größten Sprung nach oben in der Rangfolge gemacht hat und damit nicht mehr der roten Gruppe angehört. Frankreichs deutlicher Sprung nach vorn lässt sich insbesondere dadurch begründen, dass mittlerweile eine bessere Datenlage zu diesem Land vorhanden ist, das heißt, viele Angaben zu Inhalten und Funktionen der ePA, die 2016 noch mit keiner Angabe kodiert waren, konnten nun mit einer positiven Angabe, also einem höheren Score, versehen werden.
Darüber hinaus werden in Frankreich in den Notaufnahmen von Krankenhäusern ePA flächendeckend eingesetzt und die infrastrukturellen Eigenschaften, wie Personen mit einem Hochschulabschluss in MINT-Fächern oder die Nutzung des Internets zur Beschaffung von gesundheitsrelevanten Informationen, sind positiv hervorzuheben.
In Deutschland wurde nur das Breitbandinternet besser
Den elften Platz teilen sich die Niederlande (keine Veränderung gegenüber 2016) und Österreich (Verschlechterung um drei Plätze). Auf Platz 13 folgen Belgien (Verschlechterung um drei Ränge), Litauen (Verschlechterung um zwei Plätze) und Polen (Verbesserung um fünf Plätze). Polens relative Verbesserung begründet sich insbesondere durch das verbesserte Breitbandinternetangebot sowie die inzwischen vorliegenden spezifischen Vorschriften für die Inhalte der ePA.
Ebenso auf Rang 13 liegt Deutschland, das im Vergleich zur Untersuchung von 2016 um zwei Plätze im Ranking abfällt und damit gerade so nicht in die rote, wenig fortgeschrittene Gruppe abrutscht. Außer einer Verbesserung des Breitbandinternets konnte die Bundesrepublik keine Verbesserungen in einem weiteren Indikator aufweisen.
„Es mangelt an klaren, verlässlichen konzeptionellen Vorgaben der Politik!“
„Deutschland wurde von anderen Ländern überholt: Länder, bei denen es klare Vorgaben für die Gestaltung der ePA, den Zugang der Bürger zur ePA und die Art der Datennutzung gibt. Und Länder, in denen die ePA immer häufiger von Krankenhäusern, Notaufnahmen und niedergelassenen Ärzten verwendet wird“, fasst Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch, die Ursachen für das Zurückfallen Deutschlands im europäischen Vergleich zusammen. „In Deutschland dagegen ist außer einem schleppenden Ausbau des Breitbandinternets weiterhin wenig passiert. Es mangelte hierzulande bis dato an klaren, verlässlichen konzeptionellen Vorgaben der Politik.“
Schlusslichter sind Italien, Tschechien, Slowenien und Irland
Die Tschechische Republik konnte sich im Ranking zwar um zwei Plätze verbessern, liegt aber mit Platz 17 noch immer in der roten Gruppe und führt diese an. Italien gibt im Ranking drei Plätze ab und belegt nun zusammen mit Slowenien (Verschlechterung um zwei Ränge) den 18. Platz. Wie schon bei der Initialuntersuchung belegt auch beim Update der Scorecard zum Stand der Implementierung der elektronischen Patientenakte auf nationaler Ebene die Republik Irland den letzten Platz.
Der politische Wille ist entscheidend für die Umsetzung
eHealth-Indikatoren-Studie
Eine weitere Studie bestätigt die Ergebnisse. Wie die Technische Universität Braunschweig mitteilt, hat die jetzt veröffentlichte eHealth-Indikatoren-Studie sieben Ländern miteinander verglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass in Österreich und insbesondere in Deutschland Nachholbedarf besteht.
„Es bestätigte sich, dass zum Beispiel die skandinavischen Länder hier bessere Möglichkeiten für ihre Bürgerinnen und Bürger bieten“, sagt Prof. Elske Ammenwerth von der Gesundheitsuniversität UMIT in Tirol, Mitverfasserin der eHealth-Indikatoren-Studie. „Allerdings sind in Österreich entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um hier die Situation ebenfalls zu verbessern. Die Elektronische Gesundheitsakte ELGA wird hier deutliche Verbesserungen ermöglichen.“
Prof. Reinhold Haux, Technische Universität Braunschweig und Medizinische Hochschule Hannover, ebenfalls Mitverfasser der Studie, ergänzt: „Es wird häufig gesagt, dass Ländergrößen und die Organisation des Gesundheitssystems entscheidend bei der Umsetzung von eHealth-Zielen sind. In unseren Untersuchungen haben wir allerdings einen weiteren wichtigen Einflussfaktor festgestellt: Besonders in den Ländern, in denen ein klarer politischer Wille vorhanden war, finden wir eine patientenzentrierte, einrichtungsübergreifende Informationsverarbeitung.“