32. Berliner Zahnärztetag
Funktionstherapie: Grundlagen, Rehabilitation, interdisziplinär
- Über 1.000 Teilnehmer bildeten sich am 16. und 17. Februar 2018 im Estrel Convention Center in Berlin fort. | © zm/nb
- „Los geht es mit einem Update zu den Grundlagen der Funktion“, begrüßte Dr. Karsten Heegewaldt, Präsident der Zahnärztekammer Berlin, seine Gäste und präsentierte kurz den Ablauf der zweitägigen Veranstaltung: „Anschließend befassen sich die Referenten mit der funktionell einwandfreien prothetischen Rehabilitation und beleuchten abschließend das Thema interdisziplinär. Dabei dürfen wird uns vor allem auf viele wertvolle Tipps für die Praxis freuen!“ © zm/nb
- Zuvor wurde es jedoch politisch: „Ich persönlich – und das Land Berlin – halten eine Novellierung der 60 Jahre alten zahnärztlichen Approbationsordnung für dringend geboten“, betonte Boris Velter (SPD), Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, in seinem Grußwort an die Berliner Zahnärzteschaft. Er finde es bedauerlich, dass der Bundesrat die geplante Novellierung der ZApprO im vergangenen Jahr vertagt hatte. „Daher bin ich froh, dass sich Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag eindeutig zur Novellierung bekannt haben.“ © zm/nb
- „Die jährliche Teilnehmerzahl beweist, dass es einer Fortbildungspflicht durch den Gesetzgeber nicht bedurft hätte“, sagte anschließend Dr. Jörg-Peter Husemann, Vorstandsvorsitzender der KZV Berlin, angesichts des gut gefüllten Kongresssaals. „Wir sind keine kleinen Kinder. Fortbildung ist für uns Zahnärzte eine Selbstverständlichkeit.“ Husemann betonte, man wolle den zahnärztlichen Nachwuchs für die Niederlassung in eigener Praxis gewinnen. Dafür müssten die hohen Bürokratielasten von der Politik aber endlich abgebaut werden: „Die Politik muss für Praxen wieder attraktive Rahmenbedingungen schaffen“, sagte Husemann. „Wenn wir die qualitativ hochwertige, flächendeckende und wohnortnahe Versorgung, die unsere Patienten so sehr schätzen, künftig sicherstellen wollen, muss eine entscheidende Prämisse verändert werden: Die Budgetierung muss weg!“ © zm/nb
- Prof. Dr. Ingrid Peroz, Charité Berlin, führte dann in den wissenschaftlichen Teil des Kongresses ein. Sie gab einen ersten Überblick über unterschiedliche Dysfunktionen - vom Kaumuskelschmerz über parafunktionell bedingten Zahnschmerz bis hin zu intraartikuläre Störungen. „Auch wenn diese Dysfunktionen unter dem Überbegriff craniomandibuläre Dysfunktionen zusammengefasst werden, lassen sie sich doch, je nach Klassifikation, in spezifische Dysfunktionen einteilen“, erklärte Peroz. Wie Peroz ausführte, ordnet die Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) die spezifischen Diagnosen in die Kategorien Okklusopathie, Myopathie und Arthropathie ein. Auch wenn die Ätiologie von CMD sowie die Pathogenese letztendlich nicht vollständig geklärt seien, bestehe laut Peroz doch Konsens darin, dass es sich um ein multikausales Geschehen handelt. „Inkludiert werden unter anderem Trauma, Stress, psychosomatische Störungen, Anatomie, konstitutionelle oder genetische Faktoren, Okklusion, Bruxismus oder chronische Schmerzen“, zählte sie auf. © zm/nb
- Im Anschluss nahm PD Dr. M. Oliver Ahlers vom CMD-Centrum Hamburg-Eppendorf als einer der insgesamt drei wissenschaftlichen Tagungsleiter Bezug zur Diagnostik craniomandibulärer Dysfunktionen. Er stellte seinen selbstentwickelten „CMD-Kurzbefund nach Ahlers und Jakstat“ vor. In diesem Rahmen sind sechs Tests auszuwerten, die „ohne besondere technische Instrumente oder spezielle Ausbildung in jeder Zahnarztpraxis durchgeführt werden können“, erläuterte Ahlers. Die Dokumentation könne dabei digital oder mit einem Aufkleber für papiergebundene Karteien erfolgen. „Sofern der CMD-Kurzbefund das Vorliegen einer CMD anzeigt“, erklärte Ahlers, „erfolgt anschließend als grundlegende funktionsdiagnostische Untersuchung eine Klinische Funktionsanalyse.“ © zm/nb
- Prof. Dr. Holger Jakstat, Leipzig, stellte anschließend die Indikation und Inhalte der Manuellen Strukturanalyse vor. Von der Klinischen Funktionsanalyse unterscheidet sie sich dadurch, dass die dabei untersuchten Gewebe – die Muskulatur des craniomandibulären Systems und die Kiefergelenke einschließlich der Gelenkkapsel – unter Belastung untersucht werden. „Die Manuelle Strukturanalyse dient als ideale Ergänzung, die hilft, mit der Klinischen Funktionsanalyse nicht zu beantwortende Fragen zu klären“, erläuterte Jakstat. Beide Untersuchungen hätten unterschiedliche Stärken und Schwächen, wobei die Schwäche der Manuellen Funktionsanalyse in ihrer geringen Sensivität liege – bei gleichzeitig sehr hoher Spezifität. © zm/nb
- Die weiteste Anreise hatte Referent Prof. Dr. Peter Wetselaar aus Amsterdam auf sich genommen. Wetselaar gab ein Update über die Grundlagen von Bruxismusmonitoring und -therapie. „In den Niederlanden folgen wir der ‚Mehrfachen P-Therapie“, erklärte Wetselaar: „1. ‚Pep Talks‘, also die Beratung, um Patienten umfassend über Bruxismus aufzuklären. 2. ‚Plates‘, also die Aufbissschiene, um den Schutz der Zähne sicherzustellen; 3. ‚Pills‘, also Medikamente, um zum Beispiel den Dopamin-Serotonin-Spiegel zu regulieren; 4. ‚Psychology‘, also therapeutische Maßnahmen, um ein Stress-Management zu erlernen; 5. ‚Physiotherapy‘, also das Myofeedback.“ Sein Fazit: „Denken Sie daran, dass Bruxismus zentral reguliert ist und ein Verhalten widerspiegelt, das neben negativen Folgen durchaus auch positive Folgen – zum Beispiel bei einer Schlafapnoe – haben kann. Dies sollten Sie bei Ihrer Bewertung des Bruxismus immer erinnern.“ © zm/nb
- Ab Samstagvormittag stand der Kongress dann im Zeichen der Prothetik: Unter der Leitung von Prof. Dr. Florian Beuer, Charité Berlin, als zweitem wissenschaftlichen Tagungsleiter wurden verschiedene Konzepte für die funktionell einwandfreie prothetische Rehabilitation vorgestellt. © zm/nb
- Los ging es mit einem Vortrag von Prof. Dr. Petra Gierthmühlen, Düsseldorf, zur minimalinvasiven Präparationstechnik. Giertmühlen stellte die Behandlungsformen des Veneers und der defektbezogenen Teilkronen als alternative Therapie zur konventionellen Vollkrone im Seitenzahnbereich anhand von klinischen Fallbeispielen detailliert dar. Ihr Fazit auf den Punkt gebracht: „Weniger ist manchmal mehr!“ © zm/nb
- Prof. Dr. Hans Jürgen Schindler, Würzburg, referierte über die Kauflächengestaltung und ihre Einbettung ins biologische System. „Die zurückliegenden Jahrzehnte waren geprägt durch ein statisch-mechanistisches Gedankengut und die idealisierte Vorstellung einer technomorphen Kauflächengestaltung“, erläuterte Schindler. Neue Erkenntnisse, vor allem aus der Neurobiologie, würden die Forscher jedoch zu einem Umdenken bei Rekonstruktions- und Rehabilitationsbemühungen zwingen: „Insbesondere ist es unerlässlich zu verinnerlichen, dass unsere von statischen und kinematischen Betrachtungen geprägten Rekonstruktionskonzepte einer deutlichen Erweiterung bedürfen, die das funktionelle Verhalten des mastikatorischen Systems unter dynamischen Bedingungen berücksichtigen“, lautete sein Fazit. © zm/nb
- Dr. Daniel Hellmann, Würzburg, referierte über Sinn und Wirkung der Schienentherapie. Er plädiert für eine kritische Betrachtung bestehender Therapieansätze: „Okklusale Therapie im Sinne einer CMD-Prophylaxe ist obsolet“, sagte Hellmann. Auch die Annahme eines monokausalen Zusammenhangs zwischen der Okklusion und einer CMD müsse vor dem aktuellen Wissensstand „mehr als kritisch hinterfragt“ werden. „Die biomechanischen Risikofaktoren sind lediglich Kofaktoren in der multifaktoriellen Ätiologie der Entstehung einer CMD“, erläuterte Hellmann. Sie seien als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung zu interpretieren, ihr Einfluss auf CMD-Beschwerden und -Befunde sei dementsprechend gering. Dennoch sei die Okklusionsschiene eine einfache Intervention, die ihre Wirkung durch die Veränderung der räumlichen Lagebeziehung von Ober- und Unterkiefer und die dadurch verursachten Effekte auf die Muskulatur erzielt, betonte Hellmann. „Entscheidend für die Wirkung von okklusalen Interventionen oder einer therapeutischen Neuorientierung des Unterkiefers ist primär die Veränderung peripherer und zentraler Funktionsmuster.“ Die neuronale und muskuläre Adaptionsfähigkeit sei die Grundlage der therapeutischen Wirkung von okklusalen Veränderungen im Sinne lange anhaltender funktionsmusterverändernder Anpassungen, welche „die temporären Interventionen überdauern und dem Selbstreparationspotenzial der lädierten Gewebe Zeit für lokale Regenerationsprozesse verschaffen“, bilanzierte er. © zm/nb
- Ab Samstagnachmittag weitete sich der Blick dann auf andere Fachgebiete der Zahnmedizin. Prof. Dr. Dr. Ralf Radlanski, Charité Berlin, nahm Bezug zur Funktionstherapie und Kieferorthopädie. „In der Kieferorthopädie geht es nicht nur um das Geraderichten der Zähne“, betonte er. „Die Kiefergelenke müssen störungsfrei bei jeder Position des Unterkiefers funktionieren. Deshalb sollte man zuerst immer mit der Lage- und Funktionsbestimmung im Kiefergelenk beginnen.“ Erst wenn eine funktionskorrekte Lage des Unterkiefers im Kiefergelenk ermittelt worden ist – möglichweise nach einer Vorbehandlung mit Okklusionsschienen – können laut Radlanski Zahnfehlstellungen mit kieferorthopädischen Mitteln korrigiert werden. „Oft müssen hierfür die Zahnachsen der Frontzähne im Oberkiefer korrigiert und die Breite des Oberkieferzahnbogens angepasst werden.“
- Der dritte wissenschaftliche Tagungsleiter, Dr. Johannes Heimann, Marburg, stellte in seinem Vortrag den Bezug zur Implantologie her. Er verglich die prothetischen Komplikationsraten bei zahngetragenem Zahnersatz mit implantatgetragenem Zahnersatz. Diese seien bei implantatgetragenem Zahnersatz ungleich höher. „Dies liegt auch daran, dass der Schwellenwert für die Wahrnehmung okklusaler Interferenzen bei einem Implantat deutlich höher ist als bei einem natürlichen Zahn“, erklärte Heimann. Außerdem stellte er die funktionelle Risikoanalyse vor. Mithilfe eines Diagnoseschemas werden die Patienten dabei in die Kategorien „niedriges“, „mittleres“ und „hohes“ funktionelles Risiko eingestuft. „Das funktionelle Risikoprofil bestimmt dann die Materialwahl“, betonte Heimann. „Entsprechend der Risikoanalyse gibt es unterschiedliche Lösungswege bei der Abudmentauswahl und des Kronenmaterials für festsitzende Implantatprothetik. Sein Resümee: „Durch Bestimmung des patientenindividuellen funktionellen Risikoprofils und der patientenindividuellen funktionellen Bewegungsdaten können bei richtiger Materialwahl implantatprothetische Komplikationen reduziert werden.“ Eine Okklusionskontrolle im Recall sei laut Heimann ebenfalls empfehlenswert, um Komplikationen frühzeitig erkennen zu können. © zm/nb
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Das Thema des diesjährigen Berliner Zahnärztetages lautete schlicht „Funktionstherapie“. So hatten es sich die Berliner Zahnärzte in einer Befragung gewünscht. Für eine breite Vielfalt sorgten gleich drei wissenschaftliche Tagungsleiter. Mehr in der Fotostrecke.